Читать книгу «Mephisto / Мефистофель. Книга для чтения на немецком языке» онлайн полностью📖 — Клауса Манна — MyBook.
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„Sind Sie zufrieden, Herr Marder?“ Höfgen suchte den Satiriker durch Juwelenblicke und angegriffenes Lächeln zu bezaubern. Theophil aber sagte: „Na ja…“ und fügte unverschämt hinzu; „Na ja, Herr – wie war doch der Name?“ Nun war Hendrik doch etwas beleidigt; trotzdem nannte er seinen Namen mit der singendwerbenden Stimme. Daraufhin machte Marder: „Hendrik – Hendrik – ulkiger Name, muss ich schon sagen, sehr ulkig!“: so höhnisch, dass es Höfgen eisig über den Rücken lief. Plötzlich aber rief der Dichter mit einer beängstigenden Fröhlichkeit: „Hendrik! Wieso Hendrik?! Natürlich heißen Sie eigentlich Heinz! – Heißt eigentlich Heinz, nennt sich Hendrik! Hahaha, das ist aber mal gut!“ Er lachte gellend, herzlich und ausführlich. Höfgen, aus Entsetzen über so viel böse Hellsicht, war bleich geworden unter seiner rosigen Maske und zitterte. Nicoletta, ohne einzugreifen, schaute mit blanken Katzenaugen amüsiert vom einen zum andern. Theophil war schon wieder ernst. Er schien nachzudenken; dabei bewegte er ununterbrochen den bläulichen Mund unter dem schwarzen Schnurrbart. Das erregte Spiel seiner Lippen erinnerte auf eine unheimliche Art an das gierige Saugen fleischfressender Pflanzen oder schnappender Fischmäuler. Abschließend sagte Marder: „Sind aber ’ne dolle Type. Starkes Talent – rieche das, habe verdammt feine Nase. Sprechen uns noch. Essen nachher zusammen. Komm, Kind!“ Er nahm Nicoletta am Arm und verließ die Garderobe. Höfgen blieb im Zustand völliger Konsterniertheit zurück.

Er gewann seine Fassung erst wieder, als er auf der Bühne und im Rampenlicht stand – dort freilich völlig. Im dritten Akt übertraf er alles, was er an bravourösem Elan bis dahin jemals öffentlich gezeigt hatte. Das Auditorium raste, nachdem der Vorhang gefallen war. Nicoletta, die Arme voll Blumen, fiel Höfgen um den Hals und sagte: „Theophil hat wieder mal das rechte Wort gefunden! Du bist wirklich eine tolle Type!“ Kroge trat hinzu, um Anerkennendes zu murmeln. Er versicherte Fräulein von Niebuhr, dass es ihm ein Vergnügen sein werde, weiter mit ihr zu arbeiten; sie möchte sich morgen vormittag ins Büro bemühen, damit man die Bedingungen bespreche. Nicoletta machte sofort ihr hinterhältig-korrektes Gesicht, verneigte sich feierlich und gab in scharfen Worten ihrer Befriedigung über diesen Entschluss des Direktors Ausdruck.

Theophil Marder hatte die beiden jungen Damen und den Schauspieler Höfgen in ein sehr teures, mehr bürgerlich-solides als mondänes Lokal eingeladen. Hendrik war hier noch niemals gewesen, was Marder Anlass gab, schneidend festzustellen, dies sei die einzige „Bude“ in Hamburg, wo Genießbares auf den Tisch komme – solide Kost, guter alter Stil, wenn man dem Dramatiker glauben durfte —; überall sonst gebe es ranziges Fett und stinkende Braten, hier aber verkehrten feine alte Herren, die noch zu leben missten; auch sei der Weinkeller gepflegt. Wirklich saßen in der braun getäfelten Stube, an deren Wänden Jagdbilder und schöne Teppiche hingen, nur bejahrte Väter, die nach Millionenvermögen aussahen. Noch würdevoller freilich als sie alle wirkte der Oberkellner: in dem Respekt, mit dem er Theophils Bestellungen entgegennahm, ließ sich ein klein wenig Ironie vermuten. Marder schlug vor, man möge mit Langusten beginnen. „Was meinen Sie, bester Heinrich?“ erkundigte er sich bei Höfgen mit jener hinterhältigen Korrektheit, die Nicoletta bei ihm gelernt haben mochte. Hendrik hatte nichts einzuwenden. Übrigens fühlte er sich etwas unsicher und befangen in dem herrschaftlichen Lokal. Ihm wollte es scheinen, als habe der Oberkellner mit Geringschätzung seinen Smoking gemustert, der fleckig war und an einigen Stellen speckig glänzte. Unter dem taxierenden Blick des feinen Kellners ward[37] Hendrik sich, flüchtig, aber mit Heftigkeit, seiner umstürzlerischen Gesinnung bewusst. ,Ich gehöre nicht in dieses Lokal für kapitalistische Ausbeuter’, dachte er zornig, während er sich Weißwein eingießen ließ. Nun bereute er es, die Eröffnung des Revolutionären Theaters immer wieder hinausgeschoben zu haben. Von Marder aber war er enttäuscht. Dieser unbarmherzige, hellsichtige und gefährliche Kritiker der bourgeoisen Gesellschaft zeigte sich, da man ihm nun von Mensch zu Mensch gegenübersaß, als ein Herr mit bedenklich reaktionären Neigungen. Er hatte eine schnarrende Kommandostimme, einen tückischen Blick, trug einen viel zu tadellos gearbeiteten dunklen Anzug mit sorgfältig gewählter Krawatte, und von den Langusten, die nun serviert wurden, suchte er mit einer fatalen Kennerschaft die schönsten aus. Hatte er nicht mit jenen Figuren, die er in seinen Stücken verhöhnte, viele Eigenschaften gemein? Nun lobte er die gute alte Zeit, in der er jung gewesen und mit der die neue, oberflächliche, verkommene in keinem Punkte sich messen könne. Dabei hielt er fortwährend die kalten, unruhigen und gierigen Augen auf Nicoletta gerichtet, die ihrerseits nicht nur den Mund schlängelte, sondern auch den Körper in einem metallisch glitzernden Abendkleid. Barbara saß still dabei. Hendrik, degoutiert durch Nicolettas provokant betonten Flirt mit Marder, vielleicht auch nur eifersüchtig, wandte seine Aufmerksamkeit endlich Barbara zu. Da bemerkte er: ihr Blick war forschend auf ihn gerichtet gewesen. Hendrik Höfgen erschrak.

Mitten in seinem Herzen erschrak er darüber, dass er Barbara Bruckner begnadet fand mit einem Reiz, den er noch an keiner anderen Frau je wahrgenommen hatte. Ihm waren schon vielerlei Frauen begegnet, aber noch keine wie diese. Während er diese anschaute, erinnerte er sich, in geschwinder, aber genauer Zusammenfassung – so, als gälte es, einen Schlussstrich zu ziehen unter eine lange und beschmutzte Vergangenheit —, aller jener weiblichen Geschöpfe, mit denen er je zu tun gehabt hatte.

Sie hatte Hendrik forschend betrachtet, während er sich noch mit Marder und Nicoletta beschäftigte. Da er sie nun seinerseits anstarrte – nicht verführerisch schielend, nicht rätselhaft schillernd, sondern mit der echten Ergriffenheit, die hilflos macht —, senkte sie den Blick und wandte den Kopf halb zur Seite.

Ihr sehr einfaches schwarzes Kleid, dem der Kenner seine Herkunft von der kleinen Hausschneiderin angemerkt hätte und zu dem sie einen weißen, schulmädchenhaft steifen Kragen trug, ließ den Hals und die mageren Arme frei. Das empfindliche und genau geschnittene Oval ihres Gesichtes war blass; Hals und Arme waren bräunlich getönt, golden schimmernd, von der reifen und zarten Farbe sehr edler, in einem langen Sommer duftend gewordener Äpfel. Hendrik musste angestrengt darüber nachdenken, woran ihn diese kostbare Farbe, von der er noch betroffener war als von Barbaras Antlitz, erinnerte. Ihm fielen Frauenbilder Leonardos ein, und er war etwas gerührt darüber, dass er hier, in aller Stille, während Marder mit seiner Kenntnis alter französischer Kochrezepte prahlte, an so vornehme und hohe Gegenstände dachte; ja, auf gewissen Leonardo-Bildern gab es diese satte, sanfte, dabei spröd empfindliche Fleischfarbe; auch einige seiner Jünglinge, die den gekrümmten, lieblichen Arm aus einer schattenvollen Dunkelheit hoben, zeigten sie. Jünglinge und Madonnen auf alten Meisterbildern hatten solche Schönheit.

An Jünglinge und Madonnen ließ der Anblick Barbara Bruckners den begeisterten Hendrik denken. Nach dem Ideal geformte Knaben hatten diese schöne Magerkeit der Glieder; Madonnen aber hatten dieses Gesicht. So schlugen sie die Augen auf, genau so, wie Barbara es jetzt tat: Augen unter langen, schwarzen und starren, aber ganz natürlichen Wimpern; Augen von einem satten Dunkelblau, das ins Schwärzliche spielte. Solche Augen hatte Barbara Bruckner, und sie schauten ernst forschend, mit einer freundschaftlichen Neugier, und zuweilen beinah schalkhaft. Überhaupt war das edle Gesicht nicht ohne schalkhafte Züge: kein weinerliches, auch kein gebieterisches Madonnenantlitz, vielmehr ein durchtriebenes. Der ziemlich große und feuchte Mund lächelte versonnen, aber nicht ohne Witz. Dem träumerischen Frauenhaupt gab es eine fast kecke Note, dass der Knoten des reichen aschblonden Haares im Nacken ein wenig schief saß. Der Scheitel hingegen war genau und in der Mitte gezogen.

„Warum schauen Sie mich so an?“ fragte Barbara schließlich, da der entzückte Hendrik den Blick nicht von ihr ließ.

„Darf ich nicht?“ fragte er leise zurück.

Sie sagte mit einer burschikosen Koketterie, hinter der ihre Befangenheit sich verbarg: „Wenn es Ihnen Vergnügen macht…“

Hendrik fand: Ihre Stimme war für das Ohr der nämliche Genuss wie die Farbe ihrer Haut für das Auge. Auch ihre Stimme schien gesättigt von reifem und zartem Ton. Auch sie schimmerte, hatte den kostbar nachgedunkelten Glanz. Hendrik lauschte mit derselben Hingegebenheit, die er vorhin gehabt hatte beim Schauen. Damit sie nur weiterspräche, stellte er Fragen. Er wollte wissen, wie lange sie in Hamburg zu bleiben gedächte. Sie sagte, während sie mit einer Ungeschicklichkeit, die den Mangel an Gewohnheit verriet, an ihrer Zigarette sog: „Solange Nicoletta hier spielt. Es hängt also vom Erfolg des ,Knorke’ ab.“

„Jetzt freut es mich erst, dass das Publikum heuteabend so lange geklatscht hat“, sagte Hendrik. „Ich glaube, auch die Presse wird gut sein.“ – Er erkundigte sich nach ihren Studien – Nicoletta hatte erwähnt, dass Barbara die Universität besuchte. Sie sprach von soziologischen, historischen Kollegs. „Aber ich betreibe ja all das viel zu unregelmäßig“, sagte sie, versonnen und etwas spöttisch. Dabei stützte sie den Ellenbogen auf den Tisch und das Gesicht in die schmale, bräunliche Hand. Ein nicht so wohlwollender Beobachter, wie Hendrik es in diesem Augenblick war, hätte ihre Bewegungen, die ihm von schöner, rührender Befangenheit schienen, ungeschickt und beinah plump finden können. Die Steifheit ihrer Haltung verriet die junge Dame aus der Provinz, die nicht durchaus gewandte Professorentochter, und kontrastierte zu der klugen und heiteren Offenheit ihres Blickes. Sie hatte die Unsicherheit eines Menschen, der in einem bestimmten, eng begrenzten Milieu viel geliebt und verwöhnt worden ist, außerhalb dieses Milieus aber zu Minderwertigkeitsgefühlen neigt. Besonders in Nicolettas Gegenwart schien Barbara es gewöhnt zu sein, eine zweite Rolle zu spielen. Sie war deshalb erfreut und ein wenig belustigt darüber, dass dieser wunderliche Schauspieler, Hendrik Höfgen, auf eine so demonstrative Art sich ihr widmete, und sie setzte das Gespräch mit ihm nicht ungern fort.

„Ich mache so alles mögliche“, sagte sie nachdenklich. „Eigentlich zeichne ich… Mit Theater-dekorationen habe ich mich viel beschäftigt.“ Dies war ein Stichwort für Hendrik; er ließ die Unterhaltung lebhafter werden. Mit fliegendem Eifer, auf den Wangen eine helle Röte, sprach er von Wandlungen des dekorativen Stils, von all dem, was es auf diesem Gebiete neu zu entdecken oder wieder zu verwenden, zu verbessern gäbe. Barbara lauschte, antwortete, blickte prüfend, hatte Lächeln, rührend ungeschickte Gebärden der Arme, schalkhaft und versonnen tönende Stimme, die verständige, durchdachte Urteile sprach.

Hendrik und Barbara plauderten leise, angeregt, nicht ohne Innigkeit. Nicoletta und Marder inzwischen funkelten sich verführerisch an. Beide ließen alle ihre Künste spielen. Nicolettas schöne Raubtieraugen waren noch blanker als sonst; die Akkuratesse ihrer Aussprache bekam triumphalen Charakter. Zwischen den grell gefärbten Lippen leuchteten, wenn sie lachte und sprach, die kleinen und scharfen Zähne. Marder seinerseits ließ intellektuelles Feuerwerk sprühen. Sein beweglicher, zuckender Mund, dessen bläuliche Färbung äußerst ungesund wirkte, redete fast ununterbrochen. Übrigens hatte Marder die Neigung, mit größter Intensität immer wieder dieselben Dinge zu sagen. Vor allem bestand er mit einer passionierten Hartnäckigkeit darauf, dass die heutige Zeit, deren aufmerksamsten und berufensten Richter er sich nannte, die denkbar schlechteste, verkommenste und hoffnungsloseste aller Epochen sei. Es existierte in ihr keine geistige Bewegung, keine allgemeine Tendenz oder besondere Leistung, die sein fürchterlicher Anspruch irgend hätte gelten lassen. Vor allem fehlten in ihr, seiner Meinung nach, die Persönlichkeiten; er, Marder, war die einzige weit und breit, und er wurde verkannt. Das Verwirrende war, dass der Beobachter und Richter europäischen Verfalls dieser trostlosen Gegenwart keineswegs das Bild einer Zukunft entgegensetzte, die zu lieben und um derentwillen das Bestehende zu hassen wäre; dass er vielmehr, um das Seiende herabzusetzen, eine Vergangenheit pries, die doch gerade er durchschaut, verhöhnt und kritisch erledigt hatte. Die fiebrig animierte Nicoletta war nicht dazu geneigt, sich über irgend etwas zu wundern; sonst hätte es ihr wohl erstaunlich scheinen können, dass eben der Mann, der sich selbst den klassischen Satiriker der bürgerlichen Epoche zu nennen liebte, nun Offiziere der alten deutschen Armee und rheinische Industrielle zu Idealfiguren verklärte, die tadellose Disziplin und kühne Persönlichkeit sieghaft in sich vereinigten. Der alte Spötter, dessen selbstherrlicher, aber geistig richtungsloser Radikalismus ins Reaktionäre abgeglitten und entartet war, deklamierte schnarren-des Lob für die physischen und moralischen Qualitäten preußischer Generale und denunzierte mit der gereizten Stimme eines Unteroffiziers die schlappe Weichlichkeit des heutigen Geschlechts. „Nirgends Zucht! Nirgends Disziplin!“ schrie er so laut und zornig, dass die alten Herren, die bei ihren Rotweinflaschen saßen, erstaunt die Köpfe herdrehten. Auch die Frauen hatten jede Disziplin verloren, behauptete der aufgebrachte Marder. Sie verstanden nichts mehr von der Liebe, aus der Hingabe machten sie ein Geschäft, wie die Männer waren sie oberflächlich und vulgär geworden. Hier lachte Nicoletta so herausfordernd, dass Marder galant hinzufügte: „Ausnahmen gibt es natürlich!“

Dann aber begann er wieder zu schimpfen. Seine Ansicht ging dahin, die deutschen Männer hätten allen Sinn für Ordnung und Respekt verloren, seitdem die allgemeine Dienstpflicht abgeschafft war. Heute, in einer verlotterten Demokratie, sei alles Talmi, falsch, durch Reklame groß gemachter Betrug. „Wenn es anders wäre“, fragte Marder erbittert, „müsste ich dann nicht der erste Mann im Staate sein? Wäre die ungeheure Kraft und Kompetenz meines Hirns nicht dazu berufen, alle wesentlichen Dinge öffentlichen Lebens zu entscheiden – während heute, da jeder Instinkt und Maßstab für echten Rang abhanden kam, meine Stimme nur die beinah überhörte des öffentlichen schlechten Gewissens ist!“ Seine Augen glühten, sein hageres Gesicht, dessen Blässe zu der Schwärze des Schnurrbarts kontrastierte, war verzerrt. Um ihn zu beruhigen, erinnerte Nicoletta daran, dass die Stücke keines anderen lebenden Autors so häufig aufgeführt würden wie die seinen. Er lächelte mit flüchtig befriedigter Eitelkeit. Aber schon nach wenigen Sekunden verfinsterte er sich wieder. Plötzlich schrie er Hendrik Höfgen an, der innig vertieft in sein Gespräch mit Barbara saß: „Haben Sie vielleicht gedient, Herr?“

Hendrik, überrascht und entsetzt von so drohender Anrede, wandte ihm ein ziemlich fassungsloses Gesicht zu. Marder aber verlangte: „Antworten Sie, Herr!“ Hendrik brachte, mühsam lächelnd, hervor: „Nein, natürlich nicht… Gott sei Dank nicht…“ Darauf lachte Marder triumphierend.

„Da sieht man es wieder! Keine Disziplin! Keine Persönlichkeit! – Haben Sie vielleicht Disziplin, Herr? Sind Sie vielleicht eine Persönlichkeit? – Alles Talmi, alles Ersatz, Plebejertum, wohin ich immer schaue!“!

Das war eine Impertinenz; Hendrik wusste nicht, wie er reagieren sollte. Er fühlte Zorn in sich hochsteigen; um der Damen willen, und auch, weil Marders Ruhm ihm imponierte, entschloss er sich, einen Skandal zu vermeiden. Übrigens hielt er den Schriftsteller für nervenkrank. Welch erstaunliche und erschütternde Veränderung aber ging nun vor mit Marder, der eine schauerlich gedämpfte Stimme und prophetische Augen bekam!

„Das alles wird grässlich enden.“ Er raunte es – in welche Fernen oder in was für Abgründe schaute jetzt sein Blick, der mit einemmal eine so fürchterlich durchdringende Kraft bekam? „Es wird das Schlimmste geschehen, denkt an mich, Kinder, wenn es da ist, ich habe es vorausgesehen und vorausgewusst. Diese Zeit ist in Verwesung, sie stinkt. Denkt an mich: Ich habe es gerochen. Mich täuscht man nicht. Ich spüre die Katastrophe, die sich vorbereitet. Sie wird beispiellos sein. Sie wird alles verschlingen, und um keinen wird es schade sein, außer um mich. Alles, was steht, wird zerbersten. Es ist morsch. Ich habe es befühlt, geprüft und verworfen. Wenn es stürzt, wird es uns alle begraben. Ihr tut mir leid, Kinder, denn ihr werdet euer Leben nicht leben dürfen. Ich aber habe ein schönes Leben gehabt.“

Theophil Marder war fünfzig Jahre alt. Er war mit drei Frauen verheiratet gewesen. Er war angefeindet und ausgelacht worden; er hatte den Erfolg, den Ruhm und auch den Reichtum kennen gelernt.

Da er schwieg und nur erschüttert keuchte, sprachen auch die anderen, die mit ihm am Tisch saßen, kein Wort; Nicoletta, Barbara und Hendrik hatten die Augen niedergeschlagen.

Marder aber änderte jäh die Stimmung. Er schenkte Rotwein ein und wurde charmant. Höfgen, den er eben noch beleidigt hatte, machte er nun Komplimente über sein begabtes Spiel. „Ich weiß es wohl“, sagte er gönnerhaft, „die Rolle ist blendend, mein Dialog unvergleichlich pointiert. Aber die Jammergestalten, die sich heute Schauspieler nennen, bringen es fertig, selbst in meinen Stücken schwunglos langweilig zu sein. Sie, Höfgen, haben immerhin eine Ahnung davon, was Theater ist. Unter den Blinden fallen Sie mir als der Einäugige auf, Prost!“ Dabei hob er das Rotweinglas. „Mit unserer Barbara scheinen Sie sich ja nicht übel zu unterhalten“, sagte er launig. Barbara begegnete seinem anzüglichen Lächeln mit ernstem Blick. Hendrik zögerte, ehe er mit Theophil anstieß: die forsche Redeweise des Dramatikers im Zusammenhang mit dem wunderbaren Mädchen Barbara empfand er als unpassend. Es schien, dass Marder, der nicht nur mit seiner Kenntnis von Weinen und Saucen, sondern auch mit seinem untrügbaren Instinkt für den Wert einer Frau dröhnend renommierte, Barbara überhaupt nicht bemerkte. Augen hatte er nur für Nicoletta, die es ihrerseits sorgsam vermied, den zärtlichen und besorgten Blick zu erwidern, den Barbara zuweilen auf sie richtete.

Marder bestellte Champagner zu den Süßigkeiten, die der feine Ober eben servierte. Es war nach Mitternacht; das gediegene Lokal, in dem es keine Gäste mehr gab außer diesen vier sonderbaren, hätte längst seine Pforten geschlossen; aber Marder gab den Kellnern zu verstehen, sie würden anständige Trinkgelder bekommen, wenn sie ein wenig länger als gewöhnlich ihren Dienst taten. Der große Satiriker, das wachsame Gewissen einer verderbten Zivilisation, zeigte jetzt sein Talent zur harmlosen Gemütlichkeit. Er erzählte Witze, und zwar sowohl solche aus preußisch-militärischer als auch andere aus östlichjüdischer Sphäre. Ab und zu schaute er Nicoletta an, um zu konstatieren: „Prachtvolles Mädel! Disziplinierte Person! Heute sehr seltene Sache!“ Oder er betrachtete sich Höfgen und rief munter: „Dieser sogenannte Hendrik – eine dolle Type! Kolossal ulkiges Phänomen! Macht mir Spaß. Muss ich mir notieren!“

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