Читать книгу «Три товарища / Drei Kameraden» онлайн полностью📖 — Эрих Марии Ремарк — MyBook.
image

2

Der nächste Tag war ein Sonntag. Ich schlief lange und erwachte erst, als die Sonne auf mein Bett schien. Ich sprang rasch auf und riß die Fenster auf. Draußen war es frisch und klar. Ich stellte den Spirituskocher auf die Bank und suchte die Dose mit Kaffee. Meine Wirtin, Frau Zalewski, hatte mir erlaubt, im Zimmer meinen eigenen Kaffee zu kochen. Ihrer war zu dünn. Besonders wenn man abends getrunken hatte. Ich wohnte schon zwei Jahre in der Pension Zalewski. Die Gegend gefiel mir. Es war immer etwas los. Vor dem Hause lag ein alter Friedhof, der seit langem stillgelegt war. Er hatte Bäume wie ein Park. Neben dem Friedhof war ein Rummelplatz mit Karussells und Schiffschaukeln.

Ich zog mich sehr langsam an. Das gab mir das Gefühl von Sonntag. Ich wusch mich, ich las die Zeitung, ich brühte den Kaffee auf, ich stand am Fenster und ich hörte die Vögel singen, ich wählte zwischen meinen paar Hemden, ich leerte meine Taschen aus: Kleingeld, Messer, Schlüssel, Zigaretten – und da der Zettel von gestern mit dem Namen des Mädchens und der Telefonnummer. Patrice Hollmann. Ich legte den Zettel auf den Tisch. War das wirklich erst gestern gewesen? Anrufen? Vielleicht – vielleicht auch nicht. Ich war eigentlich ganz froh, meine Ruhe zu haben. War Lärm genug gewesen in den letzten Jahren.

In diesem Augenblick ging der Sonntagkrach im Zimmer nebenan los. Es war das Ehepaar Hasse. Die beiden wohnten seit fünf Jahren hier in einem kleinen Zimmer. Es waren keine schlechten Leute. Hätten sie eine Dreizimmerwohnung gehabt, mit einer Küche für die Frau, und außerdem noch ein Kind, dann wäre ihre Ehe wahrscheinlich gut geblieben. Aber eine Wohnung kostete Geld, und ein Kind bei diesen unsicheren Zeiten – wer konnte sich das leisten! So hockten sie zu dicht aufeinander, die Frau war hysterisch geworden, und der Mann hatte ständig Angst, seinen kleinen Posten zu verlieren. Dann war er fertig. Er war fünfundvierzig Jahre alt. Niemand nahm ihn mehr, wenn er einmal arbeitslos wurde.

Es klopfte und Hasse ging herein. Er fiel auf einen Stuhl: »Ich ertrage es nicht mehr…«

Er war ein guter Mann. Ein bescheidener, pflichttreuer Angestellter. Aber gerade die hatten es heute am schwersten. Sie hatten es wohl immer am schwersten. Bescheidenheit und Pflichttreue werden nur in Romanen belohnt. Im Leben werden sie ausgenutzt und dann beiseite geschoben. Hasse hob die Hände.

»Denken Sie, schon wieder zwei Kündigungen im Geschäft. Der nächste bin ich, passen Sie auf, ich!«

In dieser Angst lebte er von einem Ersten zum andern. Ich schenkte ihm einen Schnaps ein. Seine Frau war zweiundvierzig. Sie war noch nicht so verbraucht wie der Mann. Sie litt an Torschlußpanik[3]. Es hatte keinen Zweck, sich da einzumischen.

»Hören Sie, Hasse«, sagte ich, »bleiben Sie ruhig hier sitzen, solange Sie wollen. Ich muß weg. Kognak steht im Kleiderschrank, wenn Sie den lieber mögen. Das hier ist Rum. Da liegen Zeitungen. Und dann gehen Sie heute nachmittag mit Ihrer Frau doch mal‚ raus aus dem Bau hier. Vielleicht ins Kino. Das kostet ebensoviel wie zwei Stunden im Café, und Sie haben mehr davon!«

Nebenan stand die Tür offen. Die Frau schluchzte, daß man es draußen hören konnte. Die nächste Tür war angelehnt. Eine Wolke Parfüm kam heraus. Da wohnte Erna Bönig, Privatsekretärin. Viel zu elegant für ihr Gehalt; aber einmal in der Woche diktierte ihr Chef ihr bis zum Morgen. Dann war sie am nächsten Tag sehr schlechter Laune. Dafür ging sie jeden Abend tanzen. Wenn sie nicht mehr tanzen könne, wolle sie nicht mehr leben, erklärte sie. Sie hatte zwei Freunde. Einer liebte sie und brachte ihr Blumen. Den anderen liebte sie und gab ihm Geld. Neben ihr Rittmeister Graf Orlow, russischer Emigrant. Eintänzer, Kellner, Filmkomparse, Gigolo mit grauen Schläfen, wunderbarer Gitarrespieler. Nächste Tür. Frau Bender, Krankenschwester in einem Säuglingsheim. Fünfzig Jahre alt. Mann im Kriege gefallen. Zwei Kinder 1918 an Unterernährung gestorben. Hatte eine bunte Katze. Das einzige. Daneben – Müller, pensionierter Rechnungsrat. Schriftführer eines Philatelistenvereins. Lebendige Briefmarkensammlung, sonst nichts. Glücklicher Mensch.

An der letzten Tür klopfte ich.

»Na, Georg«, sagte ich, »immer noch nichts?«

Georg Block schüttelte den Kopf. Er war Student im vierten Semester. Um die vier Semester machen zu können, hatte er zwei Jahre im Bergwerk gearbeitet. Das ersparte Geld war jetzt fast verbraucht; er hatte nur noch für zwei Monate zu leben. Ins Bergwerk konnte er nicht wieder zurück – da waren heute schon zuviel Bergleute ohne Arbeit. Er hatte auf jede Weise versucht, eine Stelle nebenbei zu bekommen. Eine Woche lang war er Zettelausteiler für eine Margarinefabrik gewesen; aber die Fabrik war pleite gegangen. Kurz darauf bekam er einen Posten als Zeitungsausträger, aber nicht lange. Jetzt saß er jeden Tag in seinem Zimmer. Er aß einmal am Tage. Dabei war es egal, ob er die Restsemester noch machte oder nicht – auf eine Stelle konnte er auch nach dem Examen in frühestens zehn Jahren rechnen. Eltern hatte er auch nicht mehr.

Die Küche. Das Telefon. Halbdunkel. Geruch nach Gas und schlechtem Fett. Die Korridortür mit den vielen Visitenkarten neben dem Klingelknopf. Meine auch.

»Robert Lohkamp, stud. phil., zweimal lang klingeln.« Sie war gelb und schmutzig. Stud. phil. War lange her. Ich ging die Treppe hinunter zum Café International.

Das International war ein großer, dunkler, verräucherter Saal mit mehreren Hinterzimmern. Vorn, neben der Theke, stand das Klavier. Es war verstimmt, aber ich liebte es. Es hatte das Jahr meines Lebens mit mir geteilt, als ich als Stimmungsklavierspieler hier engagiert gewesen war. Vorn saßen die Huren. Das Lokal war leer. Nur der Kellner Alois stand hinter der Theke.

»Wie immer?« fragte er.

Ich nickte. Er brachte mir ein Glas Portwein mit Rum, halb und halb. Ich setzte mich an einen Tisch.

Die Katze des Wirtes saß auf dem Klavier und schnurrte. Ich rauchte langsam eine Zigarette. Die Luft machte schläfrig. Eine sonderbare Stimme hatte das Mädchen gestern gehabt. Dunkel, etwas rauh, fast heiser, aber doch weich.

»Gib mir mal ein paar Magazine, Alois«, sagte ich.

Da knarrte die Tür. Rosa kam. Rosa, die Friedhofshure, genannt das Eiserne Pferd. Sie wollte eine Tasse Schokolade trinken. Die leistete sie sich jeden Sonntagmorgen hier; dann fuhr sie nach Burgdorf, um ihr Kind zu besuchen.

»Servus, Robert.«

»Servus, Rosa. Was macht die Kleine?«

»Will mal sehen. Hier – das bring‘ ich ihr mit.«

Sie packte aus einem Paket eine Puppe mit roten Backen und drückte ihr auf den Bauch.

»Ma-ma«, quäkte die Puppe. Rosa strahlte.

»Fabelhaft!« sagte ich.

»Paß mal auf.«

Sie beugte die Puppe nach hinten. Mit einem Klapp schlössen sich die Augen.

»Unerhört, Rosa.« Sie war befriedigt und packte die Puppe wieder weg. »Du verstehst was von solchen Sachen, Robert. Wirst mal ein guter Ehemann.«

»Na, na«, sagte ich zweifelnd.

Rosa hing an ihrem Kinde. Bis vor einem Vierteljahr, solange es noch nicht laufen konnte, hatte sie es bei sich in ihrem Zimmer gehabt. Dann gab sie in ein teures Kinderheim. Dort galt sie als Witwe. Sonst hätte man das Kind nicht angenommen.

»Du kommst doch Freitag? Du weißt doch, was los ist?«

»Natürlich.« Ich hatte keine Ahnung, was los war; aber ich hatte auch keine Lust, danach zu fragen. Ich trank noch einen Rum, streichelte die Katze und ging dann.

Am späten Nachmittag ging ich in unsere Werkstatt. Köster war da. Er arbeitete an dem Cadillac. Wir hatten ihn vor einiger Zeit alt gekauft. Es war eine Spekulation. Wir hofften, gut damit zu verdienen. Ich zweifelte, ob es ein Geschäft sein würde. Bei den schlechten Zeiten wollten alle Leute kleine Wagen kaufen, aber nicht so einen Omnibus.

»Billige werden gekauft und ganz teure auch. Es gibt immer noch Leute, die Geld haben. Oder so aussehen wollen.«

»Wo ist Gottfried?« fragte ich.

»In irgendeiner politischen Versammlung…«

»Verrückt! Was will er denn da?« Köster lachte.

»Das weiß er selbst nicht. Da muß er ja immer irgend etwas Neues haben.«

»Kann sein«, sagte ich. »Komm, ich helf‘ dir etwas.«

»Weißt du, was ich hier habe?« fragte er.

»Na?«

»Karten zum Boxen heute abend. Zwei. Du gehst doch mit, was?«

Ich zögerte. Er sah mich erstaunt an.

»Stilling boxt«, sagte er, »gegen Walker. Wird ein guter Kampf.«

»Nimm Gottfried mit«, schlug ich vor und fand mich lächerlich, daß ich nicht mitging. Aber ich hatte keine rechte Lust, ich wußte nicht warum.

»Hast du was vor?« fragte er.

»Nein.« Er sah mich an. »Ich gehe mal nach Hause«, sagte ich. »Briefe schreiben und so was. Muß auch mal sein…«

»Na schön. Wie du willst.«

Ich ging nach Hause. Aber als ich in meinem Zimmer saß, wußte ich auch nicht, was ich anfangen sollte. Ich ging über den Korridor, um Georgie zu besuchen. Ich hielt mich nicht lange bei Georgie auf. Nach einer Viertelstunde ging ich zurück. Ich überlegte, ob ich etwas trinken wollte. Aber ich wollte nicht. Ich setzte mich ans Fenster und schaute auf die Straße. Draußen brannten schon die Laternen; aber es war noch nicht dunkel genug. Schließlich – anrufen konnte ich ja mal. Hatte es doch sogar halb und halb versprochen. Wahrscheinlich war das Mädchen auch gar nicht zu Hause.

Ich ging zum Vorplatz, wo das Telefon stand, hob den Hörer ab und sagte die Nummer. Das Mädchen war da. Ich hängte wieder an, nachdem ich, anstatt mich nur zu erkundigen, eine Verabredung für übermorgen abgemacht hatte. Plötzlich erschien mir alles nicht mehr so blöd. Verrückt, dachte ich.Ich rief Köster an.

»Hast du die Karten noch Otto?«

»Ja.«

»Gut. Ich gehe doch mit zum Boxen.«

Nachher wanderten wir noch eine Zeitlang durch die Stadt. Die Straßen waren hell und leer. In meinem Zimmer saß ich noch eine Weile auf. Die Bude gefiel mir auf einmal gar nicht mehr. Man kann eigentlich keinen anständigen Menschen einladen, dachte ich. Eine Frau schon gar nicht. Höchstens eine Hure aus dem International.

3

Am Dienstag vormittag saßen wir vor unserer Werkstatt im Hof und frühstückten, Der Cadillac war fertig. Lenz hielt ein Blatt Papier in der Hand und schaute uns triumphierend an. Er war unser Reklamechef. Er las uns vor, was er für den Verkauf des Wagens verfaßt hatte.

»Urlaub an südlichen Gestaden im Luxusgefährt«.

Köster und ich schwiegen eine Weile.

»Wozu lange reden«, unterbrach ich ihn. »Das ist ein Inserat für einen Kurort oder eine Schönheitscreme, aber nicht für ein Automobil.«

Lenz öffnete den Mund.

»Augenblick«, fuhr ich fort. »Fragen wir mal Jupp. Das ist die Stimme des Volkes!«

Jupp war unser einziger Angestellter, ein Junge von fünfzehn Jahren, der eine Art Lehrlingsstelle bei uns hatte. Er bediente die Benzinpumpe, besorgte das Frühstück und räumte abends auf. Er war klein, übersät mit Sommersprossen und hatte die größten abstehenden Ohren, die ich kannte. Lenz las ihm das Inserat vor.

»Würdest du dich für so‚ nen Wagen interessieren, Jupp?« fragte Köster.

»Einen Wagen?« fragte Jupp zurück. Ich lachte.

»Natürlich einen Wagen. Meinst du ein Pferd?«

»Hat er Schnellgang, von oben gesteuerte Nockenwelle und hydraulische Bremsen?« erkundigte Jupp sich ungerührt.

...
8