Читать бесплатно книгу «Visionen und andere phantastische Erzählungen» Ивана Тургенева полностью онлайн — MyBook
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Der Schulze seufzte wieder auf.

»Wie sie heißen?« murmelte er. »Gott weiß, wie sie heißen! Die Ältere heißt, glaube ich, Anna Fjodorowna, und die Jüngere… Nein, ich weiß nicht, wie die Jüngere heißt.«

»Weißt du wenigstens, wie sie mit ihrem Familiennamen heißen?«

»Familiennamen?«

»Ja, mit dem Familiennamen, dem Zunamen.«

»Zunamen… Ja so. Das weiß ich bei Gott nicht.«

»Sind sie noch jung?«

»Nein, das nicht.«

»Wie alt?«

»Ja, die Jüngere wird so über die Vierzig sein.«

»Es ist alles nicht wahr, was du mir sagst.«

Der Schulze schwieg eine Weile.

»Nun, Sie werden es wohl besser wissen. Ich weiß von nichts.«

»Von dir werde ich wohl doch nichts anderes zu hören bekommen!« rief ich geärgert aus.

Da ich aus Erfahrung wußte, daß man von einem Russen, wenn er schon einmal angefangen hat, solche Antworten zu geben, nichts herausbekommen kann (ich hatte übrigens den Mann aus dem tiefsten Schlafe geweckt, er war noch ganz verschlafen und fiel bei jeder Antwort, die er mir gab, ein wenig vorn über, während seine Augen kindliches Erstaunen ausdrückten und er offenbar große Mühe hatte, die vom Honig des ersten Schlummers zusammengeklebten Lippen aufzureißen), – so gab ich alle weiteren Versuche auf. Ich verzichtete auf das Abendbrot und ging in meine Scheune schlafen.

Ich konnte lange nicht einschlafen. »Wer ist sie?« fragte ich mich in einem fort: »Eine Russin? Wenn sie eine Russin ist, warum spricht sie italienisch?.. Der Schulze behauptet, sie sei nicht mehr jung… Er lügt… Und wer ist jener Glückliche?.. Ich kann wirklich nichts begreifen… Welch ein seltsames Abenteuer! Ist es möglich, so zweimal hintereinander… Ich muß aber bestimmt erfahren, wer sie ist und wozu sie hergekommen ist…« Unter solchen wirren, abgerissenen Gedanken schlief ich sehr spät ein und hatte sonderbare Träume… Bald schien es mir, ich irre irgendwo in einer Wüste, in der drückendsten Mittagsglut herum und sehe über den glühend heißen gelben Sand einen großen Schatten huschen… Ich hebe den Kopf und sehe meine Schöne in den Lüften fliegen. Sie ist ganz weiß, hat große weiße Flügel und lockt mich zu sich. Ich stürze ihr nach, sie schwebt aber leicht und schnell vorbei, ich kann mich nicht von der Erde erheben und strecke vergeblich meine gierigen Arme nach ihr aus… »Addio!« ruft sie mir noch zu und entschwindet. – Warum habe ich keine Flügel… »Addio…« Und von allen Seiten klingt es: »Addio!« Jedes Sandkörnchen schreit und piepst: »Addio…« Das »i« klingt mir als unerträglicher, schneidender Triller ins Ohr… Ich bemühe mich, es wie eine Mücke zu verscheuchen, ich suche sie mit den Augen… Sie ist aber schon zu einem Wölkchen geworden und steigt langsam zur Sonne empor; die Sonne zittert, schwankt, lacht und streckt ihr lange goldene Fäden entgegen… Nun ist sie schon ganz von diesen Fäden umsponnen und löst sich in ihnen auf; ich schreie aber wie besessen: »Das ist nicht die Sonne, das ist nicht die Sonne, das ist die italienische Spinne; wer hat sie über die russische Grenze gelassen? Ich werde sie anzeigen: ich habe mit eigenen Augen gesehen, wie sie in fremden Gärten Orangen gestohlen hat…« Bald träumte mir, ich gehe einen schmalen Bergpfad hinauf… Ich habe es sehr eilig: ich muß möglichst schnell irgendein Ziel erreichen, wo mich ein unerhörtes Glück erwartet; plötzlich erhebt sich vor mir ein riesengroßer, steiler Felsen. Ich suche einen Durchgang, ich suche rechts, ich suche links, kann aber keinen Durchgang finden! Und plötzlich erklingt hinter dem Felsen die Stimme: »Passa, passa quei' colli…« Die Stimme ruft und lockt mich; sie wiederholt immer den gleichen traurigen Ruf. Ich bin von Sehnsucht erfaßt, ich werfe mich unruhig hin und her, will wenigstens einen schmalen Spalt finden… Doch wehe! Von allen Seiten erhebt sich die steile Granitwand… »Passa quei' colli«, wiederholt wehmütig die Stimme. Mein Herz vergeht vor Sehnsucht, ich stürze mich mit der Brust gegen den glatten Stein und kratze wütend mit den Nägeln an ihm… Plötzlich öffnet sich vor mir ein dunkler Gang. Ich kann vor Freude kaum atmen und eile vorwärts… »Unsinn!« ruft mir jemand zu, »du kommst nicht durch…« Vor mir steht Lukjanytsch; er winkt mir mit den Händen und droht… Ich durchsuche eilig die Taschen, will ihn bestechen, kann aber keine einzige Münze finden… »Lukjanytsch,« sage ich ihm, »laß mich durch, ich werde dich später belohnen.« – »Sie irren, Signore,« antwortet mir Lukjanytsch mit einem seltsamen Ausdruck: »Ich bin kein Leibeigener; erkennen Sie doch in mir den berühmten fahrenden Ritter Don Quixote von La Mancha. Mein ganzes Leben lang habe ich meine Dulcinea gesucht und sie nicht finden können. Ich werde nicht leiden, daß Sie die Ihrige finden…« Und wieder ruft die Stimme beinahe weinend: »Passa quei' colli…« – »Aus dem Weg, Signore!« rufe ich wütend aus und stürze mich auf ihn… Doch die lange Lanze des Ritters trifft mich ins Herz… ich falle tot hin, ich liege auf dem Rücken… kann mich nicht rühren… und da sehe ich: sie kommt mit einer Lampe in der Hand, sie hebt die Lampe mit einer schönen Gebärde über den Kopf, blickt sich im Finstern um, schleicht vorsichtig zu mir heran und beugt sich über mich… »Da ist er also, der Narr!« sagt sie verächtlich lächelnd: »Er ist's, der erfahren wollte, wer ich sei…« Das heiße Öl der Lampe tropft mir auf mein verwundetes Herz… »Psyche!« bringe ich mühsam hervor und erwache…

Ich hatte sehr schlecht geschlafen und war schon beim ersten Morgengrauen auf den Beinen. Ich kleidete mich schnell an, nahm mein Jagdgewehr und begab mich direkt zum Landsitz. Meine Ungeduld war so groß, daß ich das mir bekannte Tor noch während des Sonnenaufganges erreichte. Ringsherum sangen die Lerchen, und auf den Birken schrien die Dohlen, doch im Hause schien noch alles in tiefem Morgenschlaf zu liegen. Sogar der Hund schnarchte noch am Zaune. Von Erwartung und Ungeduld gequält und beinahe erbost ging ich im taubedeckten Grase auf und ab und blickte immerfort auf das niedere unansehnliche Haus, das in seinen Mauern jenes geheimnisvolle Wesen barg… Plötzlich knarrte leise die Gartenpforte und auf der Schwelle erschien Lukjanytsch. Er war mit einem merkwürdigen gestreiften Halbrock bekleidet, und sein langgezogenes Gesicht erschien mir mürrischer als je. Er sah mich nicht ohne Erstaunen an und wollte die Pforte gleich wieder schließen.

»Du, mein Lieber!« rief ich ihm schnell zu.

»Was suchen Sie hier um diese frühe Stunde?« fragte er mich gedehnt und dumpf.

»Sag mir bitte, man sagt, daß eure Herrin angekommen sei?«

Lukjanytsch schwieg eine Weile.

»Ja, sie ist angekommen…«

»Allein?«

»Mit der Schwester.«

»Hatten sie nicht gestern abend Besuch?«

»Nein.«

Mit diesen Worten zog er wieder die Pforte an sich.

»Warte, warte, mein Lieber… einen Augenblick…«

Lukjanytsch hüstelte und krümmte sich vor Kälte.

»Was wollen Sie denn eigentlich?«

»Sage mir bitte, wie alt ist deine Gnädige?«

Lukjanytsch sah mich mißtrauisch an.

»Wie alt die Gnädige ist? Ich weiß nicht. Sie wird wohl über die Vierzig sein.«

»Über die Vierzig! Und die Schwester?«

»Etwas jünger als vierzig.«

»Ist's möglich! Ist sie schön?«

»Wer? Die Schwester?«

»Ja, die Schwester.«

Lukjanytsch lächelte.

»Ich weiß nicht, das kommt auf den Geschmack an. Ich finde sie nicht schön.«

»Wieso?«

»Sie ist schon gar zu unansehnlich. Ein wenig kränklich.«

»So! Und ist außer den beiden niemand hergekommen?«

»Niemand. Wer sollte denn noch herkommen?«

»Es kann ja nicht sein!.. Ich…«

»Ach Herr! Sie werden mit Ihren Fragen wohl nie aufhören,« sagte der Alte geärgert. »Es ist auch zu kalt! Adieu!«

»Warte noch… Da hast du was!..« Ich reichte ihm einen Viertelrubel, den ich für ihn vorbereitet hatte; meine Hand stieß aber an die Pforte, die er mir vor der Nase zuschlug. Das Silberstück fiel zu Boden und rollte mir vor die Füße.

– Du alter Schwindler! – sagte ich mir. – »Don Quixote von La Mancha! Man hat dir wohl befohlen, zu schweigen… Warte nur, mich wirst du nicht anführen…«

Ich gab mir das Wort, die Sache um jeden Preis aufzuklären. Etwa eine halbe Stunde ging ich noch unschlüssig auf und ab. Endlich beschloß ich, mich zunächst im Dorfe zu erkundigen, wem eigentlich das Gut gehöre und wer augenblicklich darin wohne; dann wollte ich wieder zurückkehren und nicht eher fortgehen, als bis ich die Sache aufgeklärt haben würde. – Die Unbekannte muß doch früher oder später das Haus verlassen, und da werde ich sie endlich bei Tageslicht als einen lebendigen Menschen und nicht als Gespenst sehen. – Bis zum Dorfe mochte es eine Werst sein, ich begab mich aber schnell und rüstig dorthin: in meinem Blute siedete es, ich war ungewöhnlich kühn und entschlossen; die frische Morgenluft wirkte auf mich nach der unruhigen Nacht stärkend und zugleich aufregend. Im Dorfe erfuhr ich von zwei Bauern, die gerade an ihre Feldarbeit gingen, alles, was ich überhaupt erfahren konnte: nämlich, daß das Gut ebenso wie das Dorf, in dem ich mich befand, Michailowskoje hieß, daß es der Majorswitwe Anna Fjodorowna Schlykowa gehöre, daß diese noch eine unverheiratete Schwester Pelageja Fjodorowna Badajewa habe, daß beide reich seien, auf ihrem Gute fast nie lebten, meistens herumreisten, daß sie bei sich außer zweien leibeigenen Dienstmädchen und einem Koch niemand hätten und daß Anna Fjodorowna in diesen Tagen mit ihrer Schwester aus Moskau angekommen sei; sonst sei aber niemand mitgekommen… Dieser letztere Umstand machte mich etwas verdutzt: ich konnte ja nicht annehmen, daß auch der Bauer den Auftrag hatte, über die Unbekannte zu schweigen. Ebenso unmöglich war auch die Annahme, daß die fünfundvierzigjährige Witwe Anna Fjodorowna Schlykowa und jene reizende junge Frau, die ich gestern gesehen hatte, eine und dieselbe Person seien. Auch Pelageja Fjodorowna zeichnete sich, wie sie mir geschildert wurde, keineswegs durch Schönheit aus; beim bloßen Gedanken, daß die Frau, die ich in Sorrent gesehen hatte, den prosaischen Namen Pelageja und dazu noch Badajewa tragen sollte, zuckte ich die Achseln und lachte höhnisch. Und doch, dachte ich, habe ich sie erst gestern abend mit eigenen Augen in diesem Hause gesehen, ja, mit eigenen Augen! Geärgert, gereizt, doch in meiner Absicht noch mehr gefestigt, wollte ich sofort zum Gut zurückkehren; doch ich sah auf die Uhr: es war noch nicht sechs. Daher beschloß ich zu warten. Im geheimnisvollen Hause schlief wohl noch alles; wenn ich aber schon jetzt in der Gegend herumirren wollte, konnte ich leicht unnötigerweise Verdacht erwecken; auch stand ich gerade vor einem Gebüsch, und hinter diesem war ein Espengehölz zu sehen… Ich muß zu meiner Ehre sagen, daß trotz der großen Erregung, in der ich mich befand, die edle Jagdleidenschaft in mir noch nicht völlig verstummt war. »Vielleicht stoße ich auf ein Nest,« sagte ich mir, »und so wird die Zeit schneller verstreichen.« Ich ging ins Gebüsch. Offen gesagt war ich recht zerstreut und beobachtete wenig die Regeln der Kunst: ich behielt nicht ständig meinen Hund im Auge, vergaß über manchem Strauch mit der Zunge zu schnalzen, damit daraus mit großem Lärm ein Auerhahn herausfliege, und sah jeden Augenblick auf die Uhr, was schon durchaus unerlaubt ist. Endlich zeigte die Uhr über acht. »Es ist Zeit!« sagte ich mir laut und wollte schon den Weg nach dem Landsitze einschlagen, als plötzlich kaum zwei Schritte vor mir im dichten Grase ein riesengroßer Auerhahn auftauchte; ich schoß auf den herrlichen Vogel und verwundete ihn am Flügel; er fiel beinahe um, überwand aber den Schmerz, schlug die Flügel und versuchte sich über die Espenwipfel zu erheben, doch die Kraft versagte ihm, und er fiel wie ein Stein ins Dickicht. Auf eine solche Jagdbeute zu verzichten, wäre doch ganz unverzeihlich gewesen; ich ging also ins Dickicht, gab meiner Hündin ein Zeichen, und nach einigen Augenblicken hörte ich ein verzweifeltes Flügelschlagen: der unglückliche Auerhahn war bereits unter den Tatzen meiner Diana. Ich hob ihn auf, steckte ihn in die Jagdtasche, sah mich um und – blieb wie angewurzelt stehen…

Der Wald, in den ich geraten war, war so dicht, daß ich nur mit großer Mühe die Stelle erreichte, wo der Vogel hingefallen war; in nicht allzu großer Entfernung schlängelte sich durch den Wald ein Fahrweg, und auf diesem kamen gerade Seite an Seite und im Schritt meine Schöne und der Mann, der mich gestern eingeholt hatte, geritten; ich erkannte den Mann am Schnurrbart. Sie ritten langsam und schweigend und hielten einander an den Händen; die Pferde gingen im Schritt, schwankten träge von der einen Seite auf die andere und reckten die schönen Köpfe. Nachdem ich mich vom ersten Schreck – ja, es war ein Schreck: eine andere Bezeichnung kann ich für das Gefühl, das sich meiner plötzlich bemächtigte, gar nicht finden… nachdem ich mich vom ersten Schreck erholt hatte, heftete ich auf sie meinen trunkenen Blick. Wie schön sie war! Wie herrlich hob sich ihre schlanke Gestalt vom smaragdgrünen Hintergrund ab! Weiche Schatten, zarte Lichter huschten leise über ihr langes graues Reitkleid, über ihren feinen, leichtgebeugten Hals, über ihr zartes Gesicht, ihre glänzenden schwarzen Haare, die in üppigen Flechten unter dem niederen Hut hervorquollen. Wie soll ich aber jenen Ausdruck vollkommener, leidenschaftlicher, stummer Seligkeit schildern, den alle ihre Züge atmeten! Ihr Köpfchen schien von der Last dieser Seligkeit gebeugt; aus den dunklen, halbgeschlossenen Augen sprühten feuchtglänzende goldene Funken; sie blickten nirgends hin, diese seligen Augen, die feinen Brauen senkten sich über sie. Ein unbestimmtes kindliches Lächeln, das Lächeln grenzenloser Freude schwebte um ihre Lippen; der Überfluß von Glück hatte sie gleichsam ermüdet, sie schien beinahe gebrochen, ebenso wie unter einer allzu üppig aufgegangenen Blüte oft der Stengel zusammenbricht; ihre beiden Hände ruhten kraftlos: die eine in der Hand ihres Begleiters, die andere auf dem Schopf des Pferdes. Ich hatte Zeit gehabt, sie zu beobachten und mir genau einen jeden ihrer Züge zu merken; aber auch seine Züge prägte ich mir ein… Er war ein schöner großer Mann mit nicht russischem Gesicht. Er sah auf sie selbstbewußt, befriedigt und, wie ich in seinen Augen lesen konnte, nicht ohne einen gewissen geheimen Stolz. Er betrachtete sie mit Wohlgefallen, der Schurke; er weidete sich an ihrem Anblick, war wohl sehr mit sich selbst zufrieden, schien aber zugleich eigentümlich gerührt… Und in der Tat: welcher Mann verdient wohl die Hingebung eines so schönen Geschöpfes, welche noch so schöne Seele wäre wert, einer anderen Seele ein solches Glück zu schenken?.. Ich muß gestehen, daß ich ihn beneidete!.. Indessen waren die beiden bis zu mir herangekommen; mein Hund sprang aus dem Gesträuch und bellte sie an. Die Unbekannte zuckte zusammen, sah sich rasch um, und als sie mich erblickte, versetzte sie ihrem Pferd einen heftigen Schlag mit der Reitpeitsche. Das Pferd schnaubte, bäumte sich, warf beide Vorderbeine empor und flog im Galopp dahin… Der Mann gab im gleichen Augenblick seinem Rappen die Sporen, und, als ich nach einigen Augenblicken den Waldrand erreicht hatte, ritten die beiden schon in golden schimmernder Ferne über das Feld, sich anmutig in ihren Sätteln wiegend… sie ritten aber nicht in der Richtung zum Landsitze.

 







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