Читать книгу «Der Tee der drei alten Damen / Чаепитие трех старух. Книга для чтения на немецком языке» онлайн полностью📖 — Фридриха Глаузера — MyBook.
image

Fräulein Dr. Madge Lemoyne hatte Dienst. Nach dem Mittagessen hatte sie sich in ihr Zimmer begeben, das abseits von der Anstalt Bel-Air in einem kleinen Pavillon lag. Sie war dort ungestört, denn der Bau enthielt außer ihrem Wohn- und ihrem Schlafzimmer nur einen einzigen größeren Raum, der als Magazin diente. Im Wohnzimmer stand ein Grammophon (der wichtigste Einrichtungsgegenstand), ein lederner Klubsessel, ein Schreibtisch, einige Stühle und ein niederer Schlafdivan. Eigentlich war auch der Spiegel sehr wichtig, ein alter Spiegel mit rötlicher Goldleiste, den Madge bei einem Antiquar aufgetrieben hatte. Sie warf sich auf den Divan, stellte das Grammophon neben sich, legte. »Dinah«  auf und vertiefte sich in den sechsten Band eines französischen Serienromans, genannt. »Fantomas« , der ungeheuer spannend und ungeheuer unwahrscheinlich war. Ronny, der Airedaler, hatte seine Herrin begeistert begrüßt, sich dann mit einer Speckschwarte beschäftigt, und, als diese verzehrt war, einer Hummel seine Aufmerksamkeit zugewandt. Doch auch die Hummel war faul, sie flog zum Fenster hinaus und verschwand im grünen Laub, das wie eine zitternde Wand vor dem Fenster stand. Madge war gerade zu der Stelle gelangt, an der erzählt wird, wie Fantomas, der große Verbrecher, einen deutschen Prinzen aus kaiserlichem Geblüt unter dem Springbrunnen der Place Vendome gefangen hält, da läutete das Telefon, und Ronny bellte. Er hasste das Telefon, vielleicht war er altmodisch gesinnt und hatte nichts für die Technik übrig.

»Ja« , sagte Madge. Dann. »Ich komme. – Eine Aufnahme, Ronny« , klagte sie. »kein Wunder, dass so viele Leute überschnappen. Bei dieser Hitze! Und die vielen Reden, die hier gehalten werden, müssen ja die Luft der Stadt vergiften.« Und sie seufzte noch einmal, denn sie musste einen weißen Mantel anlegen. Dieser weiße Mantel bereitete ihr Kummer. Denn er machte sie dick und unförmig, wie sie behauptete. Aber er gehörte nun einmal zum Beruf, den sie ausübte, und sie suchte die ungünstige Wirkung durch schönes Schuhwerk und seidene Strümpfe wieder auszugleichen.

Im Aufnahmezimmer stand eine sehr dicke Frau am Fenster, sie war schwarz gekleidet und ihr Rock fiel bis auf die Erde. Wirklich, sie war sehr dick, besonders ihr Brustumfang war erstaunlich, und sie bewachte aus den Augenwinkeln ein unscheinbares Männchen, das verzagt und verloren auf einem Stuhl nahe beim Tisch saß. Madge erkannte die Frau, es war jene Jane Pochon, Haushälterin bei Professor Dominicé, und bei ihrem Anblick ging eine Veränderung mit Madges Gesicht vor sich. Es wurde streng, die grauen Augen wurden dunkel und sie sagte:

»Bringen Sie uns wieder einen Patienten?«

Jane Pochon nickte schweigend und hielt Madge ein verschlossenes Kuvert hin. Nach einer Pause sagte sie:

»Das ärztliche Zeugnis.«

»Sie haben kein Glück mit Ihren Mietern, Frau Pochon« , meinte Madge, während sie den Brief öffnete und las.

Auszug aus der Krankengeschichte:

Name des Patienten: Nydecker, Pierre Emile, geb. 4. III.1899 in Genf. Eltern: N. Frederic Pierre und Maria geb. Cattin. Beruf: Bureauangestellter. – Ledig. Konfession: Reformiert.

(Folgt die Angabe der verschiedenen Reflexe, die nichts Bemerkenswertes zu vermelden haben, das Aufnahmedatum und Madges Notizen, die folgendermaßen lauten):

25. Juni. Bei der Aufnahme steht der Patient am Fenster und scheint sich um nichts zu kümmern. Auf die Frage, wo er her sei, antwortet er mit einem seltsam unbeteiligten Lächeln. »Monsieur Pierre hat Angst.« Auf die Frage der Referentin, wovor er denn Angst habe, antwortet er geheimnisvoll flüsternd. »Sie wollen mich nicht fliegen lassen.« – Wer denn? . »Der alte Mann mit dem weißen Bart und die dicke Frau. Die Luft riecht gut, aber sie ist zu leicht, sie trägt Monsieur Pierre nicht.« Gebracht wurde der Patient von Frau Jane Pochon, Haushälterin bei Professor Dominicé, die folgendes erzählt:

Nydecker wohnte seit drei Monaten bei ihr, jedoch verließ er seine Stelle unter dem Vorwand, er habe eine einträglichere Beschäftigung gefunden. Ein junger Mann besuchte ihn seit dieser Zeit oftmals des Abends. Dieser Mann behauptete, er sei Privatsekretär bei einem fremden Diplomaten, sei mit Arbeit überhäuft und brauche eine Hilfe. Frau Pochon behauptet, sie habe oft des Abends aus dem Zimmer ihres Mieters eine laute, eintönige Stimme gehört, die scheinbar diktiert habe. Von dieser Zeit an sei eine merkwürdige Veränderung mit Nydecker vor sich gegangen, er habe oft nach Alkohol gerochen, sei spät in der Nacht heimgekommen und tagsüber liegen geblieben, seine Miete habe er pünktlich bezahlt. Er hatte eine Schreibmaschine gemietet. Auffallend war nach Ansicht Frau Pochons, dass Nydecker sehr misstrauisch wurde. Sie hatte viel unter seinem Spionieren zu leiden, er schlich ihr manchmal durch alle Zimmer nach, einmal ertappte sie ihn dabei, wie er ihren Schreibtisch im Wohnzimmer aufzubrechen versuchte. Auf Vorhalt, was denn sein sonderbares Wesen zu bedeuten habe, behauptete Nydecker, er werde verfolgt, aber er müsse zuerst noch die Beweise finden, dass er ermordet werden solle. Vorletzte Nacht kehrte er mit beschmutzten Kleidern erst morgens gegen sechs Uhr heim, seine weißen Tennishosen vor allem waren in einem traurigen Zustand. Auf die besorgte Frage, wo er denn gewesen sei, gab er keine Antwort, zog sich aus und legte sich ins Bett, wo er bis gegen Abend schlief. Dann ging er aus, offenbar um jemanden zu besuchen, denn er hatte einen andern Anzug angezogen und ein sauberes Hemd. Gegen zwölf Uhr nachts kam er heim, er schien betrunken zu sein, denn er lärmte etwas und seine Schritte waren unsicher. Er schlief bis spät in den Morgen. »Als ich ihm gegen zehn Uhr sein Frühstück brachte, schien er vollkommen verwirrt, bedrohte mich und sprach verwirrtes Zeug. Ich dachte an einen Fieberanfall« , fährt Frau Pochon fort. »und ließ einen Arzt holen. Der Arzt riet mir, den Kranken hierher zu bringen, er verabfolgte ihm eine Spritze, um ihn zu beruhigen. Mein Sohn konnte mir nicht helfen, denn er war schon an seine Arbeit gegangen. Nydecker folgte mir ohne weiteres in das bereitstehende Auto und ich brachte ihn hierher.« Patient steht noch immer am Fenster. Er weigert sich, Frau Pochon die Hand zum Abschied zu reichen. Er folgt aber dem Oberwärter willig auf die Abteilung.

Unter dem Datum des folgenden Tages steht folgendes zu lesen: Bei der Abendvisite sitzt der Patient abseits von den übrigen Kranken am Fenster. Pfleger G. berichtet, Nydecker sei bei der Ankunft auf der Abteilung auf den Patienten Corbaz zugegangen, habe ihn lange schweigend betrachtet und dann gesagt. »Sind wir jetzt beide im Himmel?«  Corbaz habe Nydecker erkannt, ihm die Hand geschüttelt und lachend gefragt. »Wie geht's der Hexe?«  Darauf habe Nydecker geschwiegen und sich ängstlich in eine Ecke versteckt. Seit diesem Augenblick habe er nicht mehr gesprochen. (Pat. Corbaz ist ebenfalls von Frau Pochon zu uns gebracht worden. Anmerkung der Referentin.) Auf die Frage, wie es ihm jetzt gehe, antwortet Pat. mit weinerlicher Stimme. »Monsieur Pierre hat Angst.« Gefragt, wovor er denn Angst habe, wiederholt er stereotyp. »Monsieur Pierre hat Angst.« Er horcht manchmal wie abwesend in die Luft, wenn man mit ihm spricht. Gefragt, was er denn höre, behauptet er nur, er habe Angst. Steife Mimik, Affekt inadäquat. Nach weiterem Drängen erklärt er dann stockend, ein alter Herr mit weißem Bart. »es ist der Apostel Petrus« , stehe hinter ihm und sage ihm, er sei schuldig, denn er habe gemordet. (Wieso gemordet?) Er habe einen Mord nicht verhütet, darum sei er schuld an dem Mord. Starker Tremor der Hände, trockenes Schluchzen. Auf Zusprechen hin, er sei ja hier in Sicherheit, wird er zusehends ruhiger.

Bericht des Nachtpflegers. »Patient bekam auf Verordnung um neun Uhr 2 g Chloral. Schlief dann ruhig bis halb zwei. Erwachte dann plötzlich mit einem lauten Schrei. Es sei jemand hinter der Tür, der ihn greifen wolle. Man solle die Tür verschließen. Sonst komme die Polizei und hole ihn ab. Patient stürzt zur Tür und stemmt sich dagegen. Als der 2. Nachtpfleger ihn zurückhalten will, nimmt Patient Boxerstellung an. Er wird mit Gewalt ins Bett zurückgebracht.«

Fräulein Lemoyne fährt dann fort:

»Der herbeigerufene diensttuende Arzt (Referentin) versucht, den Patienten zuerst suggestiv zu beruhigen. Es sind jetzt Männer und Frauen, die ihn verfolgen. Vor allem ist es ein Mann, der ihn verfolgt und er nennt ihn den ›Meister der goldenen Himmel‹. Auf die Frage, ob dieser Meister mit dem Apostel Petrus identisch sei, blickt Patient lange Zeit ins Leere und antwortet nicht. Da die Erregung zurückkehrt, erhält er Mo. Scop. 1 ccm subcutan. Beim Einstechen der Nadel schreit Patient laut, man wolle ihn umbringen, wie man seinen Freund umgebracht habe. Auf die Frage, wer denn dieser Freund sei erfolgt keine Antwort. Patient schläft ein. Am Morgen ist er wieder aufgeregt. Kommt ins Dauerbad.«

Soweit die Eintragungen in der Krankengeschichte.

»Jonny, wie schön, dass du gleich gekommen bist. Hast du dich frei machen können? Ich weiß nicht, was ich anfangen soll. Du sollst mir raten. Ich bin vollkommen erledigt, habe die ganze Nacht nicht geschlafen. Weißt du, dass diese furchtbare Jane Pochon schon wieder einen Mieter gebracht hat?«

Madge packte Dr. Thévenoz' Hand, zog ihn zum Klubsessel, drückte ihn, immer noch aufgeregt schwatzend, hinein, machte es sich auf seinen Knien bequem und legte die Hände verschränkt auf seinen Nacken. Ihre blonden Knabenhaare standen unordentlich von ihrem Kopfe ab, was ihr das Aussehen eines zerrupften Vogels gab. Die Augen blickten müde.

»Du hast eigentlich ein liebes Gesicht, Jonny« , sagte sie und streichelte Dr. Thévenoz' Haare. »So beruhigend. Eigentlich begreife ich gut, dass dich im Spital alle Leute gern haben. Und weißt du, wenn ich manchmal hässlich zu dir bin, so tu ich das nicht aus Bosheit. Aber deine ewige Milde und dein ewiges Nachgeben kann mich verrückt machen. Man sollte dich aufrütteln, so.« und sie packte ihn bei den Ohren und schüttelte seinen Kopf. Auf Dr. Thévenoz' Gesicht entstand ein wehmütiges Lächeln, sonderbare Fältchen zitterten in den Augen- und Mundwinkeln, er befreite seine Ohren, packte dann behutsam Madges Kopf und küsste sie auf die Augen. Madge seufzte tief, ihr Körper entspannte sich, sie legte den Kopf auf die Schulter des Mannes und sprach wie in einem Traum:

»Man glaubt immer, weiß Gott, wie abgehärtet man sei, man hat so viel Elend gesehen und ist hilflos dabeigestanden. Aber man kann sich einfach nicht gewöhnen. Es kommt dann plötzlich so ein armes Menschlein, mit einer Seele, an der andere herumgepfuscht haben, das ganze Werk ist in Unordnung geraten und nun soll man helfen. Da ist der kleine Mann, den diese Pochon gestern gebracht hat, sieht rührend aus, obwohl er eine rote Nase hat und ich sonst Alkoholiker nicht sehr leiden kann. Aber dieser dauert mich. Seine Angst, seine Tränen. Heute Morgen hab ich ihn noch im Bad gesehen, wir haben ihn ins Bad tun müssen, da hat er meine Hand gepackt und sie nicht loslassen wollen. Ach« , seufzte Madge. »warum bin ich nicht Uhrmacher geworden. Da könnte ich das Werk auseinandernehmen, hier eine Schraube anziehen, dort eine Achse ölen, und dann ginge die Uhr wieder. Aber bei einem Menschen. Spritzen, Schlafmittel, Bad – und warten, warten, bis der Mann sich entschließt, von selbst wieder gesund zu werden oder bis er es vorzieht, sich ganz in jenes Reich zurückzuziehen, auf dessen Schwelle er steht. Bei diesem Nydecker – hab ich dir gesagt, dass er Nydecker heißt, der kleine Mann mit dem Mausgesicht? – hat man ganz den Eindruck, er sei verirrt. Irgendjemand hat seine Seele gepackt und hat sie dann ausgesetzt in einem Land, wo ihr alles fremd ist. Und da ist die Seele krank geworden, weil sie eine ganz einfache, bürgerliche Seele ist, eine sesshafte Seele, sie hat diesen Klimawechsel nicht vertragen. Ich weiß, ich weiß, ich drücke mich ganz unwissenschaftlich aus, alles, was ich sage, ist gerade das Gegenteil von dem, was in den großen Büchern steht. Aber der Mann leidet doch in dem Reich, in das er verbannt ist, und ich soll ihn nun in die Wirklichkeit zurückführen.«

Madge schlug die Augen auf, und erst da bemerkte sie, dass auch Thévenoz bedrückt aussah.

»Was ist los, Jonny, hast du auch Sorgen?«  Thévenoz fuhr sich mit der Hand über die Augen.

»Weißt du« , sagte er. »wenn dich der kleine Mann beschäftigt, so kann ich diesen Crawley nicht vergessen. Immer muss ich denken, ich habe etwas unterlassen. Ist es dir nicht aufgefallen – ach nein, du kannst nichts gemerkt haben, du hast ihn ja nur knapp vor seinem Tode gesehen, aber ich war fest überzeugt, ihn durchzubringen. Und da kam diese plötzliche Verschlechterung. Die ist mir ein wenig rätselhaft. Auch sein Tod. Der passt gar nicht zu der Diagnose, die ich im Anfang mit Rosenstock gestellt habe. Nicht wahr, wir haben Hyoscyamin oder etwas Ähnliches vermutet. Aber ist es dir nicht aufgefallen, dass sein Tod eigentlich gar nicht zum Krankheitsbild passte? Ich weiß schon, wir haben wenig Erfahrung. Aber dieser gespannte Bogen des Körpers, die verkrampften Backenmuskeln – wie Starrkrampf, findest du nicht? Man könnte fast glauben, es sei ihm im Spital noch ein anderes Gift beigebracht worden, in der Überzeugung, man werde nichts merken. Aber von wem? Da ist diese Frau, die wir gestern in der Latham-Bar gesehen haben. Die war im Zimmer. Und ich erinnere mich, gleich nachdem sie fort war, hat man ihm wieder zu trinken gegeben, dem Crawley nämlich. Und ich erinnere mich genau, dass die Frau ihre Handtasche neben den Topf gelegt hat, in dem der Tee war. Ich bin dann fortgegangen und habe Crawley erst wieder gesehen, als wir zusammen mit dem indischen Diplomaten gekommen sind. Und da begann schon der Todeskampf. Ich wagte das nicht der Polizei zu erzählen, denn schließlich habe ich nicht die Sektion gemacht, sondern der Gerichtsarzt. Und ich kenne den Herrn gar nicht, er hat es auch nicht für nötig befunden, mich zu befragen. Und aufdrängen will ich mich nicht.

Aber nun plagt es mich immer, dass ich etwas versäumt habe. Wir sind eben nicht an so komplizierte Geschichten gewöhnt.«

»Meinst du, ich sollte der Polizei auch von diesem Nydecker erzählen?«  fragte Madge. Die beiden sprachen aneinander vorbei, jeder beschäftigt mit dem, was ihn bedrückte.

»Nydecker?«  Thévenoz musste sich besinnen. »Ich glaube nicht. Die Geschichte ist ohnehin kompliziert genug, und es genügt doch, dass der Mann bei euch ist, wo er gut aufgehoben ist. Und wem willst du.«

Da schrillte das Telefon, Ronny bellte verärgert, er war im Schlaf gestört worden. Madge hob den Hörer ab:

»Lemoyne«  meldete sie sich. Dann. »Ja, er ist hier. Übrigens, guten Tag, Rosenstock, wie geht es Ihnen? Schlecht? Warum? Was ist los? Ja, ja, ich rufe Thévenoz gleich. Einen Augenblick – Jonny, Rosenstock will dich sprechen, Alarm in Zion.« , und sie lachte.

Thévenoz meldete sich, schwieg dann, man hörte ein fernes Krächzen, die Stimme am andern Ende des Drahtes überschlug sich. »Ich komme« , sagte Thévenoz. Sein Gesicht war alt geworden, er wischte sich den Schweiß von der Stirn, ein heißer Wind drängte sich ins Zimmer, draußen war es düster.

»Fall Nummer zwei« , sagte Thévenoz. »Ein Apotheker. Gleiche Symptome wie bei Crawley. Was das nur zu bedeuten hat?«