Stärker individualisiert als Landschaftseinheit ist das obere Tschaberloi. Es ist ein weiter, flacher Kessel, der aber infolge seiner Ausdehnung als Hochfläche empfunden wird und deshalb stark an die gleichartigen daghestanischen Bildungen erinnert, denen er auch in seiner Baumlosigkeit, Ungeschütztheit gegen Sommerhitze und Winterkälte und den Dorfanlagen gleicht. Etwa 200 m über dem Kessel liegt in dessen Ostumrandung der von hohen Bergwänden eingefaßte, schöne Forellensee Esen-am, 1868 m ü. d. M., an dem die sogenannte Zarenstraße von Wedeno nach Botlich Botlich in Daghestan entlang führt. Den übrigen Tschetschenen gelten die Tschaberloier schon mehr mit den benachbarten großen daghestanischen Orten Andi und Botlich verbunden als mit den tschetschenischen Basarplätzen.
Folgt man von Schatoi aus dem Tschanti-Argun auf dem leidlichen Fahrwege und hat man die finstere und außerordentlich eindrucksvolle Klamm hinter sich, mit der er die zweite Kette durchsägt, so erweitert sich das Tal bedeutend. Die hier völlig waldlosen Hänge werden mit Eintritt in das Schiefergebiet flacher und diese Gestalt behält der Oberlauf des Argun bis zum Beginn des Hochgebirges. Die größte Breite erreicht seine Talsohle bei Itum-Kale mit fast ½ km und da hier auch ein breitsohliges Tal von SO her einmündet, so hat sich ein Bevölkerungszentrum entwickelt; Itum-Kale bildet den Verkehrs- und Handelsmittelpunkt für die ganze Südhälfte der tschetschenischen Berge. Zu seinem lebensvollen, bunten Wochenmarkte kommen die Leute, abgesehen vom eigentlichen Bezirk von Itum-Kale, der den Gaunamen «Tschanti» trägt, auch aus dem oberen Scharo-Argungebiet, ebenso aus Galantschotsch und dem wilden Maisti und Mälchsti. Ja sogar Chewsuren in ihrer interessanten Tracht sieht man ab und zu. Von hier strahlen auch die Wege aus, die über das Hochgebirge nach Tuschetien und Chewsuretien hinüber führen, nämlich nach ersterem entweder über Scharoi und den Katschu-Paß oder über Childecheroi, und nach letzterem über Mälchisti und Schatil. Schon vor der Russenzeit war Itum-Kale eine stark befestige Zentrale mit vielen Wehrtürmen. Nach deren Zerstörung bauten die Russen eine weiträumige Festungsanlage, die jetzt natürlich in Ruimen liegt, sie wird bald völlig verschwunden sein, da ihre Steine als Baumaterial weggeschleppt werden.
Zum näheren Einflußgebiet Itum-Kales gehören verschiedene Seitentäler des Tschanti-Argun, von denen hier nur das durch Holz- und Webearbeiten bedeutende Tal von Chotscharoi und das von kaum übersteigbaren Bergmauern eingerahmte Gebiet von Childecheroi genannt seien.
Denselben landschaftlichen Charakter wie der Oberlauf des Tschanti- hat der des Scharo-Argun; auf seinen flachen Schlieferhängen liegen die Ortschaften in den verschiedensten Höhen verteilt. Hauptort ist das hochgelegene Scharoi mit zwei weithin sichtbaren, dräuenden alten Türmen (Abb. 3). Seine wehrhaften Bewohner machten 1919 der auf S. 8 erwähnten georgischen Expedition viel zu schaffen und waren noch 1925 gegen die Sowjets aufständig. Und zwar aus religiösen Gründen: die kommunistische Verneinung Gottes empörte die frommen Mohammedaner, genau so wie 1921 im benachbarten Daghestan. Bei der räumlichen Begrenztheit des Aufstandes wurden sie jedoch von den Bolschewisten ungewöhnlich nachsichtig behandelt, während man unter den tapferen Daghestarnern blutig aufgeräumt hatte. In den letzten Jahren ist auch dieses Gebiet durch einen Straßenbau erschlossen worden; die Straße führt von Schatoi hinüber zum Scharo-Argun und an diesem entlang bis Scharoi. Sie soll u. a. den Abtransport des beim Dorfe Chulandoi einstweilen mit primitiven Mitteln abgebauten Antimons ermöglichen. Infolge der größeren Entfernung vom Zentrum Itum-Kale sind Sitten und Lebensweise der Bewölkerung im Oberlaufgebiet des Scharo-Argun wesentlich ursprünglicher als in dem des Tschanti-Argun, wenn man von dessen Quellgebiet absieht.
Diese Quellgebiete des Tschanti-Argun dürfen nun von allen tschetschenischen Gauen das Hauptinteresse des Forschers beanspruchen eben wegen ihrer ethnologischen Ursprünglichkeit. Sie sind von Itum-Kale nur 1—2 Tagemärsche entfernt. Das enge Kerbtal, durch das der Argun nach der Einmündung des Kii-Baches, flußaufwärts gerechnet, hindurchtost, ist jedoch schwer zu passieren. Die Erosionswirkung ist an waldfreien Stellen außerordentlich; zumal bei Tauwetter sausen aus großer Höhe ständig Gesteinssplitter in das schäumende Bergwasser, ein Umstand, der für den Wanderer eine nicht geringe Gefahr bedeutet.
Zwei Gaue sind aus diesem Gebiet zu nennen, Maisti und Mälchisti. Maisti, das auf Childecheroi nach W folgende rechte Seitental des Tschanti-Argun, ist ebenso wie dieses durch meist nur für den Alpinisten übersteigbare Seitenmauern umrahmt, im S aber noch durch das Massiv des Tebulos-mta völlig abgeriegelt, von dem der größte Gletscher des Ostkaukasus bis etwa 2800 m herabkommt. Abgesehen von dem bis auf 1800 m herabreichen Trogal und einem kurzen Stück vor der Einmündung in den Argun ist das Maisti-Tal einevöllig ungangbare Klamm. Hoch oben erst; wo die Talwände weiter zurücktreten, ist Platz für Siedlungen. Die über blauschwarze, sehr harte und glatte Schieferplatten hinaufführenden Pfade sind selbst für das sichere Gebirgspferd gefährlich, so daß man fast nur Maulesel sieht. Aus demselben Grunde hält man auch mehr Ziegen als Schafe.
Nur drei Dörfer birgt dies letzte, tiefste Tal der tschetschenischen Berge mit insgesamt etwa 300 Seelen. Trotzdem verdient es besonders genannt zu werden, da sich hier die alte Hochgebirgsturmkultur, die sich einst viel weiter erstreckte, noch ziemlich unberührt erhalten hat. Noch wohnt man ausschließlich in den finsteren, die von hohen, schalken Wehrtürmen überragt werden, (Abb. 4) und ausgedehte Kolonien von Totenhäusern deuten auf alte religiöse Vorstellungen, die auch heute unter der erst christlichen, jetzt mohammedanischen Oberfläche noch weiter bestehen.
Dasselbe gilt von dem argunaufwärts folgenden Gau Mälchisti. Das Arguntal, vor allem das seines linken Nebenflusses Meschi-achk, ist hier wieder etwas offener, und so sieht man überall von den Hängen die alten Turmbauten heruntergrüben. Über ein Dutzend Dörfer verzeichnet in diesem Gebiet die 5 Werst-Karte, in Wirkllichkeit gibt es deren nur drei: Dscharego, Teretego und Bonisti, das übrige sind burgartige Einzelhüfe, deren Beschreibung weiter unten folgt. Die Bewohner bilden zusammen mit denen von Maisti den tschetschenischen Stamm der Kisten. Mit ihren Nachbarn, den Chewsuren, die auch auf dem Nordhang einige Dörfer haben, leben sie eher in Fehde als in Frieden. Ursache hierfür ist gewöhnlich Viehdiebstahl auf den Hochweiden und damit verbundener Totschlag. Der Fehdezustand erstreckt sich jedoch meist nur auf einzelne Dörfer bzw. Sippen, nicht auf die ganzen Stämme. So lebten während meines ersten Aufenthaltes 1919 die Dscharegoer Kisten in Feindschaft mit den Schatiler Chewsuren, beim letzten Aufenthalt nicht mehr, dafür aber der direkte Weg nach Tiflis verschlossen. Die Antwort auf die Frage: «Wie steht ihr mit den Einwohnern dieses oder jenes Dorfes?» lautet jedenfalls nie schlankweg «gut» oder «schlecht», sondern «zur Zeit gut» oder «zur Zeit schlecht».
Über Lage und Gestalt der Ssunscha-Ebene wurden schon eingangs einige Ausführungen gemacht. Völlig eben ist sie nicht, sie neigt sich leicht nach NO und zeigt kaum merkliche Bodenwellen. Außerdem beleben zahllose Kurgane von I bis etwa 6 m Höhe die flachen Felder. Die Flußtäler sind so breit, daß sie für eine viel größere Wassermasse bestimmt erscheinen als für die, die heute hindurchfließt. Auch bei kleineren Bächen hat das Tal noch an 100 m Breite, das des Argun ist bis 1 km breit, das der Ssunscha stellenweise wohl gar 2 km. Der Höhenunsterschied zwischen Talsohle und Steppe kann bis 20 m betragen. auf weite Strecken ist der Talboden mit dichtem Gestrüpp bedeckt, z. B. der der Ssunscha, in dem sich u. a. auch Wildschweine tummeln. Zu den zahlreichen Flüssen und Bächen, deren Strömung immer noch recht rasch ist, kommen Bewässerungskanäle hinzu, die aber auch im Laufe der Zeit die Form von Flußläufen angenommen haben. Künstliche Bewässerung ist in größerer Entfernung vom feuchteren Gebirgsfluß eben doch schon erforderlich, besonders für Gartenkulteren in der Nähe von Grosny.
Die Ebene ist heute größtenteils von Steppe bedeckt, die mit Annäherung an das Gebirge wesentlich frischer wird. Früher soll aber der Überlieferung zufolge auch hier der Wald weit verbreitet gewesen sein. Seine Spuren sind noch in ausgedehnten, bis zu 5 meter Höhe erreichenden Buschbeständen erkennbar. Während aber die edleren Hölzer abgeschlagen werden. läßt man das dicht wuchernde Christdorn-Gestrüpp stehen; es nimmt schon bedeutende Flächen ein, die somit natürlichvöllig nutzlos daliegen.
Die Steppe ist ihrerseits schon stark durch Ackerland eingeschränkt. Mais und wieder Mais, dieses Hauptnahrungsmittel für Mensch und Tier, soweit das Auge reicht. Andere Früchte, besonders Getreide, verschwinden demgegenüber völlig. Der fruchtbare Boden hat eine hohe Bevölkerungsdichte zur Folge. Zwar liegen die Dörfer oft meilenweit auseinander, dafür haben sie aber zuweilen erstaunlich hohe Einwohnerziffern. Das Dorf Schali z. B. hat nach der Zählung von 1926 15000 Einwohner, Urus-Martan gar über 20000! Da sie außerdem noch sehr weitläufig gebaut und die meisten Höfe noch von Maisgärten umgeben sind, so kann es Stunden dauern, bis man solch ein Dorf durchquert hat. In der Regel besteht der Dorfplan aus vielen parallelen Straßenzügen, die durch gelentliche Querstraßen mit einander verbunden werden. Die in Itschkerien so verbreiteten, aus vielen Einzelgehöften bestehenden weit zerstreuten Dorfanlagen fehlen vollkommen. Im Grün versteckt, von hohen Pappeln überragt, machen die Dörfer mit ihren sauber getünchten, ziegelgedeckten Satteldachhäusern einen sehr freundlichen, kultivierten Eindruck. Nichtsdestoweniger sind die Bewohner aber noch reichlich unfügsam; Bandenwesen herrscht in hohem Maße, mehr als in den Bergen. Ich kannte russische Polizeibeamte, die nach längerer Tätigkeit in der Ebene zur Erholung einen Posten in den Bergen erhalten hatten.
Die Zahl der in der Ssunscha-Ebene wohnenden Tschetschenen beläuft sich nach der Zählung von 1926 auf etwa 190 000. Da nun der Flächenraum mit reichlich 2000 qkm angesetzt werden kann, so kämen auf 1 qkm ungefähr 90 Menschen, eine für diesen Erdraum gewiß sehr bemerkenswerte Dichteziffer! Dabei ist die Bevölkerung von Grosny mit 95 000 Einwohner nicht mit einbegriffen. Zwei Drittel des ganzen Volkes wohnen also in der Ssunscha-Ebene, obwohl sie nur etwa den vierten Teil des Autonomen Gebietes der Tschetschenen einnimmt.
Etwa genau soviel Flächenraum wie die Ssunscha-Ebene nimmt das Gelände der beiden die Ebene im N begrenzenden Hügelzüge des Terek-Ssunscha-Gebirges ein. Es ist aber wegen seiner Öde und Unfruchtbarkeit – letzters wegen Wassermangels – so gut wie unbewohnt und wird nur als Weidegebiet benutzt, wenigstens so weit die Tschetschenen daran interessiert sind. Seine besondere Bedeutung erhält es jedoch durch die sogenannten Alten Petroleumbohrfelder Grosnys, die sich am Nodhange des südlichen Höhenzuges befinden.
B) Sprachliche Stellung und dialektische Verschiedenheiten.
Die Bevölkerung des Kaukasus besteht aus drei großen Gruppen: I. den eigentlichen Kaukasusvölkern, 2. Arischen Völkern, 3. Turkvölkern. Die Tschetschenen gehören nun zu den eigentlichen Kaukasusvölkern, die Karthwelier im SW mit dem Hauptvolk der Georgier, 2. Die Abchasen, Ubychen und Tscherkessen im NW und 3. Die Tschetschenen und daghestanischen Völker im NO. Nach dem Urteil der Sprachforscher, besonders des Barons von Uslar, stehen die Tschetschenen sprachlich unter den Kaukasusvölkern den Daghestanern am nächsten. Auch kulturell hat man sie der daghestanischen Gruppe zugeordnet, worüber man jedoch verschiedener Ansicht sein kann; meiner Ansicht nach sind sie ethnologisch viel eher den zentralkaukasischen Völkern zuzuzählen, wie noch näher dargetan werden soll. Man wird in diesen Dingen besonders von dem ausgezeichneten russischen Sprachforscher Jakowlew wertvolle Aufklärungen zu erwarten haben, der sich mit der tschetschenischen Sprache in den letzten Jahren befaßt hat und auch ethnologisch arbeitet.
Nächst den Georgiern sind die Tschetschenen mit über 300 000 Köpfen das zahlenmäßig stärkste der eigentlichen Kaukasusvölker. Sprachlich und kulturell gehören zu ihnen aber ohne weiteres noch die Inguschen und der kleine Stammessplitter der Batser am Südhange des Hauptkammes7). Die Kopfzahl der Tschetschenen im weiteren Sinne würde dann etwa 400 000 betragen. Dialektunterschiede bestehen wohl, sie sind aber ganz geringfügig, so daß Tschetschenen und Inguschen sich mühelos miteinander verständigen können. Trotzdem müssen die Inguschen als ein besonders Volk betrachtet werden, da sie politisch eine Sonderentwicklung durchgemacht haben, was ja in der Ausdruck kommt, Tatsache zum Ausdruck kommt, daß ihnen von der Sowjetregierung ein eigenes Autonomes Gebiet errichtet wurde.
Auch die Sprache der Tschetschenen im engeren Sinne, von denen in dieser Arbeit nur die Rede ist, weist anscheinend noch geringe dialektische Verschiedenheiten auf. Bemerkt habe ich das jedenfalls bei den Kisten von Maisti und Mälchisti, in deren Munde die mir bekannten tschetschenischen Worte einen etwas anderen Klang hatten. Als Beispiel erwähne ich das tschetschenische Wort für Wehrturm «bau», das bei den Kisten «vau» lautete. Ebenso wurde mir versichert, daß auch die Tschaberloier eine vom übrigen Tschetschenischen leicht abweichende Sprechweise hätten. Auch lexikalische Unterschiede zwischen dem Tschetschenish der Ebene und dem der Berge wurden mir genannt.
Da aber zu diesen sehr geringen dialektischen Unterschieden wesentlich stärkere kulturelle hinzukommen, so kann man doch von einer Gliederung der Tschetschenen in kleinere Stämme sprechen. Man wird dabei auch an den Stamm der Karabulaken denken müssen (ein Name offensichtlich türkischer Herkunft: kara-schwarz, bei Wasser im Sinne von schlecht, trübe gebaucht; bulak-Quelle), die, wie schon erwähnt, im Fortanga-Gebiet saßen und nach der Besitzergreifung des Landes durch die Russen bis auf geringe Reste, die sich im Dorfe Atschchoi-Martan in der Ebene erhalten haben, nach der Türkei auswanderten. Rückwanderer siedelten sich in dem Aul Sagopsch in der kleinen Kabarda an. Die Karabulaken sollen sich durch ganz besondere Wildheit und Verwegenheit ausgezeichnet haben und dialektische sowohl von den Tschetschenen wie auch von den benachbarten Inguschen leicht verschiedenen gewesen sein. (Nach Iwanow, Lit. Verz. 17). Als tschetschenischen Namen des Stammes nennt Jakowlew den Namen «earštchuoj».
C) Geschichtliches. Untersuchungen über die Herkunft der Tschetschenen müssen sehr schwierig sein, da wir ja nicht wissen, unter welchem Namen die Tschetschenen früher einmal aufgetretenen sind. Denn der jetzige Name ist neueren Ursprungs. Er bedeutet zunächst nichts anderes als Bewohner des etwa 15 km südöstlich Grosny am Argun gelegenen Dorfes Tschetschenen, eines Dorfes, da einst am weitesten von allen tschetschenischen Dörfern nach N vorgeschoben war, mit dem also Russen, Kabardiner und andere zuerst in Berührung kamen. Der Russe sagt also «čečenec», Mehrzahl «čečency», der Kabardiner «šašan», der Ossete «tsatsan». In der deutschen Kaukasusliteratur hat sich bedauerlicherweize der Name «Tschetschenen» eingebürgert, obwohl es richtig «Tschetschener» heißen müßte; der Einheitlichkeit halber wird jedoch auch in dieser Arbeit «Tschetschenen» gesagt. Zum ersten Male schriftlich belegt ist der Name «Tschetschenen» in einem Vertrage der Russen mit dem Kalmükenführer Ajuki-Chan aus dem Jahre 1708. (Nach Berge, Lit. Verz. 3, S. 140). Selbst nennen sich die Tschetschenen «nachčoi» was einfach Volk bedeutet, wie so manche andere Völkernamen (Singular nachčuo). Nach Laudajew S. 3 (Lit. Verz. 24) werden sie von den Daghestanern «burtel», vn den Kumüken «mičikiš» genannt. Das Wort setzt sich nach Laudajew zusammen aus «mičik» und «giši», «giši» soll im Kumükischen Leute bedeuten. «mičik» heißt ferner ein rechter Zufluß des Ssunscha-Nebenflusses Gudermes im östlichsten Winkel der Ssunscha-Ebene also im Grenzland gegen die Kumüken. Au einer sehr interessanten alten, von einem Gehilfen Schamils entworfenen Karte (Lit. Verz. 37), die den Herrschaftsbereich Schamils, als das nördliche Daghestan und das Tschetschenen-Gebiet, umfaßt, indet sich das Wort «mičik» auch als Gauname für besagtes Gebiet eingetragen. «mičikis» ist nach Ansicht Semenows (Lit. Verz. 46, S. 217) gleichbedeutend mit dem Namen des alten Volkes der Massageten, was noch durch andere, von ihm nicht näher bezeichnete Quellen erwisen sei. In diesem Zusammenhange erwähnt er auch die tschetschenischen Dorfnamen Machketi und Mesketi, ersteres in Itschkerien, letzteres in Auch gelegen).8
Ferner ist zu erwähnen der Name «Kisten», mit dem die Gebirgsgeorgier die Tschetschenen, im besonderen ihre unmittelbaren Nachbarn, also die Bewohner von Maisti und Mälchsti, belegen und der auch in der deutschsprachigen Literatur vorkommt, auch in der Form Kistiner. Die Bewohner der Kistengaue bezeichnen sich selbst und werden von ihren Stammesgenossen nur nach ihren Landschafts bzw. Sippennamen Maisti und Mälchisti bezeichnet. Anscheinend hat der Name Kisten auch für die Inguschen gegolten, nach dem Flußnamen Kistinka zu urteilen, den der 5 Werst-Karte zufolge zwei rechtsseitige Zuflüsse des Terek in der Darial-Schlucht tragen.
Wenn nun auch schriftliche Zeugnisse fehlen, so haben natürlich die Tschetschenen eine mündliche Überlieferung bezüglich der Herkunft ihres Volkes und seiner weiteren Schicksale. Es muß nur dabei im Auge gehalten werden, daß diese Überlieferungen keine eigentliche Volksgeschichte darstellen, sondern daß es lediglich Familienüberlieferungen sind. Denn ihre Geschichte als Volk beginnt streng genommen erst mit der Bildung des Autonomen Gebietes durch die Sowjets. Von jetzt ab erst treten alle Zweige des Volkes geschossen auf den Plan. Bis dahin bestand ihre Geschichte nur in einem Nebeneinanderleben verschiedener Stämme oder besser noch von Sippen, Großfamilien, die wohl zeitweise z. T. gemeinsam handelten, ebenso oft aber einander befehdeten. Soweit wir wissen, hat es also niemals einen tschetschenischen Herrscher gegeben oder sonst etwas einer Regierung ähnliches, der das ganze Volk für längere Dauer gefolgt wäre. Selbst zur Zeit der kaukasischen Kriege galt das noch. Hauptsächlich kämpfen nur die Tschetschenen gegen die Russen, au die sich unmittelbar der Einfluß Schamils erstreckte, d. h. die an den Dagestan grenzenden Gaue, besonders die Itschkerier. Auch der Volksname «nachčoi» z. B. ist nach Laudajew erst in jüngerer Zeit für alle Tschetschenen gültig geworden; bis dahin bestanden nur die verschiedenen Gaunamen.
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