Eines Nachmittags, einen Monat später, saß Dorian Gray zurückgelehnt in einem schwellenden Sessel der kleinen Bibliothek in Lord Henrys Hause in Mayfair. Es war in seiner Art ein allerliebster Raum, bis hoch hinauf mit olivenfarbigem Eichenholz getäfelt, mit einem cremefarbigen Deckenfries und mit Stuckverzierungen und mit einem ziegelfarbigen Filzteppich, der in langen Seidenfransen auslief. Auf einem niedlichen Tischchen aus Satinholz stand eine Figur von Clodion, und daneben lag eine Ausgabe der Cent Nouvelles, die für Margarete von Valois von Clovis Eve eingebunden und mit goldenen Gänseblümchen verziert war, wie sie die Königin auf ihr Wappenzeichen gewählt hatte. Auf dem Kaminsims standen ein paar große blaue Porzellanvasen mit Papageientulpen, und durch die schmalen, bleigerahmten Rautenfelder der Fenster drang das aprikosenfarbene Licht eines Londoner Sommertages.
Lord Henry war noch nicht nach Hause gekommen. Er kam grundsätzlich zu spät, da sein Grundsatz war, Pünktlichkeit stehle einem die Zeit. Daher sah der junge Mann etwas gelangweilt aus, als er mit lässigen Fingern die Seiten einer reichillustrierten Ausgabe von Manon Lescaut durchblätterte, die er in einem der Bücherschränke gefunden hatte. Das abgemessene gleichförmige Ticktack der Louis-Quatorze-Uhr machte ihn nervös. Ein- oder zweimal machte er schon Miene, wegzugehen.
Endlich hörte er draußen einen Schritt und die Tür öffnete sich. „Wie spät du kommst, Harry!“ sagte er leisen Vorwurfs.
„Zu meinem Bedauern ist es nicht Harry, Herr Gray“, antwortete eine schrille Stimme.
Er sah sich rasch um und sprang auf die Füße.
„Ich bitte um Entschuldigung, ich glaubte – “
„Sie glaubten, es sei mein Mann. Es ist nur seine Frau. Ich muß mich schon selbst vorstellen. Ich kenne Sie aus Ihren Photographien ganz gut. Ich glaube, mein Mann hat ihrer siebzehn.“
„Nicht siebzehn, Lady Henry.“
„Schön, also achtzehn. Und dann habe ich Sie gestern abend mit ihm in der Oper gesehen.“ Während sie sprach, lachte sie nervös und beobachtete ihn mit ihren verschwommenen Vergißmeinnichtaugen. Sie war eine absonderliche Frau, deren Kleider immer so aussahen, als wären sie in einem Wutanfall gezeichnet und während eines Gewitters angezogen worden. Sie war gewöhnlich in irgend jemand verliebt, und da ihre Leidenschaft nie erwidert wurde, hatte sie sich alle ihre Illusionen bewahrt. Sie machte den Versuch, malerisch zu erscheinen, aber es gelang ihr nur, unordentlich auszusehen. Sie hieß Viktoria und hatte eine krankhafte Leidenschaft, in die Kirche zu laufen.
„Das war im Lohengrin, Lady Henry, nicht wahr?“
„Ja, es war bei dem entzückenden Lohengrin. Ich liebe Wagners Musik mehr als die irgendeines anderen. Sie ist so laut, daß man sich die ganze Zeit unterhalten kann, ohne daß die Nachbarn hören, was man sagt. Das ist ein dankenswerter Vorteil. Meinen Sie nicht auch, Herr Gray?“
Über ihre dünnen Lippen kam wieder das nervöse Stakkatolachen, und ihre Finger begannen mit einem langen Papiermesser aus Schildkrot zu spielen.
Dorian schüttelte lächelnd den Kopf. „Ich bedaure, Lady Henry, das ist nicht meine Meinung. Ich unterhalte mich nie, während man spielt – wenigstens nicht, wenn es gute Musik ist. Wenn man schlechte Musik hört, ist man freilich verpflichtet, sie durch ein Gespräch zu ertränken.“
„Ah, das ist eine von Harrys Sentenzen, nicht wahr, Herr Gray? Ich bekomme Harrys Ansichten immer von seinen Freunden zu hören. Das ist die einzige Art, wie ich sie überhaupt erfahre. Aber Sie dürfen nicht glauben, daß ich nicht auch gute Musik liebe. Ich vergöttere sie, aber ich fürchte mich vor ihr. Sie macht mich zu romantisch. Ich habe Klavierspieler geradezu angebetet – manchmal zwei auf einmal, versichert Harry. Ich weiß nicht, was es für eine Bewandtnis mit ihnen hat. Vielleicht rührt es daher, daß sie Ausländer sind. Das sind sie doch alle, nicht wahr? Selbst die in England Geborenen werden nach einiger Zeit Ausländer, nicht wahr? Es ist sehr gescheit von ihnen und für die Kunst sehr vorteilhaft. Das macht sie zu Kosmopoliten, nicht wahr? Sie waren nie auf einer meiner Gesellschaften, Herr Gray. Sie müssen einmal kommen. Ich kann mir zwar keine Orchideen leisten, aber ich scheue in der Anschaffung von Ausländern keine Ausgabe. Sie geben dem Hause ein so pittoreskes Aussehen. Aber da ist Harry. – Harry, ich kam her, um dich zu suchen, um dich etwas zu fragen – ich habe ganz vergessen, was – und ich habe Herrn Gray hier getroffen. Wir haben so entzückend über Musik gesprochen. Unsere Ansichten darüber sind die gleichen. Nein, ich glaube, unsere Ansichten darüber sind ganz verschieden. Aber er ist ganz allerliebst gewesen. Ich freue mich so sehr, ihn einmal gesehen zu haben.“
„Das ist ja reizend, meine Liebe, ganz reizend“, sagte Lord Henry, seine dunkeln geschwungenen Brauen hebend und beide mit vergnügtem Lächeln ansehend. „Es tut mir so leid, Dorian, daß ich mich verspätet habe. Ich war in Wardour Street, um mir einen alten Brokat anzusehen, und mußte stundenlang darum handeln. Heutzutage kennen die Leute den Preis von jeder Sache und den Wert von keiner.“
„Ich muß leider gehen!“ rief Lady Henry aus und unterbrach ein verlegenes Schweigen mit ihrem jähen, grundlosen Lachen. „Ich habe versprochen, mit der Herzogin auszufahren. Adieu, Herr Gray. Adieu, Harry. Du speist wohl nicht zu Hause, wie? Ich auch nicht, vielleicht sehe ich dich bei Lady Thornbury.“
„Höchstwahrscheinlich, meine Liebe“, sagte Lord Henry und schloß die Tür hinter ihr, als sie gleich einem Paradiesvogel, der die ganze Nacht dem Regen ausgesetzt gewesen war, aus dem Zimmer hinausflatterte, einen feinen Jasmingeruch hinterlassend. Harry zündete sich eine Zigarette an und warf sich auf das Sofa. „Heirate nie eine Frau mit strohgelbem Haar, Dorian“, sagte er nach einigen Zügen.
„Warum nicht, Harry?“
„Weil sie so sentimental sind.“
„Aber ich habe sentimentale Menschen gern.“
„Heirate überhaupt nie, Dorian! Männer heiraten, weil sie müde sind; Frauen, weil sie neugierig sind: beide werden enttäuscht.“
„Ich glaube nicht, daß ich heiraten werde, Harry. Dazu bin ich zu verliebt. Das ist einer deiner Aphorismen. Ich setze ihn in die Wirklichkeit um, wie alles, was du sagst.“
„In wen bist du verliebt?“ fragte Lord Harry nach einer Pause.
„In eine Schauspielerin“, sagte Dorian Gray errötend.
Lord Henry zuckte die Achseln. „Ein recht landläufiger Anfang.“
„Das würdest du nicht sagen, wenn du sie kenntest.“
„Wer ist's denn?“
„Sie heißt Sibyl Vane.“
„Nie von ihr gehört.“
„Das hat niemand. Aber später einmal wird man von ihr hören. Sie ist ein Genie.“
„Mein lieber Junge, es gibt keine Frau, die ein Genie wäre. Die Frauen sind ein dekoratives Geschlecht. Sie haben niemals etwas zu sagen, aber sie sagen es entzückend. Die Frauen bedeuten den Triumph der Materie über den Geist, wie die Männer den Triumph des Geistes über die Sittlichkeit.“
„Harry, wie kannst du?“
„Mein lieber Dorian, es ist aber wahr. Ich beschäftige mich gerade mit der Analyse der Frauen, daher muß ich das wissen. Das Thema ist nicht so verwickelt, wie ich glaubte. Ich finde, daß es schließlich nur zwei Arten von Frauen gibt, die einfachen und die geschminkten. Die einfachen Frauen sind sehr nützlich. Wenn du als ehrbarer Mensch gelten willst, mußt du nur eine von ihnen zu Tisch führen. Die andern Frauen sind zum Entzücken. Aber sie begehen einen Fehler. Sie schminken sich, um jung auszusehen. Unsere Großmütter schminkten sich, um geistreich zu plaudern. Rouge und Esprit gingen Hand in Hand. Das ist jetzt alles vorbei. Solange eine Frau zehn Jahre jünger aussehen kann als ihre Tochter, ist sie gänzlich zufrieden. Was die Konversation betrifft, so gibt es in ganz London höchstens fünf Frauen, mit denen sich's zu reden lohnt, und zwei davon sind in anständiger Gesellschaft nicht möglich. Aber genug, erzähl' mir was von deinem Genie! Wie lange kennst du sie?“
„Ach, Harry, deine Ansichten erschrecken mich!“
„Mach' dir darum keine Kopfschmerzen. Wie lange kennst du sie also?“
„Ungefähr drei Wochen.“
„Und wo hast du die Entdeckung gemacht?“
„Ich will dir's erzählen, Harry, aber du mußt nicht häßlich darüber reden. Übrigens wär's gar nicht dazu gekommen, wenn ich dich nicht kennengelernt hätte. Du hast mich mit einer wilden Begierde, alles im Leben kennenzulernen, angefüllt. Noch viele Tage, nachdem ich dich zuerst gesehen hatte, schien in meinen Adern etwas zu rumoren. Wenn ich im Park spazierte oder Piccadilly hinunterschlenderte, schaute ich jeden an, der mir entgegenkam, und wollte mit einer tollen Neugierde herauskriegen, was für eine Art Leben die Leute alle führten. Einige von ihnen fesselten mich. Andere erfüllten mich mit Schauder. Es schwamm ein verführerisches Gift in der Luft. Mich hatte eine Leidenschaft nach Erlebnissen gepackt… Eines Abends also gegen sieben beschloß ich, mich auf die Suche nach einem Abenteuer zu begeben. Ich hatte solch Gefühl, daß unser graues, riesenhaftes London mit seinen vielen Hunderttausenden schmutzigen Sündern und seinen schillernden Sünden, wie du dich mal ausdrücktest, irgend etwas für mich in Bereitschaft halten müsse. Ich erfand mir tausenderlei Dinge. Schon die bloße Gefahr schenkte mir einen gewissen Genuß. Ich erinnerte mich an das, was du mir sagtest an dem wunderbaren Abend, als wir das erstemal zusammen speisten: daß nämlich das Suchen nach Schönheit das eigentliche Geheimnis des Lebens sei. Ich weiß nicht, was ich erwartete, aber ich ging drauflos und wanderte nach dem Osten, wo ich meinen Weg bald in einem Wirrwarr von rußigen Straßen und schwarzen, graslosen Plätzen verlor. Gegen halb acht kam ich an einem kleinen, schnurrigen Theater mit großen, flackernden Gasflammen und grellen Plakaten vorbei. Ein widerlicher Jude, in dem erstaunlichsten Rock, den ich mein Lebtag gesehen habe, stand an der Tür und paffte eine stänkrige Zigarre. Er hatte fettige Peies, und ein riesiger Brillant glitzerte auf seiner schmutzigen Hemdenbrust. ‚Eine Loge, Herr Baron?‛ fragte er mich und nahm seinen Hut mit grandioser Unterwürfigkeit ab. Er hatte etwas an sich, Harry, was mich belustigte. Er war das reine Monstrum. Du wirst mich auslachen, ich weiß schon, aber ich trat wirklich ein und erlegte ein Zwanzigmarkstück für die Proszeniumsloge. Ich kann mir noch heute nicht erklären, warum ich das tat; und doch – wenn ich's nicht getan hätte – bester Harry, ich wäre um das größte Ereignis meines Lebens gekommen. Ja, lach du nur. Es ist häßlich von dir.“
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