Die Rückkehr von Andreas Gruber aus dem Gefängnis brachte nicht nur einen Skandal mit sich, sondern auch einen eisernen Griff, der Viktoria zu knebeln schien. Sein Verbot einer Wiederverheiratung wurde zu einem weiteren Glied in der Kette der Gewalt und Unterwerfung. Nach dem Tod von Klaus Briel hatte Viktoria theoretisch die Möglichkeit, ein neues Leben zu beginnen, einen Ehemann zu finden und sich aus der Unterdrückung ihres Vaters zu befreien. Aber Gruber verkündete nach seiner Rückkehr, als ob er sagte: “Du gehörst mir.”
Dieses Verbot war vielleicht nicht rechtlich bindend, aber es hatte eine enorme Macht, die auf Angst, Abhängigkeit und moralischem Druck beruhte. Es beraubte Viktoria ihrer Wahlfreiheit, verdammte sie zur Einsamkeit und zur völligen Abhängigkeit vom Willen ihres Vaters.
Viktoria war in einer Falle gefangen: Die öffentliche Verurteilung, die wirtschaftliche Abhängigkeit und die Angst vor Gruber nahmen ihr jede Möglichkeit des Widerstands.
Kapitel 8
Nachbarschaftliche Verbindung
1910—1913
Nur fünfhundert Meter von Hinterkaifeck entfernt, von seinen von Kummer getränkten Feldern und düsteren Wäldern, erhob sich das Haus von Kurt Wagner. Es scheint, dass diese fünfhundert Meter, die Wagners solides Gehöft und Grubers Anwesen trennten, den Unterschied zwischen Welten definierten: eine Welt des Wohlstands und des Wohlergehens, in der das Leben pulsierte, und eine Welt der Angst und Verzweiflung, in der es langsam erlosch. In einem Haus waren das Lachen von Kindern, das Klingeln eines Schmiedehammers und das gleichmäßige Rauschen einer funktionierenden Mühle zu hören. In dem anderen – nur das Knarren von Dielen, dumpfe Seufzer und das stille Warten auf etwas Schreckliches.
Aber diese fünfhundert Meter waren trügerisch. Sie konnten Kurt Wagner nicht von dem isolieren, was in Hinterkaifeck geschah. Als Dorfältester war er über alle Ereignisse informiert, kannte die düsteren Gerüchte, die die Familie Gruber umgaben, den Inzest, das seltsame Verhalten von Andreas. Er versuchte etwas zu unternehmen, wandte sich an die Behörden, stieß aber auf Gleichgültigkeit und mangelnde Bereitschaft, sich in fremde Angelegenheiten einzumischen.
Kurt Wagner war in der Tat eine bemerkenswerte Persönlichkeit in der Gegend, und das nicht nur wegen seines soliden Hauses, das sich nur fünfhundert Meter vom düsteren Gruber-Anwesen erhob. Er war einer von denen, die man heute als “einflussreich” bezeichnen würde. Sein Hof florierte, das Land brachte gute Ernten ein, und sein solides Haus war ein deutlicher Beweis für seinen Wohlstand und seine feste Position in der Gesellschaft. Wagner lebte nicht einfach nur, er führte, er gab den Ton an.
Der Respekt und das Ansehen, das er bei seinen Nachbarn genoss, waren kein leeres Gerede. Er war der Dorfälteste, was zu jener Zeit viel mehr bedeutete als nur eine administrative Position. Der Älteste war Vermittler zwischen den Bauern und den Behörden, schlichtete Streitigkeiten, organisierte gemeinsame Arbeiten, sorgte für Ordnung. Kurt war eine Art “graue Eminenz”, ein Mann, an den man sich um Rat und Hilfe wandte.
Er wurde für seine Besonnenheit und Gerechtigkeit respektiert. Kurt konnte zuhören und hören, alle Vor- und Nachteile abwägen und Entscheidungen treffen, die den meisten gerecht erschienen. Natürlich war er kein Heiliger, er hatte seine eigenen Interessen und Mängel. Aber im Großen und Ganzen war er ein Mann, dem man vertraute und dessen Meinung Gewicht hatte.
Wagners Einfluss erstreckte sich nicht nur auf das Dorf, sondern auch auf die umliegenden Gebiete. Er war ein großer Grundbesitzer, und das Schicksal vieler Bauern hing von seinen Entscheidungen ab. Er konnte Arbeit geben, konnte in der Not helfen, aber er konnte sich auch weigern und eine Familie zum.
In der Geschichte von Hinterkaifeck spielte Kurt Wagner eine wichtige Rolle. Er war einer von denen, die versuchten herauszufinden, was geschehen war, die die Wahrheit suchten und versuchten, die Schuldigen zu bestrafen. Sein Einfluss und seine Beziehungen halfen bei den Ermittlungen, obwohl, wie wir wissen, der Fall nie vollständig aufgeklärt wurde. Wie viele andere Bewohner von Hinterkaifeck blieb er für immer mit der Last dieser Tragödie, mit dem Gefühl der Ungerechtigkeit und Ohnmacht zurück.
Das Jahr 1918 brachte Kummer in das Haus der Wagners. Der Tod von Kurts erster Frau war ein unerwarteter Schock, wie ein Blitz aus heiterem Himmel. Die Familie war erschüttert, das Gehöft verwaist, und Kurt selbst schien den Halt im Leben verloren zu haben. Die Gemeinde trauerte mit ihm, Nachbarn kamen, um ihn zu unterstützen, brachten Essen und boten Hilfe auf dem Hof an. Der Kummer schweißte die Menschen zusammen, und es schien, als ob Wagner in Mitgefühl und Unterstützung ertrank.
Doch Kurts Trauer war verdächtig kurz. Nur vierzehn Tage nach der Beerdigung machten im Dorf Gerüchte die Runde, zuerst leise und unsicher, dann immer lauter und hartnäckiger: Kurt Wagner wurde in inniger Beziehung zu Viktoria Gruber gesehen.
Diese Gerüchte sorgten für wahre Aufregung bei den Nachbarn. Wie ist das möglich? Kaum haben sie die Frau betrauert, und schon wird er an der Seite von Viktoria gesehen, um die es ohnehin schon so viele böse Gerüchte gibt…
Wagner schien sich nicht um das Gerede zu kümmern. Er besuchte Viktoria weiterhin, half ihr auf dem Hof, und es hieß sogar, er wolle sie heiraten. Das war Wahnsinn. Wenn er das wirklich vorhatte, bedeutete das, dass er entweder vor Kummer den Verstand verloren hatte oder irgendwelche verborgenen Ziele verfolgte.
Bald wurde Viktoria schwanger. Wie Funken von einem Feuer, flogen die Gerüchte durch die Gegend, angeheizt von Neugier und Getuschel. Wer ist der Vater des Kindes? Diese Frage löste lebhafte Diskussionen bei denen aus, die das Leben beider Familien verfolgten.
Andreas Gruber sträubte sich und bestritt vehement seine Beteiligung. Er schwor Stein und Bein, dass Kurt der Vater sei, und versuchte so, die Last der Schande und des Verdachts auf die Schultern seines Nachbarn abzuwälzen. Vielleicht war an seinen Worten etwas Wahres dran, aber in Hinterkaifeck war es schwieriger, die Wahrheit zu finden als eine Nadel im Heuhaufen.
Doch seltsamerweise glaubte Kurt selbst nicht an die Vaterschaft. In seinen Worten schwang weniger die Freude über die zukünftige Vaterschaft mit als vielmehr Zweifel, Misstrauen und sogar Abscheu. Da er aus eigener Erfahrung wusste, welche ungesunde Atmosphäre im Hause Gruber herrschte, wollte er nicht die Verantwortung für ein Kind übernehmen, das möglicherweise aus Inzest gezeugt wurde.
Wagners Zweifel gossen nur Öl ins Feuer der Gerüchte und Verdächtigungen. Die Leute tuschelten hinter Viktorias Rücken, warfen Kurt schiefe Blicke zu und diskutierten mit neuer Kraft die dunklen Geheimnisse von Hinterkaifeck. Viktorias Schwangerschaft war kein freudiges Ereignis, sondern eher ein neues Kapitel des Dramas, das eine noch größere Tragödie vorhersagte.
Das Geheimnis der Vaterschaft von Viktorias Kind blieb ungelöst. Kurt Wagner weigerte sich öffentlich, seine Vaterschaft anzuerkennen, Andreas Gruber bestritt seine Beteiligung, und Viktoria hinterließ leider keine Beweise, die Licht in diese Frage hätten bringen können.
Trotz des Mangels an zuverlässigen Informationen waren viele Einwohner von Hinterkaifeck der Meinung, dass Andreas Gruber der Vater des Kindes war. Diese Sichtweise bildete sich sicherlich vor dem Hintergrund der seit langem bestehenden beunruhigenden Gerüchte über ungesunde Beziehungen innerhalb der Familie Gruber. Darüber hinaus kann man nicht leugnen, dass die öffentliche Meinung über die Familie Gruber zu dieser Zeit alles andere als wohlwollend war.
Kurt Wagner entschloss sich trotz seiner quälenden Zweifel dennoch zu einer Tat, die Hinterkaifeck nicht weniger erschütterte als die Nachricht von Viktorias Schwangerschaft.
Was bewegte ihn dazu? Die öffentliche Meinung, die enormen Druck auf ihn ausübte? Aufrichtiges Mitgefühl für das Schicksal der unglücklichen Frau? Oder die Hoffnung, seinen Einfluss und seine Position in der Gegend zu festigen, indem er sich mit einer Familie verbündete, selbst wenn diese so widersprüchlich war? Vielleicht spielten all diese Faktoren eine Rolle.
Wie dem auch sei, Kurt Wagner ging zu Andreas Gruber und bat ihn, ihm seine Tochter Viktoria zur Frau zu geben. Das war ein beispielloser Schritt, der Erstaunen und Gerede auslöste. Viele verstanden nicht, warum ein angesehener Mann sein Leben mit einer Frau verbinden sollte, die sich mit einem Skandal und einem schlechten Ruf besudelt hatte.
Die Heirat mit Kurt hätte für Viktoria sicherlich eine Rettung sein können. Sie hätte sie von dem Stigma des Inzests befreien, ihr eine stabile Zukunft sichern und ihr den Respekt in den Augen der Gesellschaft zurückgeben können. Wagner war ein wohlhabender und einflussreicher Mann, und seine Unterstützung hätte Viktorias Leben zum Besseren verändern können. Aber war das ein aufrichtiger Wunsch, einer unglücklichen Frau zu helfen, oder ein kalkulierter Schritt, um eigene Ziele zu erreichen? Das wusste nur Kurt Wagner selbst.
Aber Andreas Gruber, der sich möglicherweise seinen tiefsten Komplexen hingab und, wie wir jetzt wissen, unter dem Einfluss bestimmter Umstände stand, die uns leider für immer verborgen bleiben, antwortete Kurt Wagner mit einer kategorischen Ablehnung.
“Meine Tochter kann ich selbst liebkosen”, sagte er zynisch, ohne sich für irgendjemanden oder irgendetwas zu schämen.
Leider nahm diese Weigerung Viktoria die Möglichkeit, ihr Leben in irgendeiner Weise zu verändern, und gab ihr nicht die geringste Hoffnung auf eine Befreiung von der quälenden Abhängigkeit, in der sie sich befand. In einem Anfall von Gefühlen, die wir heute nur schwer nachvollziehen können, sperrte Andreas seine Tochter in einen Schrank, damit sie nicht einmal den Menschen ansehen konnte, der ihr möglicherweise eine Stütze hätte sein können.
Wahrscheinlich erkannte er, dass Viktorias Heirat mit Kurt
Wahrscheinlich erkannte er, dass Viktorias Heirat mit Kurt zum Verlust der Kontrolle über das führen könnte, was ihm am wichtigsten war. Den Dokumenten zufolge sollte Viktoria Hinterkaifeck erben, was bedeutet, dass auch ihr zukünftiges Kind Anspruch auf das Eigentum gehabt hätte. Wenn Josef als Kurts Sohn anerkannt worden wäre, hätte letzterer als Ehemann und Vater ebenfalls Anspruch auf den Landbesitz gehabt. Das konnte Andreas offenbar nicht zulassen.
1919, der Winter krallte sich mit eisernem Griff an Hinterkaifeck fest und brachte nicht nur Kälte, sondern auch die Geburt von Josef – Viktorias Sohn. In diesem Namen, Josef, lag Ironie. Denn Josef bedeutet aus dem Hebräischen übersetzt “Gott wird mehren”. Aber in Hinterkaifeck vermehrten sich nur Kummer und Geheimnisse. Die Frage der Vaterschaft ließ weder Viktoria noch Kurt in Ruhe.
1915
Zweifel quälten Kurt, ließen ihn keinen inneren Frieden finden.
Josef… ist er wirklich sein Sohn oder nur ein Beweis für ein schändliches Geheimnis, ein Echo des Inzests, der das Dorf erfüllte? Er fürchtete, eine Spielfigur in fremden Spielen zu werden, für Sünden zu bezahlen, an denen er selbst nicht beteiligt war.
Eines Tages, an einem grauen Herbsttag, als der Regen monoton gegen die Fensterscheibe prasselte, fasste Kurt den Entschluss, als ob er eine schwere Last abwarf.
Nicht länger fähig, die erdrückende Ungewissheit zu ertragen, ging er zur Polizeistation.
Dort, in einem schlichten Büro, legte er seine Version der Ereignisse dar.
Er sprach ruhig, aber bestimmt, versuchte, seine Emotionen im Zaum zu halten.
Er äußerte seine Verdachtsmomente gegenüber Andreas und Victoria, über den Inzest, von dem er glaubte, dass Josef das Ergebnis sei.
Er betonte, dass er keine Beweise habe, aber er könne die Gerüchte und seine Zweifel nicht länger ignorieren.
Kurt war sich bewusst, dass seine Worte ernsthafte Konsequenzen haben könnten.
Er wusste, dass die Anschuldigung des Blutschandes ein schwerer Schritt ist, und im Falle eines unbegründeten Verdachts könnte er selbst bestraft werden.
Doch der Wunsch, die Wahrheit zu erfahren und die erdrückenden Gedanken loszuwerden, überwog die Angst vor möglicher Vergeltung.
Er war bereit, das Risiko einzugehen, um alle Fragen zu klären und endlich Klarheit zu finden.
Die Aussage von Kurt Wagner, gleich einer brennenden Zigarette, die in trockenem Gras landet, entfachte ein neues Feuer im bereits unruhigen Weidhofen.
Die Nachricht, dass Andreas Gruber erneut des Inzests beschuldigt wurde, verbreitete sich in der Gegend schneller als der Wind und wurde mit immer schockierenderen Details angereichert.
Die Polizei, unter Druck der öffentlichen Meinung und beharrlicher Aussagen Kurts, begann die Untersuchung.
Andreas wurde verhaftet und erneut vor Gericht gestellt, wo ihm eine harte Strafe wegen Blutschande drohte.
Victoria, mitten im Alptraum, war verzweifelt.
Sie bestritt alle Anschuldigungen, aber wer glaubte ihr?
Der Schatten des früheren Skandals, wie klebriger Schmutz, verfolgte sie und ließ sie keine Entschuldigung finden.
Es schien, als sei dieser klebrige Schmutz sogar in den Gerichtssaal eingedrungen, kalt wie ein Grab, wo sie Antwort stehen musste.
Der Gerichtssaal war von Kälte durchdrungen, wie ein steinernes Verlies.
Die Fenster, bedeckt vom grauen, trüben Himmel, ließen keinen Sonnenstrahl durch, und tauchten den Raum in Halbdunkel.
In der Luft lag der Geruch von Feuchtigkeit und altem Holz, vermischt mit dem schweren Gefühl erdrückender Stille.
Die hölzernen Bänke, die unter der Last der Menschen knarrten, waren bis zum Rand gefüllt.
Die Gesichter der Anwesenden – ernst, angespannt, voller Erwartung – erinnerten an steinharte Masken.
Victoria fühlte die starren Blicke auf sich, als sei sie ein Exponat in einem seltsamen Museum.
Sie saß, fest umklammert, ein dünnes Batist-Taschentuch, bis ihre Fingerknöchel noch blasser wurden.
Der Stoff war längst durch Schweiß nass und klebrig geworden, doch Victoria bemerkte es nicht.
Ihr gesamtes Augenmerk war auf den wilden Rhythmus ihres Herzens gerichtet, das so stark schlug, als wolle es ihre Rippen durchbrechen und entkommen.
Jeder Schlag hallte schmerzhaft in ihren Schläfen wider, übertönte die Stimmen im Saal und verstärkte das Gefühl, dass alles nur eine surrealistische Wirklichkeit war.
Die Geräusche schienen aus der Ferne zu kommen, gedämpft durch Watte: Flüstern, das Knarren der Bänke, Husten – alles verschmolz zu einem unverständlichen Brummen, das ihre Verwirrung nur verstärkte.
Gedanken, Gesichter, Ereignisse – wie Seiten eines durcheinander geratenen Buches, das man unmöglich zusammensetzen kann.
Sie versuchte, sich zu konzentrieren, an einem Faden zu ziehen, doch die Gedanken glitten durch die Finger wie Wasser.
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