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Laßt uns der schönen Tage gedenken, der Tage, da wir froh waren, da wir mit Freunden zusammen lebten, da die Sonne lachte und die Vögel nach dem Regen im Versteck sangen, der Tage, da wir im Garten umhergingen: der Sand der Wege glänzte feucht, die Beete lagen voll abgefallener Rosenblätter, die Luft war von Duft erfüllt. Warum haben wir unser Glück nicht tiefer empfunden, als es durch unsere Hände glitt? In jenen Tagen hätten wir nur daran denken sollen, es auszukosten und jede Minute langsam zu schlürfen, damit sie weniger eilig entschwinde. Es gibt Tage, die wie andere dahingegangen sind, und deren ich mich mit Entzücken erinnere. Einmal zum Beispiel – es war im Winter und sehr kalt, – kamen wir vom Spaziergang heim, und da wir nur wenige waren, durften wir uns um den Ofen setzen. Während wir unsere Regeln lernten, rösteten wir unsere Brotschnitten. Es brüllte in der Ofenröhre. Wir plauderten von tausend Dingen: von Stücken, die wir gesehen hatten, von Frauen, die wir liebten: von unserem Abgang von der Schule; davon, was wir machen würden, wenn wir groß wären, und von ähnlichem. Ein anderes Mal lag ich einen ganzen Nachmittag in einem Felde, wo kleine Maßliebchen aus dem Grase hervorsahen. Sie waren gelb, rot, – sie verschwanden im Grün der Wiese. Es war ein Teppich von unendlich mannigfaltigen Schattierungen. Am klarblauen Himmel waren kleine weiße Wolken, die wie rundliche Wogen dahintrieben; durch meine vor das Gesicht gelegten Hände schaute ich zur Sonne empor. Sie vergoldete den Rand meiner Finger und machte mein Fleisch rosig. Ich schloß die Augen, um unter meinen Lidern große, grüne, goldgefranste Flecke zu sehen. Und eines Abends, ich weiß nicht mehr wann, war ich neben einem Heuhaufen eingeschlafen. Als ich erwachte, war es Nacht, die Sterne funkelten, zuckten, die Heuschober warfen ihre Schatten, und der Mond zeigte sein schönes, silbernes Gesicht.

Wie weit liegt das alles! Lebte ich wirklich zu jener Zeit? War ich das, und bin ich jetzt? Jede Minute meines Lebens ist durch einen Abgrund von der nächsten geschieden. Zwischen gestern und heute liegt für mich eine Ewigkeit, die mich erschreckt. Jeden Tag habe ich das Gefühl, am vorhergehenden nicht so elend gewesen zu sein, ohne deshalb sagen zu können, was ich mehr besaß. Ich fühle wohl, daß ich ärmer werde, und daß die kommende Stunde mir etwas nimmt, und ich bin nur verwundert, daß in meinem Herzen noch Raum für das Leid ist. Doch das menschliche Herz ist unerschöpflich an Traurigkeit: ein- oder zweimal nur zieht das Glück darin ein, aber aller Jammer der Menschheit kann sich dort vereinigen und als Gast darin hausen.

Wenn man mich gefragt hätte, was mir fehlte, so hätte ich keine Antwort gewußt. Meine Wünsche waren gegenstandslos, meine Traurigkeit hatte keinen unmittelbaren Grund; oder vielmehr gab es so viel Veranlassungen und so viel Ursachen, daß ich keine hätte nennen können. Alle Leidenschaften zogen in mich ein und konnten nicht wieder aus dem Herzen heraus. Sie fühlten sich beengt darin. Sie setzten einander in Brand wie Hohlspiegel. Bescheiden, war ich voller Stolz. In der Einsamkeit lebend, träumte ich von Ruhm. Die Welt meidend, brannte ich darauf, mich in ihr zu zeigen und zu glänzen. Keusch, überließ ich mich bei Tag und Nacht in meinen Träumen der zügellosesten Wollust, dem wildesten Vergnügen. Das Leben, das ich in mich selbst zurücktrieb, zog mir das Herz in wildem Krampf zusammen und bedrängte mich bis zum Ersticken.

Zuweilen war ich am Ende meiner Kraft. Grenzenlose Leidenschaft verzehrte mich, ich war voll glühender Lava, die meinem heißen Herzen entströmte. Ich liebte mit wütender Liebe namenlose Dinge, sehnte mich nach prächtigen Träumen. Alle Lüste der Phantasie lockten mich, ich wünschte mir alle Poesie, alle Harmonie, und von der Last meines Herzens und meines Stolzes zermalmt, stürzte ich gebrochen in einen Abgrund von Schmerzen Das Blut fuhr peitschend über mein Gesicht, es hämmerte in meinen Adern; meine Brust wollte springen, ich sah nichts mehr, ich fühlte nichts, ich war trunken, wahnsinnig. Ich bildete mir ein, groß zu sein, eine höchste Inkarnation darzustellen, deren Offenbarung die Welt in Staunen gesetzt hätte; und inre Wehen waren das Leben des Gottes, den ich in meinem Innern trug. Diesem herrlichen Gott habe ich jede Stunde meiner Jugend geopfert. Ich hatte aus mir einen Tempel gemacht, der etwas Göttliches enthalten sollte. Der Tempel ist leer geblieben; Nesseln sind zwischen seinen Steinen emporgesprossen; die Pfeiler stürzen ein; nun bauen Eulen ihre Nester darin. Da ich das Dasein nicht nutzte, nutzte mich das Dasein ab. Meine Träume ermüdeten mich mehr als schwere Arbeit. Eine ganz regungslose, sich selbst unverständliche Welt lebte ihr dumpfes Dasein unter meinem Leben. Ich war ein schlummerndes Chaos von tausend fruchtbaren Keimen, die nicht ans Licht zu kommen wagten, noch mit sich selbst etwas anzufangen wußten. Sie wollten Formen annehmen und warteten auf ihre Gestaltung.

In der Mannigfaltigkeit meines Wesens glich ich einem unermeßlichen indischen Walde, wo das Leben in jedem Atom zuckt und sich unter jedem Sonnenstrahl ungeheuerlich oder wundervoll entwickelt. Giftige Düfte erfüllen den Azur, Tiger springen, Elefanten schreiten stolz wie lebende Pagoden einher. Die Götter, geheimnisvoll und mißgestaltet, sind in Höhlen und Grotten unter Massen von Gold verborgen. Und mitten hindurch fließt der breite Fluß, mit seinen Krokodilen, die ihre Rachen aufsperren und mit ihrem Schuppenpanzer zwischen dem Lotus der Gestade klappern; mit seinen Inseln voller Blumen, die von der Strömung zwischen Baumstämmen und grünen Leichen Pestkranker mitgerissen werden. Und doch liebte ich das Leben, aber das überschäumende, strahlende, glänzende Leben. Ich liebte es im rasenden Galopp der Renner, im Funkeln der Sterne, im Treiben der Wogen, die ans Ufer schlagen. Ich liebte es im Pulsieren schöner, nackter Brüste, im Zittern verliebter Blicke, im Vibrieren der Violinsaiten, im Erschauern der Eichen, in der sinkenden Sonne, die die Scheiben vergoldet und an die Balkons von Babylon gemahnt, auf deren Brüstung sich Königinnen stützen und Asien betrachten.

Und inmitten alles dessen verharrte ich regungslos. Zwischen so viel Tun und Lassen, das ich sah und zu dem ich sogar Antrieb war, blieb ich tatenlos, ebensowenig daran teilnehmend wie eine Statue, der ein Fliegenschwarm ins Ohr summt und über deren Marmor die Tiere laufen.

Ach, wie würde ich geliebt haben, wenn ich geliebt hätte, wenn ich alle diese auseinanderstrebenden Kräfte, die sich in mir regten, hätte zusammenfassen können! Zuweilen wollte ich um jeden Preis eine Frau finden. Ich wollte sie lieben; sie enthielt alles für mich, ich erwartete alles von ihr. Sie war meine poetische Sonne, die jede Blume zur Entfaltung bringen und alle Schönheit erblühen lassen mußte. Ich versprach mir eine göttliche Liebe, ich lieh ihr im voraus einen blendenden Strahlenkranz, und der ersten, die der Zufall mir in der Menge entgegenführte, weihte ich meine Seele, und ich schaute sie so an, daß sie mich wohl verstand, daß sie in diesem einen Blick alles lesen konnte, was ich ihr hätte sein wollen, und daß sie mich lieben konnte. Ich legte mein Geschick in die Hände des Zufalls; doch sie ging vorüber, wie die anderen, die Früheren und die Späteren, und schließlich sank ich nieder, vernichtet wie ein vom Sturm zersetztes und wasserdurchtränktes Segel.

Nach solchen Krisen tat sich das Leben wieder von neuem in dem ewigen Einerlei seiner Stunden auf, die schwinden, und seiner Tage, die wiederkehren. Ich erwartete den Abend mit Ungeduld, ich rechnete aus, wieviel Zeit mir noch bis zum Ende des Monats blieb, ich wünschte die kommende Jahreszeit herbei, ich sah ein holderes Dasein lächeln. Manchmal wollte ich mich mit Wissenschaften und Gedanken betäuben, um diesen bleischweren Mantel abzuschütteln, der auf meinen Schultern lastete; wollte arbeiten, lesen. Ich schlug ein Buch auf, dann ein zweites, dann zehn hintereinander, und ohne zwei Zeilen aus einem einzigen gelesen zu haben, warf ich sie mit Widerwillen fort und versank von neuem in den Schlummer derselben Langeweile.

Was in dieser Welt anfangen? Wovon träumen? Was beginnen? Sagt es mir doch, ihr, denen das Leben gefällt, die ihr ein Ziel habt und euch für etwas quält!

Ich fand nichts, das meiner würdig gewesen wäre, wie ich ebenso nichts fand, wozu ich mich eignete. Arbeiten, alles einer Idee opfern, einem Ehrgeiz, einem elenden trivialen Ehrgeiz? Einen Platz einnehmen und einen Namen haben? Und dann? Wozu das alles? Und schließlich liebte ich den Ruhm nicht, selbst der rauschendste hätte mich nicht befriedigt, weil er niemals meinem Herzen etwas gewesen wäre.

Ich bin geboren mit dem Wunsche nach dem Tode. Nichts schien mir dümmer als das Leben, und nichts schmachvoller, als daran zu hängen. Gleich den Menschen meiner Zeit bin ich ohne Religion aufgewachsen und kannte weder das dürre Glück der Atheisten noch die sorglose Ironie der Skeptiker. Ich bin zuweilen, ohne Zweifel aus Laune, in eine Kirche eingetreten, um die Orgel zu hören und die kleinen steinernen Statuen in ihren Nischen zu betrachten. Bis zum Dogma drang ich nicht vor; ich fühlte mich ganz als Nachkomme Voltaires.

Ich sah die anderen Menschen leben, doch ein anderes Leben als das meinige. Diese glaubten, jene leugneten, andere zweifelten, noch andere wollten von alledem nichts wissen und gingen ihren Geschäften nach, das heißt, sie verkauften in ihren Läden, schrieben Bücher oder schrien von ihrem Lehrstuhl herab. Das war nun die sogenannte Menschheit, ein ruheloser Anblick von Schurken, Feiglingen, Idioten und Häßlichen. Und ich war in der Menge, wie eine losgerissene Alge im Ozean, zwischen zahllosen Wogen, die rollten, mich umdrängten und umbrausten.

Ich hätte Kaiser sein mögen wegen der absoluten Gewalt, wegen der Menge der Sklaven, wegen der vor Begeisterung zitternden Armeen. Ich hätte Weib sein mögen um der Schönheit willen, um mich selbst zu bewundern, mich in meiner Nacktheit zu sehen, mein Haar bis auf die Füße herabfallen zu lassen und mein Spiegelbild im Strom zu betrachten. Ich verlor mich nach Herzenslust in endlose Träumereien, ich wohnte in der Phantasie herrlichen, antiken Festen bei, war indischer König und ritt auf einem weißen Elefanten zur Jagd, sah jonische Tänze, vernahm auf den Stufen eines Tempels den Wellenschlag des griechischen Meeres, hörte die Nachtwinde in den Oleanderbüschen meiner Gärten, floh mit Kleopatra auf meiner antiken Galeere. Ach, wie töricht war das alles! Fluch der Ährenleserin, die ihr Tagewerk liegen läßt und den Kopf hebt, um die Kutschen auf der Landstraße vorbeifahren zu sehen! Wenn sie sich wieder an die Arbeit macht, wird sie von Kaschmirschals und der Liebe eines Prinzen träumen: sie wird keine Ähre mehr finden und ohne Garbe heimkommen.

Besser wäre gewesen, es wie alle Welt zu machen: das Leben weder zu ernst noch zu grotesk zu nehmen, einen Beruf zu wählen und auszuüben, seinen Teil vom allgemeinen Kucken zu empfangen und ihn zu verzehren in dem Glauben, daß er gut sei; besser, als den traurigen Weg zu verfolgen, den ich ganz allein zurückgelegt habe. Dann würde ich nicht hier sitzen und dies schreiben, oder es wäre eine andere Geschichte geworden. Je weiter ich komme, desto mehr verschwimmt sie für mich, wie die Fernsichten, die man aus zu großer Weite sieht. Denn alles vergeht, auch die Erinnerung an unsere heißesten Tränen, an unser fröhlichstes Lachen. Das Auge trocknet schnell, und der Mund legt sich wieder in seine alten Falten. Heute erinnere ich mich aus jener Zeit nur noch eines langen Ekels, der mehrere Winter gedauert hat, Winter, die ich mit Gähnen verbracht habe und dem Wunsche, mein Leben sei zu Ende.

Vielleicht hat dies alles mich glauben gemacht, ich sei ein Dichter; kein Leiden hat mich verschont, wie ihr seht! Ja, es schien mir früher, als hätte ich Genie. Ich ging, den Kopf voll prächtiger Gedanken; der Stil floß aus meiner Feder, wie das Blut durch meine Adern. Bei der leisesten Berührung mit dem Schönen stieg eine reine Melodie in mir auf, gleich den Stimmen der Luft, jenen Tönen, die der Wind bildet und die aus den Bergen kommen. Die menschlichen Leidenschaften würden wunderbar erklungen sein, wenn ich sie berührt hätte. Ich trug fertige Dramen in mir herum, die voll von wilden Szenen und ungekannten Schrecken waren. Vom Kinde in der Wiege bis zum Toten im Sarge tönte die Menschheit mit all ihrem Widerhall in mir. Zuweilen durchzuckten riesenhafte Gedanken plötzlich meinen Geist, wie jene großen stummen Blitze zur Sommerzeit, die eine ganze Stadt bis in alle Einzelheiten ihrer Gebäude, Straßen und Winkel erleuchten. Ich war erschüttert, geblendet; doch wenn ich bei andern dieselben Gedanken, sogar ihrer Form nach, wiederfand, die mir aufgestiegen waren, verfiel ich plötzlich in eine abgrundlose Entmutigung. Ich hatte mich für ihresgleichen gehalten, und war nur ihr Nachahmer gewesen! Vom Rausch des Genies stürzte ich wieder in das trostlose Gefühl der Mittelmäßigkeit, mit der ganzen Wut entthronter Könige und den Qualen der Schmach. An gewissen Tagen hätte ich geschworen, für die Poesie geboren zu sein. Zu anderen Zeiten erschien ich mir fast dumm. Und während ich so immer von der Höhe in die Tiefe herabstürzte, war und blieb ich schließlich elend wie die Leute, die bald reich, bald arm im Leben sind.

In jenen Zeiten war es mir jeden Morgen beim Erwachen, als müsse an diesem Tage irgendein bedeutsames Ereignis eintreten. Mein Herz war von Hoffnung geschwellt, als erwartete ich eine Ladung Glück aus fernen Landen. Doch wenn der Tag vorrückte, verlor ich allen Mut; besonders in der Dämmerung empfand ich deutlich, daß nichts kommen würde. Endlich brach die Nacht an, und ich legte mich schlafen.

Zwischen der Natur und mir stellte sich eine traurige Gleichgestimmtheit ein. Wie zog sich mein Herz zusammen, wenn der Wind durch die Schlüssellöcher pfiff, wenn die Laternen ihren Schein über den Schnee warfen und wenn ich die Hunde den Mond anbellen hörte!

Ich sah nichts, woran ich mich hätte halten können, weder Welt noch Einsamkeit, weder Poesie noch Wissenschaft, weder Gottlosigkeit noch Glaube. Ich irrte dazwischen umher wie die Seelen, von denen die Hölle nichts wissen will und die das Paradies zurückstößt. Da kreuzte ich die Arme und betrachtete mich als tot; ich war nur noch eine in meinem Schmerz einbalsamierte Mumie. Das Verhängnis, das seit meiner Kindheit auf mir gelastet hatte, schien sich mir über die ganze Welt zu breiten. Ich sah es in allen menschlichen Handlungen, ebenso weit reichend wie das Sonnenlicht auf dem Antlitz der Erde. Es wurde mir zu einer grausen Gottheit, die ich anbetete, wie die Inder den wandelnden Koloß anbeten, der über ihre Leiber zieht. Ich gefiel mir in meinem Kummer, ich tat nichts mehr, ihm zu entgehen. Ja, ich kostete ihn voll aus mit der verzweifelten Freude eines Kranken, der an seiner Wunde kratzt und lacht, wenn er Blut an den Nägeln sieht.

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