»Herr Pfarrer,« sagte Leonce, »es thut mir zu leid, Sie stören zu müssen. Ich weiß, daß wann der Priester im Lesen seines Breviers unterbrochen wird, er wieder von vorn anfangen muß, und wäre er auf der zweitletzten Seite. Ich sehe indeß mit Vergnügen, daß Sie bloß auf der zweitersten sind, und der Grund, welcher mich zu Ihnen führt, ist so dringend, daß ich mich Ihrer Barmherzigkeit empfehle, um meine Unbescheidenheit zu entschuldigen.«
Der Pfarrer stieß einen Seufzer aus, schloß sein Brevier, nahm die Brille ab und seine großen blauen, keineswegs geistlosen Augen zu Leonce aufschlagend, sagte er:
»Mit wem habe ich die Ehre zu sprechen?’
»Mit einem jungen, aufrichtigen Manne, der Ihnen einen sehr zarten Fall vortragen muß,« antwortete ernst Leonce. »Diesen Morgen überredete ich in höchster Unschuld eine junge Dame, die Sie in dem offenen Wagen da unten bemerken werden, mit mir eine Spazierfahrt in Ihrem hübschen Gebirge zu machen. Wir Beide sind mit den Sitten des Landes unbekannt; unsere Gefühle für einander sind die einer geschwisterlichen Freundschaft; die Dame verdient alle Achtung und Ehrerbietung; allein unterwegs stiegen ihr Bedenken auf, denen ich mich unterziehen mußte. Sie sagt, die Bewohner der Gegend könnten sich über sie aufhalten, wenn man sie so allein mit einem jungen Manne umherziehen sähe, und die Furcht, Skandal zu erregen, beherrscht nun ihr Gemüth so lebhaft, daß ich den glücklichen Zufall, der Sie uns entgegenführt, als eine Fügung des Himmels betrachte. Ich habe mich daher entschlossen, Sie für eine oder zwei Stunden um die Vergünstigung Ihrer Gesellschaft bei unserer Spazierfahrt zu bitten, oder daß Sie die Dame wenigstens mit mir nach Ihrer Wohnung zurückbegleiten möchten. Sie sind schon so gut, daß Sie eine liebenswürdige Person nicht einer wahrhaft erbaulichen Vergnügungspartie berauben wollen, da es sich für uns hauptsächlich darum handelt, den Ewigen in der Betrachtung seines Werkes, der schönen Natur, zu preisen.«
»Aber, mein Herr,« sagte der Pfarrer, welcher etwas Mißtrauen zeigte und den Wagen aufmerksam betrachtete, »Sie sind nicht allein, Sie haben ja noch zwei andere Personen bei Ihnen.«
»Es ist unsere Bedienung, die mitzunehmen ein instinktartiges Gefühl von Schicklichkeit uns veranlaßt hat.«
»Nun, dann sehe ich auch nicht, was Sie von bösen Zungen fürchten können. Man thut vor seinen Dienern nichts Böses.«
»Die Anwesenheit der Bedienten zählt im Sinne der Weltleute für Nichts.«
»Das zeigt allzu große Verachtung für Leute, die unsere Brüder sind.«
»Sie sprechen würdig, Herr Pfarrer, und ich bin Ihrer Meinung. Sie werden indeß zugeben, daß wie diese den Wagensitz einnehmen, man vermuthen könnte, ich schwatze zärtliche Dinge an die Dame hin und nehme ihr bisweilen die Hand, um sie verstohlen zu küssen.«
Der Pfarrer machte eine Bewegung des Schreckens, es geschah indeß nur der Form wegen, sein Gesicht verieth keine Bewegung. Er war über das Alter hinaus, wo glühende Gedanken den Priester quälen. Oder möglich wäre auch, daß er sich nicht immer dermaßen der Enthaltsamkeit beflissen, um das Leben zu hassen und das Glück zu verdammen. Leonce ergötzte sich, zu sehen, wie seine angeblichen Bedenken diesem Manne kindisch erschienen.
»Wenn’s nur das ist,« entgegnete das gute Männchen, »so können Sie ja die Schwarze zwischen Sie Beide, in den Wagen setzen. Ihre Gegenwart wird den Dämon der Verleumdung in die Flucht jagen.«
»Das ist nicht der Brauch,« sagte der junge Mann, über die gescheidte Ausflucht des alten Priesters verlegen. »Das erschiene als Ziererei.›Die Gefahr ist also sehr groß!‹ würden Boshafte denken,›weil sie genöthigt sind, eine garstige Negerin zwischen sich zu setzen.‹ Die Anwesenheit eines Priesters dagegen heiligt Alles. Ein würdiger Pfarrer, wie Sie, ist der natürliche Freund aller Gläubigen, und Jedermann muß begreifen, daß man dessen Gesellschaft sucht.«
»Sie sind sehr liebenswürdig, mein werther Herr, und mit Freuden wollte ich Ihnen gefällig sein,« antwortete der Pfarrer, nach und nach geschmeichelt und verführt; »allein ich habe meine Messe noch nicht gelesen und eben läutet das erste Zeichen. Geben Sie mir zwanzig Minuten Zeit . . . oder besser noch, hören Sie die Messe an. Es ist während der Woche nicht obligatorisch, doch kann es Nichts schaden; Sie gestatten mir hernach, zu frühstücken, und dann machen wir eine Spazierfahrt miteinander, wenn’s Sie’s wünschen.«
»Wir werden die Messe anhören,« antwortete Leonce, »doch gleich nachher nehmen wir Sie zu einem Frühstück auf dem Lande mit.«’
»Da werden sie sehr schlecht frühstücken,« bemerkte lebhaft der Pfarrer, welchem diese Idee ernstlicher als alles Vorangegangene erschien, »man findet nichts Rechtes in diesem eben so armen als malerischen Lande.«
»Wir haben trefflichen Wein und ziemlich ausgesuchte Lebensmittel im Kutschentroge,« entgegnete Leonce. »Wir hatten mit mehreren Personen ein Mahl im Freien verabredet und Jedes der Gesellschaft sollte Etwas dazu beitragen. Da aber mit Ausnahme meiner Niemand Wort gehalten hat, so bin ich nun für die kleine Zahl von Gästen, die wir sind, ziemlich gut versehen.«
»Das ist was Anderes,« sagte der Pfarrer, nun völlig entschlossen. »Ich sehe, daß Sie eine hübsche Partie im Gange hatten und sie ohne mich durch die Verlegenheit dieses gefährlichen Beisammenseins unter vier Augen gestört würde. Ich will sie Ihnen nicht verderben, ich gehe mit, vorausgesetzt, daß es nicht zu fern sei, denn an Geschäften mangelt es hier nicht. Dem Einen gefällt es, zu werden, dem Andern zu sterben, und das fängt alle Tage wieder von vorn an. Gehen Sie, benachrichtigen Sie Ihre Dame, ich eile in meine Kirche.«
»Wohlan denn,« sagte Sabina, welche Leonce’s Rückkehr erwartend, aus der Kutschentasche ein Buch hervorgelangt hatte und im Wilhelm Meister blätterte. »Ich glaubte, Sie hätten mich vergessen und tröstete mich mit dieser bewunderungswürdigen Erzählung darüber.«
»Ich hatte es für Sie mitgebracht,« sagte Leonce, ich wußte, daß sie dasselbe noch nicht kennen und es die Lectüre ist, deren Sie in diesem Augenblicke bedürfen.«
»Das sind ja allerliebste Aufmerksamkeiten; doch was beginnen wir jetzt?«
»Wir gehen in die Messe.«
»Seltsamer Einfall!«
»Gedenken Sie mich zu ergötzen, indem Sie mich anhalten, mein Seelenheil zu fördern?«
»Es ist Ihnen untersagt, meine Gedanken zu erforschen und meine Absichten errathen zu wollen. Vom Augenblicke an, wo Ihr Unbekanntes nicht mehr in meinem Gehirn allein lebt, werden Sie mich Nichts von Allem, was ich unternommen, zu Ende führen lassen.«
»Das ist wahr. Gehen wir daher in die Messe; aber was wollten Sie nur mit diesen! Pfarrer anfangen?«
»Ei, ei, immer fragen, wenn Sie wissen, daß das Orakel stumm sein muß.«
»Ihre Wunderlichkeiten beginnen mich zu interessiren. Ist es mir nicht erlaubt, zu suchen, daß ich verstehe?«
»Warum nicht! ich lauft nicht Gefahr, errathen zu werden.«
Die Wurst fuhr durch den Weiler und hielt vor der ländlichen Kirche an. Sie war gewöhnlich in den Wochenmessen beinahe leer; allein sobald die beiden edlen Reisenden eingetreten waren, füllte sie sich mit neugierigen Weibern und Kindern. Die Mehrzahl davon kehrte indeß bald wieder unter die Vorhalle zurück, um die Pferde zu bewundern, den Wagen zu berühren und besonders die Negerin zu betrachten, die ihnen ein mit Spott und Schreck vermischtes Staunen verursachte.
Der Sakristan wies Sabina und Leonce die Ehrenbank an. Die Bergluft ist so scharf, daß der Pfarrer schon Hunger hatte und seine Messe nicht in die Länge zog.
Lady G*** hatte aus andern alten Erbauungsscharteken, die zerstreut auf dem Betstuhle umherlagen, mit den Fingerspitzen ein ehrwürdiges Meßbuch hervorgelangt. Sie schien sehr andächtig; allein Leonce bemerkte bald, daß sie immer Wilhelm Meister unter ihrem Shawl hielt, daß sie diesen nach und nach auf das vor ihr geöffnete Meßbuch schob und ihn endlich während des confiteor aufmerksam las.
Er kniete nun auf das Fußbänkchen zu ihr hin und sagte leise:
»Ich wette, daß dieser einfältige Pfarrer und die guten Leute da, welche Sie anschauen, von Ihrer Frömmigkeit erbaut sind, Sabina! Ich aber sage mir, daß Sie nur die Außenseite einer Religion achten, an welche Sie nicht mehr glauben.«
Sie antwortete ihm blos durch Hinweisung auf das Wort Pedant, welches sich in Betreff einer der Personen der umherziehenden Truppe im Wilhelm Meister an mehreren, Stellen vorfindet.
»Sie wissen wohl, daß ich keine Betschwester bin,« sagte sie nach der Messe zu ihm, während sie mit einander durch das mit kleinen Kapellen umgebene Schiff der Kirche schritten, »ich habe die Religion meiner Zeit.«
»Das heißt, Sie haben keine Religion?«
»Ich glaube im Gegentheil, es sei kein Zeitalter religiöser gewesen, in dem Sinne nämlich, daß die großen Geister gegen die Vergangenheit ankämpfen und nach der Zukunft streben. Allein die Gegenwart kann in keinem Tempel Schutz suchen. Warum führten Sie mich in diesen hier?«
»Gehen Sie nicht sonntäglich in die Messe?«
»Es ist dies Sache des Anstandes und um nicht die Rolle des Freigeistes zu spielen. Der Sonntag hat religiöse Verpflichtungen und demzufolge einen Weltbrauch aufgestellt.«
»Ach! Sie sind Heuchlerin.«
»In der Religion? Nicht doch. Ich verberge Niemanden, daß ich einer Gewohnheit gehorche.«
»Sie haben sich aus dieser profanen Welt einen Gott geschaffen, und finden es leicht, diesem zu dienen.«
»Leonce, sollten Sie ein Betbruder sein?« sagte sie, ihn anschauend.
»Ich bin Künstler,« antwortete er; »ich fühle überall die Gegenwart Gottes, selbst vor diesen rohen Bildern des Mittelalters, die den Ort, in welchem wir uns befinden, irgend einem barbarischen Götzentempel ähnlich machen.«
»Sie sind gottloser, als ich; diese schrecklichen Fetische, diese cynischen Votivtafeln machen mir Furcht.«
»Ich sehe, die Vergangenheit ist Ihnen ein Schrecken; sie verderbt Ihnen die Gegenwart. Daß Sie doch die Zukunft nicht verstehen können! Sie lebten im Ideal.«
»Da, Künstler, schauen Sie hin!« sagte Sabina, seine Aufmerksamkeit auf eine im schaurigen Hintergrund einer Todtenkapelle auf dem Pflaster knieende Figur lenkend.
Es war ein junges Mädchen, beinahe noch ein Kind, ärmlich; obwohl reinlich gekleidet. Sie war nicht hübsch, allein ihr Gesicht hatte einen ergreifenden Ausdruck und ihre Haltung einen seltsamen Adel. Ein in das feuchte Gewölbe, worin sie betete, verirrter Sonnenstral fiel auf ihren rosigen Nacken und eine prächtige Flechte hellblonder, fast weißlicher Haare, die festanliegend um ein kleines, von rothem, mit verblichenem Golde gestickten Sammt und nach Landessitte mit schwarzen Spitzen verziertes Häubchen geschlungen waren. Sie war trotz des matten Tons ihrer Haare von blühender Gesichtsfarbe. Das helle Blau ihrer Augen erschien unter ihren mattgoldenen, in’s Silber spielenden Wimpern noch glänzender. Ihr allzu kurzes Profil hatte Linien von außerordentlicher Feinheit und Energie.
»Ei, ei, Leonce, vergessen Sie sich nicht allzusehr in dieser Beschauung,« sagte Sabina zu ihrem Begleiter, welcher wie versteinert vor dem Landmädchen stand, »nur mit mir allein müssen Sie heute beschäftigt sein; wenn Sie zerstreut werden, so bin ich verloren, so langweile ich mich.«
»Ich denke nur an Sie, während ich diese anschaue. Schauen Sie sie auch an. Sie müssen das verstehen.«
»Das? Das ist der blinde und dumme Glaube, es ist die noch lebende Vergangenheit, es ist das Volk. Das ist merkwürdig für den Künstler, ich aber bin Poet und bedarf mehr, als des Seltsamen, ich bedarf des Schönen . . . Diese Kleine ist häßlich.«
»Sie verstehen eben Nichts davon. Sie ist in Bezug auf den seltenen Typus, welchem sie angehört, schön.«
»Albions Typus.«
»Nein! Es ist Rubens Farbe mit dem strengen Ausdruck der niederländischen Jungfrauen. Und die Haltung?«
»Ist steif wie die Zeichnung der ältern Meister. Sie lieben das?«
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