Herr Grundeis hatte es sich in einer Ecke gemütlich gemacht und schlief. Emil war froh, dass er sich nicht zu unterhalten brauchte, und blickte durchs Fenster. Bäume, Windmühlen, Felder, Fabriken, Kühe, winkende Bauern zogen draußen vorbei. Und es war sehr hübsch anzusehen, wie sich alles vorüberdrehte, fast wie auf einer Grammofonplatte. Aber schließlich kann man nicht stundenlang durchs Fenster starren.
Herr Grundeis schlief weiter und schnarchte ein bisschen. Emil war in der anderen Ecke des Kupees und betrachtete den Schläfer. Warum der Mann nur immer den Hut aufbehielt? Und ein langes Gesicht hatte er, einen ganz dünnen schwarzen Schnurrbart und hundert Falten um den Mund, und die Ohren waren sehr dünn und standen weit ab.
Wupp! Emil erschrak. Beinahe wäre er eingeschlafen15. Das durfte er ja nicht. Wenn doch jemand zugestiegen wäre!16 Der Zug hielt ein paar Mal, aber es kam kein Mensch. Dabei war es erst vier Uhr, und Emil hatte noch über zwei Stunden zu fahren. Er kniff sich in die Beine.17 In der Schule half das immer in Herrn Bremsers Geschichtsstunden.
Eine Weile ging’s. Und Emil dachte an Pony Hütchen. Aber er konnte sich gar nicht mehr ihr Gesicht vorstellen. Er wusste nur, dass sie – als sie und die Großmutter und Tante Martha in Neustadt gewesen waren – mit ihm hatte boxen wollen. Er hatte natürlich nein gesagt, weil sie Papiergewicht war und er mindestens Halbschwergewicht. Das wäre unfair, hatte er damals gesagt. Und wenn er ihr einen Uppercut ge-ben würde, müsse man sie hinterher von der Wand abkratzen. Sie hatte aber erst Ruhe gegeben, als Tante Martha da. zwischenkam.
Schwupp! Er fiel fast von der Bank. Schon wieder eingeschlafen? Er kniff und kniff sich in die Beine. Und trotzdem wollte es nichts nützen.
Er versuchte es mit Knopfzählen. Er zählte von oben nach unten und dann noch einmal von unten nach oben.
Von oben nach unten waren es dreiundzwanzig Knöpfe. Und von unten nach oben vierundzwanzig. Emil lehnte sich zurück und überlegte, woran das wohl liegen könnte.
Und dabei schlief er ein.
1. War Emil ein höflicher Mensch? Beweisen sie das!
2. Was für Nachbarn hatte Emil bei seiner Reise?
3. Schienen die Mitreisenden ihm verdächtig?
4. Wer hat ihn mit Schokolade bewirtet?
5. Wie hat sich Emil gefühlt?
6. Hat sich Emil mit Fahrgästen bekannt gemacht?
7. Welchen Auftrag hat Frau Jakob Emil gegeben?
8. Auf welchen Gedanken ist Emil gekommen?
9. Was hat er mit dem Briefumschlag gemacht?
10. Was hat Herr Grundeis gemacht?
11. Beschreiben Sie sein Äußeres!
12. Wodurch ist Herr Grundeis Emil aufgefallen?
13. Wovon hat Emil geträumt?
Als er aufwachte, setzte sich die Bahn eben wieder in Bewegung. Er war, während er schlief, von der Bank gefallen, lag jetzt am Boden und war sehr erschrocken. Er wusste noch nicht recht, warum. Sein Herz klopfte wie ein Dampfhammer. Da saß er nun in der Eisenbahn und hatte fast verges. sen, wo er war. Dann fiel es ihm nach und nach wieder ein. Richtig, er fuhr nach Berlin. Und war eingeschlafen. Genau wie der Herr im steifen Hut…
Emil fuhr hoch und flüsterte: „Er ist ja fort!“ Die Knie zitterten ihm. Ganz langsam stand er auf und klopfte sich mechanisch den Anzug sauber. Jetzt war die nächste Frage: Ist das Geld noch da? Und vor dieser Frage hatte er eine große Angst.18
Lange Zeit wagte er nicht, sich zu rühren. Dort drüben hatte der Mann, der Grundeis hieß, gesessen und geschlafen und geschnarcht. Und nun war er fort. Natürlich konnte alles in Ordnung sein. Denn eigentlich war es dumm, gleich ans Schlimmste zu denken. Es mussten ja nun nicht gleich alle Menschen nach Berlin-Friedrichstraße fahren, nur weil er hinfuhr. Und das Geld war gewiss noch da. Erstens steckte es in der Tasche. Zweitens steckte es im Briefumschlag. Und drittens saß es mit einer Nadel am Futter fest. Also, er griff sich langsam in die rechte innere Tasche.
Die Tasche war leer! Das Geld war fort!
Emil fuhr mit der linken Hand in der Tasche herum. Er befühlte und drückte die Jacke von außen mit der Rechten. Es blieb dabei: Die Tasche war leer, und das Geld war weg.
„Au!“, Emil zog die Hand aus der Tasche. Und nicht bloß die Hand, sondern auch die Nadel. Nichts als die Nadel war übrig geblieben!19 Und sie saß im linken Zeigefinger, dass er blutete.
Er wickelte das Taschentuch um den Zeigefinger und weinte. Natürlich nicht wegen des bisschen Bluts. Er weinte wegen des Geldes. Und er weinte wegen seiner Mutter. Wer das nicht versteht, dem ist nicht zu helfen. Emil wusste, wie seine Mutter monatelang gearbeitet hatte, um die hundertvierzig Mark für die Großmutter zu sparen und um ihn nach Berlin schicken zu können. Und kaum saß der Herr Sohn im Zug, so schlief er auch schon in einer Ecke ein und ließ sich von einem gemeinen Kerl das Geld stehlen. Und da sollte er nicht weinen?20 Was sollte er nun anfangen? In Berlin aussteigen und zur Großmutter sagen: Da bin ich. Aber Geld kriegst du keins, dass du es weißt. Gib mir lieber schnell das Reisegeld, damit ich wieder nach Neustadt fahren kann. Sonst muss ich laufen?
Prachtvoll war das! Die Mutter hatte umsonst gespart. Die Großmutter bekam keinen Pfennig. In Berlin konnte er nicht bleiben. Nach Hause durfte er nicht fahren. Und alles das wegen eines Kerls, der den Kindern Schokolade schenkte und tat, als ob er schliefe. Und dann stahl er ihr Geld. Pfui, war das eine feine Welt!
Emil presste die Tränen zurück und sah sich um. Wenn er die Notbremse zöge, würde der Zug sofort stehen bleiben. Und dann käme ein Schaffner. Und noch einer. Und immer noch einer. Und alle würden fragen: „Was ist los?“
„Mein Geld ist gestohlen worden“, würde er sagen.
„Ein anderes Mal passt du besser auf“, würden sie antworten. „Wie heißt du? Wo wohnst du? Einmal die Notbremse ziehen kostet hundert Mark. Die Rechnung wird geschickt.“
In Schnellzügen konnte man wenigstens durch die Wagen laufen bis zum Dienstabteil und Diebstähle melden. Aber hier! In so einem Bummelzug! Da musste man bis zur nächsten Station warten, und inzwischen war der Mensch im steifen Hut über alle Berge21. Nicht einmal die Station, wo der Kerl ausgestiegen war, wusste Emil. Wie spät mochte es sein? Wann kam Berlin?22 An den Fenstern des Zuges wanderten große Häuser vorbei und Villen mit Gärten und dann wieder hohe Schornsteine. Wahrscheinlich war das schon Berlin.
Er holte den Koffer aus dem Gepäcknetz, setzte die Mütze auf, steckte die Nadel wieder in den Jackenaufschlag und machte sich fertig. Er hatte zwar keine Ahnung23, was er beginnen sollte, aber hier, in diesem Kupee, hielt er es keine fünf Minuten länger aus. Das stand fest.
Inzwischen wurde der Zug langsamer. Man fuhr an Bahnsteigen vorbei. Ein paar Gepäckträger liefen neben den Wagen her. Der Zug hielt!
Emil schaute durchs Fenster und erblickte ein Schild. Darauf stand: ZOOLOG. GARTEN. Die Türen flogen auf. Leute kletterten aus den Abteilen.
Emil beugte sich weit aus dem Fenster und suchte den Schaffner. Da erblickte er zwischen vielen Menschen einen steifen Hut. Wenn das der Dieb war? Vielleicht war er, nachdem er Emil bestohlen hatte, nur in einen anderen Wagen gegangen?
Im nächsten Augenblick stand Emil auf dem Bahnsteig, setzte den Koffer hin, stieg noch einmal ein, weil er die Blumen vergessen hatte, stieg wieder aus, hob den Koffer hoch und rannte, so sehr er konnte, dem Ausgang zu.
Wo war der steife Hut? Der Junge lief den Leuten vor den Beinen herum, stieß gegen jemand mit dem Koffer und rannte weiter. Die Menschenmenge wurde immer dichter.
Da! Dort war der steife Hut! Himmel, da drüben war noch einer! Emil konnte den Koffer kaum noch schleppen. Am liebsten hätte er ihn einfach stehen lassen. Doch dann wäre ihm auch der noch gestohlen worden!
Endlich kam er dicht an die steifen Hüte heran.
Der konnte es sein! War er’s?
Nein.
Dort war der Nächste.
Nein, der Mann war zu klein.
Dort, dort!
Das war der Kerl. Gott sei Dank! Das war der Grundeis. Er schien es eilig zu haben.
„Warte nur“, knurrte Emil, „dich kriegen wir!24“ Dann gab er seine Fahrkarte ab und lief den Koffer in der einen Hand, die Blumen in der anderen, hinter dem Mann die Treppe hinunter.
Jetzt wurde es ernst.
1. Was hat Emil festgestellt, als er wach war?
2. Was ist ihm statt des Geldes geblieben?
3. Warum hat Emil geweint?
4. Auf welche traurigen Gedanken ist Emil gekommen?
5. Wie hat Emil Herrn Grundeis seit dieser Zeit genannt?
6. Warum ist Emil an der falschen Station ausgestiegen?
7. Hat Emil Herrn Grundeis endlich gefunden?
8. Hat Emil seinen Koffer und Blumen nicht vergessen?
Am liebsten wäre er auf den Kerl losgerannt, hätte sich vor ihn hingestellt und gerufen: Her mit dem Geld!25 Doch der sah nicht so aus, als würde er dann antworten: Aber gern, mein gutes Kind. Hier hast du’s. Ich will es bestimmt nicht wieder tun. Ganz so einfach war die Sache nicht. Das Wichtigste war, er durfte den Mann nicht aus den Augen verlieren.
Emil versteckte sich hinter einer großen breiten Dame und guckte manchmal an ihr vorbei, ob der andere noch zu sehen war. Der Mann war nun am Bahnhofseingang angekommen, blieb stehen, blickte sich um und sah die Leute an, die hinter ihm her drängten, als suche er jemand. Emil presste sich ganz dicht an die große Dame und kam dem anderen immer näher. Was sollte jetzt werden? Gleich würde er an ihm vorbei müssen, und dann war es aus. Ob ihm die Dame helfen würde? Aber sie würde ihm sicher nicht glauben. Und der Dieb würde sagen: Bitte, meine Dame, habe ich es wohl nötig, kleine Kinder auszurauben? Und dann würden alle den Jungen ansehen und schreien: Das ist doch der Gipfel! Verleumdet erwachsene Menschen! Nein, die Jugend von heute ist doch zu frech.
Da drehte der Mann seinen Kopf glücklicherweise wieder weg und trat ins Freie. Der Junge sprang schnell hinter die Tür, stellte seinen Koffer ab und blickte durch die Scheibe. Donnerwetter, tat ihm der Arm weh!
Der Dieb ging langsam über die Straße, sah noch einmal rückwärts und spazierte ziemlich beruhigt weiter. Dann kam eine Straßenbahn mit der Nummer 177 von links angefahren und hielt. Der Mann stieg auf den Vorderwagen und setzte sich an einen Fensterplatz.
Emil hob wieder seinen Koffer auf, lief an der Tür vorbei, die Halle entlang, fand eine andere Tür, rannte auf die Straße und erreichte gerade den hinteren Wagen, als die Bahn losfuhr. Er warf den Koffer hinauf, kletterte nach, schob ihn in eine Ecke und stellte sich davor. So, das war noch einmal gut gegangen.
Doch, was sollte nun werden? Wenn der andere während der Fahrt absprang, war das Geld für immer weg. Denn mit dem Koffer abspringen, das war zu gefährlich.
Diese Autos! Sie fuhren hastig an der Straßenbahn vorbei. Andere kamen nach. So ein Krach! Autos, Straßenbahnen, zweistöckige Autobusse! Zeitungsverkäufer an allen Straßenecken. Schaufenster mit Blumen, Früchten, Büchern, Uhren, Kleidern, und hohe, hohe Häuser.
Das war also Berlin.
Emil hätte gern alles in größter Ruhe betrachtet. Aber er hatte keine Zeit dazu. Im vorderen Wagen saß ein Mann, der hatte Emils Geld und konnte jeden Augenblick verschwinden. Dann war es aus. Denn zwischen den Autos und Menschen und Autobussen fand man niemanden wieder. Emil steckte den Kopf hinaus. Wenn nun der Kerl schon weg war? Dann fuhr er hier oben allein weiter, wusste nicht wohin, wusste nicht warum, und die Großmutter wartete am Bahnhof Friedrichstraße, am Blumenkiosk, und hatte keine Ahnung, dass ihr Enkel inzwischen auf der Linie 177 durch Berlin fuhr und große Sorgen hatte. Es war zum Heulen!
Da hielt die Straßenbahn zum ersten Mal. Es stieg niemand aus. Es drängten nur viele neue Fahrgäste in die Bahn. Auch an Emil vorbei. Ein Herr schimpfte, weil der Junge im Wege war.
„Siehst du nicht, dass Leute mit wollen?“, brummte er ärgerlich.
Der Schaffner zog an einer Schnur. Es klingelte. Und die Straßenbahn fuhr weiter. Emil stellte sich wieder in seine Ecke, wurde gedrückt und auf die Füße getreten und dachte erschrocken: Ich habe ja kein Geld! Wenn der Schaffner kommt, muss ich einen Fahrschein kaufen. Und wenn ich es nicht kann, schmeißt er mich raus. Und dann ist alles aus.
Er sah sich die Leute an, die neben ihm standen. Konnte er einen von ihnen fragen: Borgen Sie mir doch bitte das Fahr-geld! Ach, die Menschen hatten so ernste Gesichter! Der eine las Zeitung. Zwei andere unterhielten sich.
Der Schaffner kam immer näher. Jetzt fragte er schon: „Noch jemand ohne Fahrschein?“
Er riss große weiße Zettel ab und machte mit einer Zange eine Reihe Löcher hinein. Die Leute auf dem Perron gaben ihm Geld und bekamen dafür Fahrscheine.
„Na, und du?“, fragte er den Jungen.
„Ich habe mein Geld verloren, Herr Schaffner“, antwortete Emil.
„Geld verloren? Das kenne ich. Und wo willst du hin?“
„Das … das weiß ich noch nicht,“ stotterte Emil.
„So. Na, da steige mal an der nächsten Station wieder ab und überlege dir erst, wo du hin willst.“
„Nein, das geht nicht. Ich muss hier oben bleiben, Herr Schaffner. Bitte schön.“
„Wenn ich dir sage, du sollst absteigen, steigst du ab. Verstanden?“
„Geben Sie dem Jungen einen Fahrschein!“, sagte da der Herr, der Zeitung gelesen hatte. Er gab dem Schaffner Geld. Und der Schaffner gab Emil einen Fahrschein und erzählte dem Herrn: „Was glauben Sie, wie viele Jungen da täglich ankommen und sagen: Ich habe das Geld vergessen. Hinterher lachen sie uns aus.“
„Der hier lacht uns nicht aus“, antwortete der Herr.
„Haben Sie vielen Dank, mein Herr!“, sagte Emil.
„Bitte schön, nichts zu danken“, meinte der Herr und schaute wieder in seine Zeitung.
Dann hielt die Straßenbahn wieder. Emil beugte sich hinaus, ob der Mann im steifen Hut ausstiege. Doch es war nichts zu sehen.
„Darf ich vielleicht um Ihre Adresse bitten,“ fragte Emil den Herrn.
„Wozu denn?“
„Damit ich Ihnen das Geld zurückgeben kann, sobald ich welches habe. Tischbein ist mein Name. Emil Tischbein aus Neustadt.
„Nein“, sagte der Herr, „den Fahrschein habe ich dir selbstverständlich geschenkt. Soll ich dir noch etwas geben?“
„Unter keinen Umständen“ 26, erklärte Emil fest, „das könnte ich bestimmt nicht annehmen.“
„Wie du willst“, meinte der Herr und guckte wieder in die Zeitung.
Und die Straßenbahn fuhr. Und sie hielt. Und sie fuhr weiter. Emil las den Namen der schönen breiten Straße. Kaiserallee hieß sie. Er fuhr und wusste nicht, wohin. Im anderen Wagen saß ein Dieb. Und vielleicht saßen und standen noch andere Diebe in der Bahn. Niemand kümmerte sich um ihn. Ein fremder Herr hatte ihm zwar einen Fahrschein geschenkt, doch nun las er schon wieder Zeitung.
Die Stadt war so groß. Und Emil war so klein. Und kein Mensch wollte wissen, warum er kein Geld hatte, und warum er nicht wusste, wo er austeigen sollte. Vier Millionen Menschen lebten in Berlin, und keiner interessierte sich für Emil Tischbein. Jeder hat mit seinen eigenen Sorgen und Freuden genug zu tun. Und jeder denkt: Mensch, lass mich bloß in Ruhe!
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