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Nikolaj Leskov
Novellen / Der ungetaufte Pope / Das Urteil Seiner Eminenz / Die Furcht

NIKOLAJ SEMENOVIČ LĚSKOV

Ein Zufall führte N. S. Lěskov der Literatur zu. Da seine Familie infolge wiederholter großer Feuersbrünste, die nahezu ihren gesamten Besitz zerstörten, verarmt war, konnte er die bereits begonnenen Universitätsstudien nicht vollenden und sah sich gezwungen, sich einen praktischen Beruf zu erwählen. Im Auftrage seines Verwandten, des Engländers Scott, in dessen Dienste er getreten war, bereiste er in geschäftlichen Angelegenheiten Rußland und machte auch einige Auslandsreisen. Die Reiseberichte, die er an seinen Auftraggeber richtete, gefielen dem Schriftsteller Selivanov, der zufällig von ihnen Kenntnis erhielt, derart, daß er die literarischen Kreise auf den begabten jungen Mann aufmerksam machte.

Lěskov war nahe an die Dreißig,1 als in einer Petersburger Zeitschrift seine erste Arbeit erschienen, ein Schreiben, in dem er über die unmäßig hohen Preise Klage führt, zu welchen die Buchhändler in Kiev das damals soeben zum erstenmale in russischer Sprache erschienene Evangelium verkaufen. Der warme Ton, in dem das Schreiben gehalten war, erregte allgemeine Aufmerksamkeit und machte den angehenden Literaten rasch bekannt. Bereits in den ersten Sechzigerjahren erschienen zumeist in Petersburger Monatsschriften und Sammelwerken die ersten novellistischen Arbeiten und Romane dieses Autors, der neben Gogol, Gončarov, Tolstoj, Dostojevskij, Pisemskij, Saltykov und Ostrovskij zu den hervorragendsten Repräsentanten des russischen Schrifttums des neunzehnten Jahrhunderts zählt, wie wohl er selbst in seiner Heimat auch heute noch nicht nach Gebühr geschätzt wird.

Daß diesem originellen, reichbegabten und seinen Beruf ernst auffassenden Schriftsteller solange die ihm gebührende Anerkennung versagt wurde, daran ist in erster Reihe die politische Gesinnung Lěskovs schuld, der, ursprünglich liberal, sich später (ebenso wie Pisemskij und Turgeněv) gegen die Auswüchse und Übertreibungen der radikalen Richtung erklärte und durch Romane, in denen er die neuen Strömungen karrikierte („Nekuda“, „Na nožach“ und „Obojdennie“), sich den glühenden Haß der Jugend zuzog. Er wurde auch beschuldigt, in den Diensten der Polizei zu stehen und ein Verräter und Spion zu sein. Es braucht wohl nicht erst bemerkt zu werden, daß alle diese Beschuldigungen im höchsten Grade ungerecht waren und auch nicht ein Fünkchen Wahrheit enthielten, aber sie genügten, um Lěskov beim Publikum verhaßt zu machen. Nur nach und nach ist es dem Autor, der sich in seinen tendenziösen ersten Romanen unstreitig zu Übertreibungen hatte hinreißen lassen, gelungen, die Gunst eines weiten Leserkreises zu gewinnen.

Diesen Erfolg, der umso mehr bedeutet, als, wie gesagt, die gesamte öffentliche Meinung lange Zeit hindurch gegen ihn voreingenommen war, erreichte er durch die Wahrheitsliebe, die aus allen seinen Werken sprach, durch die Originalität und Bodenständigkeit derselben, sowie durch den Gerechtigkeitssinn und den tiefen sittlichen Ernst, der sich in seinen Arbeiten äußert. Er ist ein Altruist im besten Sinne des Wortes und er bringt allen, die da leiden, ein warmes Mitgefühl und ungeheuchelte Sympathien entgegen. Besonders gelungen sind seine Schilderungen aus dem Leben der russischen Geistlichkeit, deren Verhältnisse er eingehend kannte und mit trefflicher Plastik schilderte. In dieser Beziehung kann es von den russischen Schriftstellern nur noch A. Pečerskij-Melnikov mit ihm aufnehmen. Mit seltener Meisterschaft hat er eine ganze Anzahl köstlicher Gestalten aus dieser gesellschaftlichen Sphäre geschildert. Sein Hauptwerk, der Roman „Soborjane“, ist gleichfalls dem Leben der Geistlichkeit entnommen.

Aber auch andere Schichten der russischen Gesellschaft liefern ihm dankbare Vorwürfe für sein Schaffen, so jene der Kaufleute, der Ökonomen, der Beamtenwelt. Lěskov kannte seine Menschen genau und war mit allen Einzelheiten ihres Lebens vertraut und daher mag es kommen, daß wir bei der Lectüre seiner Arbeiten den Eindruck gewinnen, als ob sich uns eine ganz neue, uns bisher durchaus unbekannte Welt erschließen würde. Sein psychologischer Scharfblick, sein kerniger origineller Stil und die flammende Menschenliebe, die aus seinen Werken spricht, machen ihn zu einem der bedeutendsten und eigenartigsten russischen Schriftsteller, dem die Zukunft zweifelsohne die gerechte Würdigung, die ihm die Mitwelt versagte, gewähren wird. Seine Stellung im neueren russischen Schrifttum präzisiert der treffliche Kenner der Literatur seiner Heimat, der Kritiker Vengerov, wie folgt: „Durch einige Seiten seiner Begabung Ostrovskij, Pisemskij und Dostojevskij nah verwandt, steht er keinem dieser großen Meister des russischen Wortes in Bezug auf rein künstlerische Qualitäten nach. Kein einziger russischer Schriftsteller verfügt über einen solchen Reichtum der Fabulierungkunst. Mit diesem Reichtum ist die Koncentrirung der belletristischen Manier Lěskovs eng verknüpft. Endlich findet man in der russischen Literatur wenig Autoren, die es mit Lěskov in Bezug auf den Farbenreichtum und die Originalität der Sprache aufnehmen könnten.“

Außer einigen größeren Romanen hat Lěskov eine große Anzahl Novellen hinterlassen, die in künstlerischer Beziehung den besten Hervorbringungen des neueren russischen Schrifttums beizuzählen sind und wertvolle Beiträge zu einer näheren und tieferen Erkenntnis der Verhältnisse Rußlands und der Sitten seiner Bewohner in der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts bilden.

DER UNGETAUFTE POPE

Erstes Kapitel

Über die Vorfälle des Tages uns unterhaltend, saßen wir, eine größere Zahl guter Freunde und Genossen, beisammen, als einer nachstehende Zeitungsnotiz zu lesen begann:

„In einem Dorfe fand die Hochzeit der Tochter des Popen statt, wobei es sehr hoch herging und, wie üblich, recht viel getrunken wurde, so daß sich alle, ländlich, sittlich, nach dortiger Bauernart sehr gut unterhielten.

Unter den Gästen befand sich auch der Diakon, der sich als Freund und Liebhaber choreographischer Künste zeigte, weshalb er es unternahm, den Festtag mit „festlichen Reimen“ zu feiern und schließlich, um auch seinen Teil zur Unterhaltung der Gäste beizutragen, anfing, den „Trepak“2 zu treten, wodurch alle Anwesenden in das höchste Entzücken gerieten.

Nur der Vikariatsvorstand (Kircheninspektor), welcher als Gast anwesend war, fand das Vorgehen des Diakons als mit der geistlichen Würde unvereinbar, höchst unzeitgemäß, und erstattete diensteifrig eine Anzeige an den Erzbischof.

Erzbischof Ignatius schrieb, nachdem er die Klage des Vikarius gelesen, unter dieselbe folgende Resolution:

 
Diakon N. den Trepak trat.
Trepak hat aber nicht geklagt.
Warum der Inspektor klagt?
Sei er zu rufen und deswegen gefragt.
 

Die Sache endete damit, daß der Inspektor im Winter, etwa anderthalb hundert Werst zu fahren und nicht wenig Geld zu verausgaben hatte, um mit der Bemerkung nach Hause geschickt zu werden, „es wäre jedenfalls angezeigter gewesen, den Diakonus an Ort und Stelle sofort auf das unpassende und unanständige seiner Handlungsweise aufmerksam zu machen, statt Klage zu führen, wegen eines und dabei noch ausnahmsweise vorgekommenen Falles.“

Nach Beendigung der Vorlesung waren alle darüber einig, daß die Resolution des Erzbischofes nicht nur originell, sondern auch zeitgemäß war, doch einer unter uns, welcher besonders viel in Verbindung mit Geistlichen stand, und dem das Leben derselben, sowie viele auf dasselbe bezughabenden Anekdoten bekannt waren, meinte:

Wahr ist wahr, der Inspektor hatte keinen Grund gehabt zu klagen und Angeberei zu treiben wegen eines ausnahmsweise vorgekommenen Falles; aber ein Fall ist nicht gleich dem anderen, und das, was ich eben hörte, erinnert mich an einen anderen Fall, in welchem der Vikarius seinem Erzbischof eine viel schwierigere Aufgabe zu lösen gab, die jedoch der letztere zur Zufriedenheit aller Beteiligten, den Vikarius ausgenommen, löste.

Wir baten unseren Freund uns diesen Vorfall zu erzählen, wozu er sich bereit erklärte; er begann:

Die Geschichte, welche ich euerem Wunsche entsprechend erzählen werde, ereignete sich in den ersten Jahren der Regierung des Kaisers Nikolaus Pawlovič und endete knapp vor dem Tode desselben, also gerade zu einer Zeit, wo wir die größten Mißerfolge in der Krim zu überstehen hatten.

Die zu jener Zeit herrschenden politischen und militärischen Vorfälle hatten alles andere zurückgedrängt und so ging mancher Fall unbeachtet verloren, welcher unter anderen Verhältnissen allgemeines Interesse erregt hätte, aber einer von diesen bewahrt sich doch im Gedächtnisse einiger weniger Personen, vor deren Augen derselbe vor sich ging oder die an demselben direkt oder indirekt beteiligt waren.

Mancher dieser Vorfälle gehört bereits der Sage an.

Der Fall jedoch, den ich Euch erzählen werde, ist noch nicht aus dem Gedächtnisse einzelner Personen verschwunden, denn die meisten in dieser wahren Geschichte handelnden Personen leben noch heutigen Tages, und ihr werdet es deshalb für ganz richtig und angezeigt halten, wenn ich den Orten und Personen, außer der Hauptperson, erdachte Namen gebe.

Im allgemeinen will ich nur soviel sagen, daß diese Geschichte in Süd-Rußland, unter Klein-Russen, vor sich ging und der „ungetaufte Pope“ Sava, ein seelenherzensguter, allgemein beliebter, ja von seiner Gemeinde geradezu vergötterter Mann, noch heute frisch und heiter, wenn auch bereits hochbetagt, lebt und seinen Pfarrbezirk nicht nur zur Zufriedenheit seiner Vorgesetzten, sondern auch seiner Pfarrkinder verwaltet.

Zweites Kapitel

Also: – in einem der Dörfer im südlichen Rußland, welchem wir, meinetwegen, den Namen Paripsami beilegen wollen, lebte der reiche Kasak Zacharovič, mit dem Rufnamen Dukač.

Er war zur Zeit, als meine Erzählung beginnt, bereits nicht mehr jung, aber sehr reich, kinderlos, rauh und hartherzig.

Wucherer, im eigentlichen Sinne des Wortes, war er nicht, auch kein Schinder, wie man sie unter Altrussen oft findet, denn derartiges kam zu jener Zeit in Südrussland nicht vor, aber er war, was man so nennt, ein zänkischer, hochmütiger, grober, rücksichtsloser Mensch, den alle fürchteten, sich, sowie sie ihn sahen, bekreuzten, und ihm, wenn es tunlich war, aus dem Wege gingen, denn kamen sie demselben ungelegen, dann gab es böse Worte, ja nicht selten sogar Prügel.

Sein eigentlicher Name war den wenigsten im Dorfe bekannt, was ja überhaupt in Dörfern gar nicht so selten vorkommt, aber alle nannten ihn Dukač, wodurch alle seine unangenehmen Eigenschaften zum Ausdruck gelangten.

Dieser mehr oder weniger beleidigende Spitzname konnte auf eine Verweichlichung seines Charakters wenig Einfluß ausüben; im Gegenteil, er wurde dadurch noch mehr aufgeregt und ärgerlich und nicht selten in einen solchen Zustand von Aufregung gebracht, daß der sonst von der Natur aus ganz gescheite Mann, der sich auch sonst zu beherrschen verstand, alle Überlegung verlor und sich auf die Menschen wie ein wütender Wolf warf.

Kinder brauchten ihn wohl nur von weitem zu erblicken, als sie unter dem Rufe: „Der Dukač kommt, der Dukač kommt!“ auseinander liefen, wie die Sperlinge bei einem Schusse: gelang es dem Dukač aber eines der Kinder unverhofft zu erjagen, dann schlug er dasselbe mit seinem langen Stocke, ohne welchen kein richtiger Kasak sein Haus verläßt, recht derb und empfindlich; hatte er aber den Stock nicht gerade zur Hand, dann brach er einen Ast vom ersten besten Baume, der ihm zu vorerwähntem Zwecke diente.

Den Dukač fürchteten alle, nicht allein Kinder, sondern auch die Erwachsenen, weshalb ihm jedermann auswich und trachtete dem Dukač nicht begegnen zu müssen.

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