Er erfand eine glaubwürdige Entschuldigung, setzte sich auf den leeren Platz neben sie und sah sich um, zu sehen, wer noch da war. Dorian begrüßte ihn schüchtern vom Ende des Tisches her, und seine Wangen wurden vor geheimer Freude rot. Gegenüber saß die Herzogin von Harley, eine Dame von bewunderungswürdig guter Laune und ebensolchem Charakter, die jeder gern hatte und deren Körper in jenen erhabenen architektonischen Maßen aufgebaut war, der von zeitgenössischen Geschichtsschreibern bei Frauen, die nicht gerade Herzoginnen sind, als Beleibtheit bezeichnet wird. Zu ihrer Rechten saß Sir Thomas Burdon, ein radikales Parlamentsmitglied, das im öffentlichen Leben seinem Parteichef Gefolge leistete und im privaten den besten Küchenchefs, der nach einer weisen und allgemein verbreiteten Lebensregel mit den Tories dinierte und mit den Liberalen geistig übereinstimmte. Den Platz an ihrer Linken nahm Herr Erskine of Treadley ein, ein alter prächtiger und gebildeter Herr, der sich die schlechte Gewohnheit des Schweigens angeeignet hatte, da er, wie er einmal Lady Agatha erklärte, schon vor seinem dreißigsten Lebensjahr alles gesagt hatte, was er überhaupt zu sagen hatte. Seine Nachbarin war Frau Vandeleur, eine der ältesten Freundinnen seiner Tante, eine vollendete Heilige unter den Frauen, aber so geschmacklos verputzt, daß man bei ihrem Anblick immer an ein schlechtgebundenes Gebetbuch denken mußte. Zu seinem Glück saß an ihrer anderen Seite Lord Faudel, eine sehr intelligente Mittelmäßigkeit in den besten Jahren, der so kahl war wie der Bericht eines Ministers auf eine Interpellation im Unterhaus, und mit ihm unterhielt sie sich in jenem intensiv-ernsten Tone, der, wie Lord Henry einmal selbst geäußert hatte, der eine unverzeihliche Irrtum ist, in den alle wirklich guten Menschen verfallen, und den keiner von ihnen völlig vermeiden kann.
„Wir sprechen über den bedauernswerten Dartmoor, Henry“, rief die Herzogin, ihm vergnügt über den Tisch zunickend. „Glauben Sie, daß er wirklich die berückende junge Dame heiratet?“
„Ich glaube, Frau Herzogin, sie hat sich fest vorgenommen, um das Jawort zu bitten.“
„Wie schrecklich“, rief Lady Agatha. „Dann sollte sich wirklich jemand ins Mittel legen.“
„Ich erfahre aus einer ganz vorzüglichen Quelle, daß ihr Vater ein Kurzwarengeschäft in Amerika hat“, sagte Sir Thomas Burdon mit einem überlegenen Blicke.
„Mein Onkel hat behauptet: Schweinefleischlieferant, Sir Thomas.“
„Kurzwaren! Was sind amerikanische Kurzwaren?“ fragte die Herzogin und erhob staunend ihre großen Hände und dabei jede Silbe betonend.
„Amerikanische Romane“, antwortete Lord Henry und nahm von den Wachteln.
Die Herzogin machte ein erstauntes Gesicht.
„Geben Sie nicht acht auf ihn, meine Liebe,“ wisperte ihr Lady Agatha zu, „er meint nie im Ernst, was er sagt.“
„Als Amerika entdeckt wurde,“ sagte der radikale Abgeordnete und ließ einige langweilige Tatsachen vom Stapel. Wie alle Menschen, die bestrebt sind, ein Thema zu erschöpfen, erschöpfte er seine Zuhörer. Die Herzogin seufzte und benützte ihr Vorrecht, zu unterbrechen. – „Wollte Gott, es wäre überhaupt nicht entdeckt worden“, rief sie aus. „Unsere Töchter haben heutzutage wirklich gar keine Chance mehr. Das ist geradezu empörend!“
„Vielleicht ist Amerika überhaupt nicht entdeckt worden, wenn man's recht betrachtet“, sagte Herr Erskine. „Ich würde eher sagen, daß es nur aufgefunden worden ist.“
„Oh, ich muß aber gestehen, daß ich einige Exemplare seiner Bewohnerinnen gesehen habe,“ antwortete die Herzogin zerstreut, „ich muß zugeben, die meisten von ihnen sind ausgesprochen hübsch. Und außerdem ziehen sie sich gut an. Sie beziehen alle ihre Kleider aus Paris. Ich wollte, ich könnte mir das auch leisten.“
„Man sagt: wenn gute Amerikaner sterben, so fahren sie nach Paris“, gluckste Sir Thomas, der eine große Kiste voll abgelegter Scherze sein eigen nannte.
„In der Tat? Und wohin gehen schlechte Amerikaner, wenn sie sterben?“ fragte die Herzogin.
„Sie gehen nach Amerika“, murmelte Lord Henry.
Sir Thomas runzelte die Stirn. „Ich fürchte, Ihr Neffe hat Vorurteile gegen dieses große Land“, sagte er zu Lady Agatha. „Ich habe es ganz bereist im Eisenbahnwagen, die mir die Direktionen zur Verfügung stellten. Man ist da in diesen Dingen außerordentlich höflich. Ich versichere Ihnen, es ist eine vorzüglich bildende Reise da drüben.“
„Aber müssen wir wirklich nach Chicago schwimmen, um unsere Bildung zu vervollständigen?“ fragte Herr Erskine wehmütig. „Ich fühle mich wirklich zu solcher Reise nicht aufgelegt.“
Sir Thomas winkte mit der Hand. „Herr Erskine of Treadley besitzt die Welt auf seinen Bücherregalen. Wir Männer des praktischen Lebens lieben es, die Dinge zu sehen, nicht darüber zu lesen. Die Amerikaner sind ein außerordentlich interessantes Volk. Sie sind vollständig Vernunftmenschen. Ich glaube, das ist ihr Charaktermerkmal. Ja, Herr Erskine, ein ausschließlich von der Vernunft beherrschtes Volk. Ich versichere Ihnen, es gibt bei den Amerikanern keinerlei Unsinn.“
„Wie schrecklich!“ rief Lord Henry aus. „Ich kann rohe Gewalt vertragen, aber rohe Vernunft ist mir unerträglich. Ich finde immer, daß ihre Anwendung unbillig ist. Es heißt den Geist unterjochen.“
„Ich verstehe Sie nicht“, erwiderte Sir Thomas und wurde etwas rot.
„Ich verstehe Sie, Lord Henry“, murmelte Herr Erskine lächelnd.
„Paradoxe sind ja an und für sich recht schön und gut…“, nahm der Baronet wieder das Wort.
„War das ein Paradoxon?“ fragte Herr Erskine. „Ich habe es nicht dafür gehalten. Vielleicht war es eins. Nun, der Weg zur Wahrheit scheint mit Paradoxen gepflastert zu sein. Um die Wahrheit zu erkennen, müssen wir sie auf gespanntem Seil tanzen sehen. Wenn die Wahrheiten Akrobaten werden, können wir sie beurteilen.“
„Mein großer Gott!“ sagte Lady Agatha, „was für eine Art zu diskutieren habt ihr Männer. Ich verstehe nie ein einziges Wort von eurem Gerede. Mit dir, Harry, oh! bin ich ganz böse. Warum versuchst du, unseren lieben Herrn Dorian Gray zu überreden, nicht mehr ins East-End zu gehen? Ich versichere dir, er wäre dort für uns unschätzbar; sein Spiel würde die Leute ungemein begeistern.“
„Mir ist es lieber, wenn er für mich spielt“, rief Lord Henry lächelnd, sah am Tisch hinunter, wo ihn ein fröhlich antwortender Blick traf.
„Aber sie sind in Whitechapel so unglücklich“, fuhr Lady Agatha wieder fort.
„Ich kann mit allem möglichen Mitgefühl haben,“ sagte Lord Henry, die Achseln zuckend, „außer mit Leiden. Damit kann ich keine Sympathie haben. Es ist zu häßlich, zu schrecklich, zu niederdrückend. In der heut modernen Sympathie für die Leiden liegt etwas schrecklich Krankhaftes. Man sollte mit Farben sympathisieren, mit Schönheit, mit Lebensfreude. Je weniger man über das Elend des Lebens sagt, desto besser.“
„Aber das East-End ist ein sehr wichtiges Problem“, bemerkte Sir Thomas mit ernstem Kopfschütteln.
„Sicherlich“, antwortete der junge Lord. „Es ist das Problem der Sklaverei, und wir versuchen es derart zu lösen, daß wir die Sklaven amüsieren.“
Der Politiker sah ihn mit einem forschenden Blicke an. „Welche Änderung schlagen Sie also vor?“
Lord Henry lachte. „Ich habe gar nicht das Verlangen, in England etwas zu ändern außer dem Wetter“, entgegnete er. „Ich begnüge mich mit philosophischer Betrachtung. Da aber das neunzehnte Jahrhundert durch übermäßigen Verbrauch von Sympathie Bankrott geworden ist, möchte ich vorschlagen, daß man sich an die Wissenschaft hält, damit diese uns wieder aufrichtet. Der Vorteil der Gefühle liegt darin, daß sie uns in die Irre führen, und der Vorteil der Wissenschaft darin, daß sie sich mit Gefühlen nicht abgibt.“
„Aber auf uns liegen so ernste Verantwortlichkeiten“, warf Frau Vandeleur schüchtern ein.
„Entsetzlich schwere“, stimmte Lady Agatha ein.
Lord Henry sah zu Herrn Erskine hinüber. „Die Menschheit nimmt sich selber zu ernst. Das ist die Todsünde der Welt. Wenn die Höhlenmenschen schon hätten lachen können, hätte die Weltgeschichte andere Wege eingeschlagen.“
„Ihre Worte klingen sehr tröstlich“, trillerte die Herzogin. „Ich habe immer eine Art Schuldgefühl gehabt, wenn ich Ihre liebe Tante besuchte, denn ich nehme nicht das geringste Interesse an East-End. In Zukunft werde ich ihr ohne zu erröten ins Gesicht sehen können.“
„Erröten ist ein vorzügliches Schönheitsmittel“, bemerkte Lord Henry.
„Nur wenn man jung ist“, antwortete sie. „Wenn eine alte Frau wie ich errötet, ist es ein sehr schlechtes Zeichen. Ach, Lord Henry, ich wünschte, Sie könnten mir sagen, wie man wieder jung wird!“
Er dachte einen Augenblick nach. „Können Sie sich an irgendeinen großen Fehler erinnern, den Sie in der Jugend begangen haben?“ fragte er dann, sie fest über den Tisch hin ansehend.
„An eine ganze Menge, fürchte ich!“ rief sie aus.
„Dann begehen Sie sie wieder“, entgegnete er ernst. „Um seine Jugend zurückzubekommen, braucht man nur seine Torheiten zu wiederholen.“
„Eine allerliebste Theorie!“ rief sie. „Ich muß sie mal in die Praxis umsetzen.“
„Eine gefährliche Theorie“, sagte Sir Thomas, seine dünnen Lippen zusammenkneifend. Lady Agatha schüttelte den Kopf, aber sie amüsierte sich doch. Herr Erskine lauschte.
„Ja,“ fuhr Henry fort, „das ist eines der großen Lebensgeheimnisse. Heutzutage sterben die meisten Leute an einer Art von schleichender Verständigkeit, und erst, wenn es zu spät ist, kommen sie dahinter, daß die einzigen Dinge, die man niemals bereut, die Torheiten sind.“
Nun lachte der ganze Tisch.
Er spielte jetzt mit diesem Einfall nach Willkür; warf ihn in die Luft und änderte ihn um: ließ ihn entwischen und haschte ihn wieder auf: ließ ihn phantastisch glitzern und gab ihm Paradoxe als Flügel. Als er fortfuhr, rundete sich dieser Ruhm der Narretei in ein philosophisches System und die Philosophie selbst wurde dabei jung und tanzte, begleitet von der tollen Musik der Lust, in ihrem von Wein befleckten Gewande und mit Efeu bekränzten Locken, wie eine Bacchantin über die Hügel des Lebens und neckte den plumpen Silen, weil er nüchtern blieb. Die Tatsachen flüchteten vor ihr wie das erschreckte Getier des Waldes. Ihre weißen Füße stampften in der ungefügen Kelter, an der der weise Omar sitzt, bis der schäumende Traubensaft in purpurblasigen Wellen an ihren nackten Gliedern aufspritzte oder in rotem Gischt über die dunkeln, triefenden, gewölbten Seiten der Kufe herabrann. Es war eine ganz brillante Improvision. Er empfand, daß die Augen Dorian Grays auf ihn gerichtet waren, und das Bewußtsein, daß es unter seinen Zuhörern einen gab, dessen Temperament er zu bezaubern wünschte, gab seinem Witz Würzigkeit und seiner Phantasie Farbe. Er war geistreich, phantasievoll, unwiderstehlich. Er begeisterte seine Zuhörer dahin, aus sich heraus zu gehen, und lachend folgten sie seiner Rattenfängerpfeife. Dorian Gray verwandte seinen Blick nicht von ihm, sondern saß wie unter einem Zauberbanne da, während ein Lächeln nach dem andern auf seine Lippen trat und sich das Staunen in seinen dunklen Augen immer mehr vertiefte.
Endlich betrat die Wirklichkeit im Kleide des Alltags das Zimmer, und zwar in Gestalt eines Lakaien, der der Herzogin meldete, daß ihr Wagen warte. Sie rang ihre Hände in geschauspielerter Verzweiflung. „Wie schade!“ rief sie aus. „Ich muß fort. Muß meinen Mann im Klub abholen und mit ihm zu irgendeiner albernen Sitzung bei Willis fahren, wo er präsidiert. Wenn ich zu spät komme, ist er sicher ärgerlich, und in dem Hut, den ich aufhabe, könnte ich eine Szene nicht vertragen. Er ist viel zu gebrechlich dazu. Ein rauhes Wort und er wäre ruiniert. Nein, liebe Agatha, ich muß fort. Adieu, Lord Henry! Sie sind ein ganz entzückender Mensch und fürchterlich unmoralisch. Ich weiß wahrhaftig nicht, was ich zu Ihren Ansichten sagen soll. Sie müssen mal bei uns zu Abend essen. Dienstag? Sind Sie Dienstag frei?“
„Für Sie würde ich jede andere Verabredung im Stich lassen, Frau Herzogin“, sagte Lord Henry, sich verbeugend.
„Ah! Das ist sehr nett und sehr abscheulich von Ihnen“, rief sie; „vergessen Sie also nicht zu kommen“, und sie rauschte aus dem Zimmer, von Lady Agatha und den anderen Damen begleitet.
Als sich Lord Henry wieder gesetzt hatte, kam Herr Erskine zu ihm, zog seinen Stuhl ganz nahe zu ihm hin und legte die Hand auf seinen Arm.
„Sie reden wie ein Buch“, sagte er; „warum schreiben Sie keins?“
„Ich lese Bücher viel zu gerne, als daß ich Lust hätte, eins zu schreiben, Herr Erskine. Gewiß möchte ich manchmal einen Roman schreiben, der so entzückend und ebenso unwirklich sein müßte wie ein persischer Teppich. Aber in England gibt es ja kein literarisches Publikum außer für Zeitungen, Katechismen und Konversationslexika. Von allen Völkern des Erdballs haben die Engländer den am wenigsten entwickelten Sinn für die Schönheit der Literatur.“
„Ich fürchte, Sie haben recht“, antwortete Herr Erskine. „Ich selbst habe einstmals literarischen Ehrgeiz gehabt, aber ich habe ihn längst abgelegt. Und nun, mein lieber junger Freund, wenn Sie mir erlauben wollen, Sie so zu nennen, darf ich Sie fragen, ob Sie wirklich alles im Ernst meinten, was Sie uns bei Tisch gesagt haben?“
„Ich habe ganz vergessen, was ich gesagt habe“, antwortete Lord Henry lächelnd. „Es war wohl sehr toll?“
„Allerdings, sehr toll! Ich glaube wirklich, daß Sie ein äußerst gefährlicher Mensch sind, und wenn unserer guten Herzogin irgend etwas zustößt, so werden wir alle Sie in erster Linie dafür verantwortlich machen. Aber ich würde mit Ihnen gern einmal länger über das Leben debattieren. Die Generation, in die ich hineingeboren wurde, war sehr langweilig. Wenn Sie mal londonmüde sind, kommen Sie doch nach Treadley und setzen Sie mir da Ihre Philosophie des Genusses auseinander bei einem ganz köstlichen Burgunder, den zu besitzen ich so glücklich bin.“
„Das wird mir ein großes Vergnügen sein. Ein Besuch in Treadley ist ein großer Vorzug. Es hat einen vollkommenen Wirt und eine vollkommene Bibliothek.“
„Die mit Ihnen vollständig werden wird“, antwortete der alte Herr mit einer höflichen Verbeugung. „Und jetzt muß ich Ihrer trefflichen Tante adieu sagen. Ich muß ins Athenäum. Es ist die Stunde, wo wir dort schlafen.“
„Sie alle, Herr Erskine?“
„Vierzig von uns in vierzig Klubsesseln. Wir üben uns für eine Akademie anglaise.“
Lord Henry lachte und stand auf. „Ich gehe in den Park!“ rief er aus.
Als er durch den Türrahmen schritt, berührte ihn Dorian Gray am Arm. „Erlauben Sie mir, mitzukommen“, flüsterte er.
„Aber ich dachte, Sie haben Basil Hallward versprochen, ihn zu besuchen“, wandte Lord Henry ein.
„Ich möchte lieber mit Ihnen gehen; ja ich fühle, ich muß mit Ihnen mitkommen. Bitte, erlauben Sie es. Und versprechen Sie mir, die ganze Zeit zu erzählen? Niemand spricht so entzückend wie Sie.“
„Ah! Ich habe für heute gerade genug geredet“, sagte Lord Henry und lächelte. „Alles, was ich jetzt möchte, ist, das Leben zu beschauen. Sie können mitkommen und mitanschauen, wenn Sie wollen.“
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