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Die Reife des Herzens geht der des Körpers voraus. Noch lag mir Empfinden näher als Genießen, mein Sinn stand mehr nach Liebe als nach Wollust. Heute vermag ich mir die Liebe des ersten Jünglingsalters nicht einmal mehr vorzustellen. Die Sinne spielen in ihr keine Rolle, und das Unendliche allein gibt ihr den Inhalt: als ein Übergang zwischen Kindheit und Jugend liegend, entschwindet sie so schnell, daß man sie vergißt.

Bei den Dichtern hatte ich so viel von Liebe gelesen und mir das Wort so oft wiederholt, um mich an seinem süßem Klang zu berauschen, daß ich bei jedem Stern, der in milder Nacht am blauen Himmel glänzte, bei jedem Wellenmurmeln am Ufer, bei jedem Sonnenstrahl im Tautropfen sagte: »Ich liebe, ach, ich liebe!« Und das machte mich glücklich und stolz. Ich war bereit zu den höchsten Opfern, und besonders, wenn eine Frau mich im Vorübergehen streifte oder mir ins Gesicht sah, hätte ich sie noch tausendmal mehr lieben, noch mehr für sie erdulden mögen und gewünscht, daß mein bißchen Herzklopfen mir die Brust sprengte.

Erinnere dich, Leser, der Lebenszeit, wo man unbestimmt lächelt, als ob die Luft voller Küsse wäre: das Herz ist ganz geschwellt von duftendem Hauch, das Blut pulst heiß in den Adern, es wallt wie schäumender Wein in einer Schale von Kristall. Beim Erwachen ist man glücklicher und reicher, als man am Abend vorher war, zitternder von Leben und Erregung. Süße Ströme steigen und fallen und durchtränken uns himmlisch mit berauschender Wärme. Sanft neigen die Bäume ihre Wipfel unter dem Winde, die Blätter erschauern aneinander, als wenn sie flüsterten, Wolken ziehen und geben den Himmel frei, von dem der Mond herablächelt und sein Spiegelbild in den Fluß wirft. Wenn man auf abendlichem Spaziergange den Duft des frischen Heues einatmet, den Kuckuck in den Wäldern hört und die Sternschnuppen fallen sieht, dann ist gewiß das Herz reiner, von Luft, Licht und Azur tiefer durchtränkt als der friedliche Horizont, wo Erde und Himmel sich in sanftem Kusse zu vermählen scheinen. Ach, wie das Haar der Frauen duftet! Wie zart die Haut ihrer Hände ist, wie ihre Blicke ins Herz dringen!

Doch schon war es nicht mehr der erste blendende Glanz der Kindheit, waren es nicht mehr die aufregenden Erinnerungen der vergangenen Nacht; ich trat im Gegenteil in das wirkliche Leben ein, wo ich meinen Platz hatte, in eine weite Harmonie, wo mein Herz einen Hymnus sang und in prächtiger Schwingung vibrierte. Ich genoß voll Wonne dieses entzückende Erblühen, und das Erwachen meiner Sinne hob meinen Stolz. Wie der erste Mensch der Schöpfung hob ich mich von langem Schlummer, und an meiner Seite sah ich ein mir ähnliches, doch abweichend gestaltetes Wesen. Das rief zwischen uns eine taumelerregende Anziehung hervor, und zugleich hatte ich für diese neue Gestalt ein neues Gefühl, das mich stolz machte, während die Sonne heller schien, die Bäume süßer als je dufteten und die Schatten wohliger und lockender waren.

Zu gleicher Zeit fühlte ich täglich die Entwicklung meines Geistes fortschreiten. Sie hielt mit der meines Herzens gleichen stand. Ich weiß nicht, ob meine Gedanken Gefühle waren, doch hatten sie alle die Glut einer Leidenschaft. Die innere Freude, die ich in der Tiefe meines Wesens spürte, strömte auf meine Mitmenschen über und hüllte sie für mich in den Glanz der Überfülle meines Glücks. Bald rührte ich an die Erkenntnis höchster Wonnen, und wie ein Mann an der Tür seiner Geliebten, verweilte ich absichtlich lange, voller Sehnsucht, um eine zuversichtlich winkende Hoffnung zu genießen und mir zu sagen: »Gleich werde ich sie in meinen Armen halten, sie wird mein sein, ganz mein, es ist kein Traum!«

Sonderbarer Widerspruch! Ich floh die Gesellschaft der Frauen, und ich empfand ein zauberhaftes Vergnügen in ihrer Nähe. Ich tat, als ob ich mir nichts aus ihnen machte, während ich in allen lebte und das Wesen einer jeden in mich hätte aufnehmen mögen, um mich mit ihrer Schönheit zu vereinigen. Schon ihre Lippen luden mich zu anderen Küssen als denen einer Mutter. In Gedanken hüllte ich mich in ihr Haar, lag zwischen ihren Brüsten, um in göttlichem Ersticken zu vergehen. Ich hätte das Halsband sein mögen, das ihren Hals umschlang, die Agraffe, die nach ihrer Schulter züngelte, das Gewand, das ihren Körper verhüllte. Auf den Kleidern sah ich nichts mehr, darunter aber lag eine Unendlichkeit von Liebe – ich verlor mich in Gedanken daran.

Diese Leidenschaften, die ich mir ersehnte, studierte ich in Büchern. Das Leben bewegte sich für mich um zwei, drei Gedanken, um zwei, drei Worte, um die sich alles übrige drehte, wie Planeten um ihren Fixstern. So hatte ich meine Welt mit einer Anzahl goldener Sonnen bevölkert. In meinem Kopfe drängten sich die Liebesgeschichten neben die schönen Revolutionen, die schönen Leidenschaften stellten sich den großen Verbrechen gegenüber. Ich träumte zugleich von den sternenhellen Nächten der heißen Länder und von dem Feuerschein brennender Städte, von den Lianen der Urwälder und dem Pomp vergangener Kaiserreiche, von Gräbern und von Wiegen. Gemurmel der Wogen im Binsengestrüpp, Girren von Turteltauben im Schlage, Myrtenwälder und Duft der Aloe, Klirren von Schwertern auf Rüstungen, stampfende Rosse, leuchtendes Gold, glitzerndes Leben, Todesröcheln Verzweifelter, – alles sah ich mit denselben weitaufgerissenen Augen an, wie einen Ameisenhaufen, der sich zu meinen Füßen regte. Doch von diesem äußerlich reichbewegten Leben, das von so mannigfaltigen Stimmen widerhallte, drang ein ungeheuerer Schmerz empor als seine Synthese und seine Ironie.

An Winterabenden blieb ich vor den erleuchteten Häusern stehen, in denen getanzt wurde, und hinter roten Vorhängen sah ich Schatten vorüberschweben. Ich hörte die Musik des Luxus: Gläser klirrten auf Servierbrettern, Silberzeug klapperte in den Schüsseln, und ich sagte mir, daß es nur von mir abhing, an diesem Feste teilzunehmen, zu dem man sich drängte, an diesem Bankett, wo alle schmausten. Ein ungeselliger Stolz hielt mich fern davon; denn ich fand, daß meine Einsamkeit mich gut kleidete und daß mein Herz reicher war, wenn es alles, was die Freude der Menschen ausmacht, mied. Ich setzte meinen Weg durch die verlassenen Straßen fort, wo die Laternen sich traurig beim Knirschen ihrer Rollen, schaukelten.

Ich erlebte träumend die Schmerzen der Dichter, ich weinte mit ihnen ihre schönsten Tränen. Sie kamen mir vom Grunde meines Herzens; ich war ergriffen, zerrissen. Zuweilen schien es mir, als mache mich die Begeisterung, die sie mir mitteilten, zu ihresgleichen, und als hebe sie mich an ihre Seite. Stellen, die andere kaltließen, berauschten mich und versetzten mich in seherische Raserei. Es war ein wonniges Wüten im Geist. Ich rezitierte sie laut am Meeresufer, oder ich ging gesenkten Hauptes über die Wiesen und sprach sie mit der verliebtesten und zartesten Stimme vor mich hin.

Unglücklich der Mensch, der sich nie einen tragischen Zorn gewünscht hat, der keine Liebeslieder auswendig weiß, um sie im Mondenlicht herzusagen! Wundervoll ist solch ein Leben in ewiger Schönheit, wenn man den Faltenwurf der Könige annimmt, Leidenschaft in ihrer höchsten Steigerung empfindet und die unsterblichen Gestalten des Genius liebt.

Von nun an lebte ich nur noch in schrankenlosen Idealen. Frei und nach Herzenslust umherschwärmend wie die Biene, sammelte ich überall zu meiner Nahrung und meinem Leben. Im Raunen der Wälder und der Fluten klangen mir Stimmen, für die andere taub waren, und weit öffnete ich mein Ohr, um die Offenbarungen ihrer Harmonie zu vernehmen. Wolken und Sonne wurden mir zu gewaltigen Bildern, die keine Sprache malen kann, und ebenso bemerkte ich plötzlich in den menschlichen Handlungen Beziehungen und Gegensätze, deren lichtvolle Klarheit mich blendete. Zuweilen schienen Kunst und Poesie ihre grenzenlosen Weiten zu öffnen und einander mit ihrem Glänze zu bestrahlen. Ich baute Paläste aus rotfunkelndem Kupfer, ich stieg ewig auf einer Treppe von daunenweichen Wolken in einen Himmel voll Glanz.

Der Adler ist ein stolzer Vogel, der auf den höchsten Felsengipfeln wohnt; in den Tälern, tief unter sich, sieht er die Wolken wogen; sie führen die Schwalben mit. Er sieht den Regen auf die Tannen fallen, die Marmelsteine im Gießbach rollen; er sieht den Hirten, der seinen Ziegen pfeift, und die Gemsen, die über Abgründe springen. Mag der Regen fließen, der Sturm Bäume knicken, mögen Bergströme schluchzend herabbrausen, mag der Wasserfall rauchen und spritzen, der Donner toben und Berggipfel losreißen: ruhig schwebt er darüber und regt sorglos die Flügel; das Tosen der Berge behagt ihm, er stößt Freudenschreie aus, kämpft mit den dahinjagenden Wolken und steigt höher in den ungeheuren Himmelsraum.

Auch mich belustigte das Toben der Unwetter und das undeutliche Summen der Menschen, das bis zu mir empordrang; ich lebte in Höhen, wo mein Sinn sich mit reiner Luft tränkte, wo ich Laute des Triumphes ausstieß, um die Unlust meiner Einsamkeit zu bannen.

Schnell kam mir ein unüberwindlicher Widerwille gegen alles Irdische. Eines Morgens fühlte ich mich alt und voll Erfahrungen über tausend unerprobte Dinge. Ich war gleichgültig gegen die verlockendsten und voll Mißachtung für die schönsten. Für alles, was der anderen Lust ausmachte, hatte ich nur Mitleid, und ich sah nichts, was auch nur der Mühe eines Wunsches lohnte. Vielleicht war meine Eitelkeit der Grund, daß ich über die gewöhnliche Eitelkeit erhaben war, und meine Indifferenz war nur das Übermaß einer grenzenlosen Begierde. Ich glich jenen neuen Bauten, auf denen sich schon Moos bildet, ehe sie fertig sind. Die lauten Vergnügungen meiner Kameraden langweilten mich, ich zuckte die Achseln, wenn ich ihre sentimentalen Albernheiten sah. Einige hoben ein Jahr lang einen alten weißen Handschuh oder eine vertrocknete Kamelie auf, um ihre Küsse und Seufzer daran zu hängen. Andere schrieben an Modistinnen oder trafen sich mit Köchinnen. Die einen erschienen mir dumm, die anderen grotesk. Und dann langweilte mich die gute Gesellschaft ebensosehr wie die schlechte. Den Frommen gegenüber gab ich mich zynisch und den Freigeistern mystisch, so daß mich niemand liebte.

Zu jener Zeit war ich noch unschuldig und fand Freude daran, die Prostituierten zu betrachten. Ich ging durch die Straßen, die sie bewohnen, ich schwärmte um die Orte, an denen sie promenieren. Zuweilen redete ich sie an, um mich selbst in Versuchung zu bringen, folgte ihnen, berührte sie, trat in ihren Dunstkreis. Da ich frech war, glaubte ich kalt zu sein. Ich fühlte im Herzen eine Leere, doch diese Leere war ein Abgrund.

Ich liebte es, mich im Strudel des Straßenlebens zu verlieren. Zuweilen verfiel ich auf dumme Zerstreuungen, wie etwa jeden Vorübergehenden starr anzublicken, um auf seinem Gesicht Laster oder hervorstechende Leidenschaften zu lesen. Alle die Köpfe glitten eilig an mir vorüber: die einen lächelten oder pfiffen im Weitergehen, während der Wind ihr Haar zauste; andere waren blaß, andere wieder rot, noch andere erdfahl; sie zogen schnell an mir vorüber, sie glitten einer nach dem andern vorbei, wie Aushängeschilder, an denen man im Wagen vorüberfährt. Oder ich betrachtete auch nur die Füße, die in allen Richtungen dahineilten, und ich versuchte, jedem Fuße einen Körper, dem Körper einen Gedanken, allen Bewegungen ein Ziel zu geben. Und ich fragte mich, wohin alle diese Schritte steuerten, und warum alle diese Leute gingen. Ich sah die Equipagen in die hallenden Säulengänge einbiegen und den schweren Wagentritt mit Krachen aufgehen. Die Menge drängte sich in die Eingänge der Theater. Ich sah Lichter durch den Nebel glänzen, und darüber stand der schwarze, sternenlose Himmel. An einer Straßenecke spielte ein Orgeldreher, Kinder in Lumpen sangen, ein Obsthändler schob seinen Karren, den eine rote Laterne beleuchtete. Man lärmte in den Cafés, die Spiegel glänzten im Scheine der Gasflammen, die Messer klangen auf den Marmortischen, am Eingange reckten sich die Armen, vor Kälte zitternd, um die Reichen tafeln zu sehen. Ich mischte mich unter sie, und mit denselben Blicken betrachtete ich die Glücklichen des Lebens. Ich beneidete sie um ihre banale Lust; denn es gibt Tage, wo man so traurig ist, daß man sich noch trauriger machen möchte. Dann ist die Verzweiflung wie ein bequemer Weg, den man mit Wonne wählt. Das Herz ist von Tränen geschwollen, und man regt sich selbst zum Weinen an. Oft habe ich mir gewünscht, elend zu sein und Lumpen zu tragen, von Hunger gepeinigt zu werden, eine Wunde bluten zu fühlen, zu hassen und auf Rache zu sinnen.

Woher kommt doch dieser ruhelose Schmerz, auf den man stolz ist wie auf eine geniale Begabung, und den man verbirgt wie eine Liebe? Zu niemand spricht man davon, man behält ihn ganz für sich, man drückt ihn an die Brust unter tränenvollen Küssen. Doch wo liegt der Grund zu Klagen? Und was macht uns so düster, in den Jahren, wo alles lächelt? Hast du nicht treue Freunde? Eine Familie, deren Stolz du bist, Lackstiefel, einen wattierten Überzieher? Poetische Litaneien, Erinnerungen aus schlechter Lektüre, rhetorische Übertreibungen sind alle diese großen Schmerzen ohne Namen. Doch ist nicht vielleicht auch das Glück eine Metapher, die an einem Tage der Langeweile geprägt wurde? Lange habe ich daran gezweifelt. Heute zweifle ich nicht mehr.

Ich habe nicht geliebt, und hätte so viel Liebe empfinden mögen! Ich werde sterben, ohne einen wirklichen Genuß gekannt zu haben. Noch jetzt bietet mir das Leben tausend Gesichte, die ich kaum erschaut habe. Niemals habe ich an sprudelnder Quelle auf abgehetztem Pferde den Klang des Hifthorns in der Tiefe der Wälder gehört. Niemals habe ich auch in linder Nacht unter duftenden Rosen eine liebende Hand in der meinigen 33 beben gefühlt oder ihren stummen Druck gespürt. Ach, ich bin leerer, hohler, trauriger als ein eingeschlagenes Faß, das man ganz ausgetrunken hat und in dessen dunklem Innern die Spinnen ihre Netze weben.

Es war nicht Renés Kummer noch die göttliche Unermeßlichkeit seines Weltschmerzes, der schöner ist und silbriger als die Strahlen des Mondes. Ich war nicht keusch wie Werther, noch ein Wüstling wie Don Juan; mein Gefühl war dazu weder genügend rein noch genügend stark.

Ich war also, wie ihr alle, irgendein Mensch, der lebt, schläft, ißt, trinkt, der weint und lacht, der in seiner Verschlossenheit überall, wohin er kommt, dieselben vernichteten Hoffnungen in seiner Seele mitbringt, die, kaum erblüht, schon abfallen, denselben Trümmerschutt, dieselben tausendmal zurückgelegten Pfade, dieselben unerforschten, schrecklichen, langweiligen Tiefen. Seid ihr es nicht leid gleich mir, jeden Morgen zu erwachen und die Sonne wieder zu sehen? Leid, dasselbe Leben zu führen, denselben Schmerz zu erdulden? Leid, zu wünschen und leid, enttäuscht zu werden? Leid, zu warten und leid, zu besitzen?

Wozu dies schreiben? Wozu mit derselben klagenden Stimme dieselbe traurige Erzählung fortführen? Als ich begann, da hielt ich sie für schön, aber während ich fortfahre, fallen mir Tränen auf mein Herz und ersticken seine Stimme.

Ach, die bleiche Wintersonne! Sie ist traurig wie eine glückliche Erinnerung. Wir sitzen im Finstern, schauen zu, wie unser Feuer brennt. Über die ausgebreiteten Kohlen laufen kreuzweise große, schwarze Linien, die zu zucken scheinen wie die lebenerfüllten Adern eines anderen Daseins; wir erwarten die Nacht.

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