Читать бесплатно книгу «Soll und Haben, Bd. 1 (2)» Gustav Freytag полностью онлайн — MyBook

VII

Anton stand unter der gemeinsamen Oberhoheit der Herren Jordan und Pix und entdeckte bald, daß er die Ehre hatte, kleiner Vasall eines großen Staatskörpers zu sein. Was die unerfahrene Außenwelt höchst oberflächlich unter dem Namen Commis zusammenfaßt, das waren für ihn, den Eingeweihten, sehr verschiedene, zum Theil Ehrfurcht gebietende Aemter und Würden. Der Buchhalter, Herr Liebold, thronte als geheimer Minister des Hauses an einem Fenster des zweiten Comtoirs in einsamer Majestät und geheimnißvoller Thätigkeit. Unaufhörlich schrieb er Zahlen in ein ungeheures Buch, und sah nur selten von seinen Ziffern auf, wenn sich ein Sperling auf die Gitterstäbe des Fensters setzte, oder wenn ein Sonnenstrahl die eine Fensterecke mit gelbem Glanze überzog. Herr Liebold wußte, daß der Sonnenstrahl nach den alterthümlichen Gesetzen des Universums in keiner Jahreszeit weiter dringen durfte, als bis zur Spitze des Fensterbrets, aber er konnte sich doch nicht enthalten, ihm plötzliche Ueberfälle auf das Hauptbuch zuzutrauen, und beobachtete ihn deßhalb mit argwöhnischen Blicken.

Mit der Ruhe seiner Ecke contrastirte die ewige Rührigkeit in der entgegengesetzten. Dort waltete in besonderem Verschlage der zweite Würdenträger, der Cassirer Purzel, umgeben von eisernen Geldkasten, schweren Geldschränken und einem großen Tisch mit einer Steinplatte. Auf diesem Tisch klangen die Thaler, klirrte das goldene Blech der Ducaten, flatterte geräuschlos das graue Papiergeld vom Morgen bis zum Abend. Wer die Pünktlichkeit als allegorische Figur in Oel malen wollte, der mußte ohne Widerrede Herrn Purzel abmalen und durfte höchstens das antike Costüm dadurch andeuten, daß er mit künstlerischer Licenz Herrn Purzel die Strümpfe über die Stiefeln und das weiße Oberhemd über den Comtoirrock herüber malte. Alles hatte in der Seele des Herrn Purzel eine eisenfeste unveränderliche Stellung, unser Herrgott, die Firma, der große Geldkasten, der Wachsstock, das Petschaft. Jeden Morgen, wenn der Cassirer in seinen Verschlag getreten war, begann er seine Amtsthätigkeit damit, daß er die Kreide ergriff und einen weißen Punkt auf den Tisch malte, um der Kreide selbst die Stelle zu bezeichnen, wo sie sich den Tag über aufzuhalten hatte. Er stand nicht allein in seiner wichtigen Amtsthätigkeit. Ein alter Hausdiener war seine Ordonnanz, die als Ausläufer mit Geldsäcken und Papiergeld den Tag über nach allen Richtungen der Stadt trabte. Es ist wahr, daß die Ordonnanz an der Eigenthümlichkeit litt, gegen Abend sehr feurig auszusehen und in einer persönlichen Abhängigkeit von starkem Getränk zu stehen. Aber diese Eigenschaft vermochte nicht ihre Treue und Besonnenheit zu erschüttern, ja sie schärfte die Erfindungskraft der Ordonnanz, denn nie hat eines Menschen Gewand so viele geheime Taschen mit Knöpfen und Schnallen gehabt, als der Rock des Ausläufers, und nach jedem Glase, das er getrunken, steckte er die Banknoten in einen noch geheimeren Verschluß.

In dem vordern Comtoir war Herr Jordan die erste Person, der Generalstatthalter seiner kaiserlichen Firma. Er war der Aristo der Correspondenten, erster Commis des Hauses, hatte die Procura und wurde von dem Prinzipal zuweilen um seine Ansicht befragt. Er blieb für Anton, was er ihm schon am ersten Tage gewesen war, ein treuer Rathgeber, ein Muster von Thätigkeit, der gesunde Menschenverstand in Person.

Von den Correspondenten des Comtoirs, welche unter Anführung des Herrn Jordan Briefe schrieben und Bücher führten, war für Anton neben Herrn Specht, dem Sanguiniker, am interessantesten Herr Baumann, der künftige Apostel der Heiden. Der Missionär war nicht nur ein Heiliger, sondern auch ein sehr guter Rechner. Er war untrüglich in allen Reductionen von Maß und Gewicht, warf die Preise der Waaren aus und besorgte die Calculatur des Geschäftes. Er wußte mit Bestimmtheit anzugeben, nach welchem Münzfuß die Mohrenfürsten an der Goldküste rechneten, und wie hoch der Curs eines preußischen Thalers auf den Sandwichinseln war. Herr Baumann war Antons Stubennachbar und fühlte sich durch die gute Art unseres Helden so angezogen, daß er ihm in kurzer Zeit seine Neigung zuwandte und in den Abendstunden zuweilen seinen Besuch gönnte. Den Uebrigen stand er fern und ertrug mit christlicher Geduld ihre Spöttereien über seine Pläne.

Auch außerhalb des Hauses hatte die Firma noch einige Würdenträger. Da war Herr Birnbaum, der Zollcommis, welcher nur selten im Comtoir sichtbar wurde und nur des Sonntags am Tische des Prinzipals erschien, ein exacter Mann, der draußen auf dem Packhof herrschte. Er hatte die Zoll-Procura für die Geschäfte nach dem Auslande, das gewichtige Recht, den Namen T. O. Schröter unter die Begleitscheine des Hauses zu setzen. Wenn einer von den Herren der Handlung den Namen eines Beamten verdiente, so war es dieser Herr, er trug auch seinen Rock stets zugeknöpft, wie seine Freunde die Steuerofficianten. Ferner war da der Magazinier des Geschäftes, der die Controlle über die verschiedenen Magazine in der Stadt hatte, die Assecuranzen besorgte und auf dem Markte die großen Einkäufe in Landesproducten machte. Herr Balbus war durchaus kein feiner Mann, er war von Haus aus sehr arm, und seine Schulbildung war mangelhaft, aber der Prinzipal behandelte ihn mit großer Achtung. Anton erfuhr, daß er seine Mutter und eine kranke Schwester durch seinen Gehalt erhielt.

Aber die größte Thätigkeit unter Allen, eine kriegerische, wahrhaft absolute Feldherrnthätigkeit entwickelte Herr Pix, erster Disponent des Provinzialgeschäfts. An der Thür des vordern Comtoirs begann seine Herrschaft und erstreckte sich durch das ganze Haus, bis weit hinaus auf die Straße. Er war der Gott aller Kleinkrämer aus der Provinz, die ihre laufenden Rechnungen hatten, galt bei ihnen für den Chef des Hauses und erwies ihnen dafür die Ehre, sich um ihre Frauen und Kinder zu bekümmern. Er hatte die ganze Spedition der Handlung unter sich, regierte ein halbes Dutzend Hausknechte und eben so viele Auflader, schalt die Fuhrleute, kannte und wußte Alles, war immer auf dem Platz und verstand es, in demselben Augenblick einer Krämersfrau zur Entbindung ihrer Tochter zu gratuliren, einen Bettler gröblich anzufahren, einem Hausknecht Ordre zu geben und das Zünglein an der großen Waage zu beobachten. Wie alle hohen Herren, konnte auch er keinen Widerspruch vertragen und verfocht seine Ansicht selbst gegen den Prinzipal mit einer Hartnäckigkeit, welche unserm Anton einige Male Entsetzen erregte. Außerdem besaß Herr Pix als Geschäftsmann zwei Eigenschaften von wahrhaft wissenschaftlicher Bedeutung: er konnte von jedem Häufchen Kaffebohnen angeben, in welchem Lande dasselbe gewachsen war, und vermochte leere Räume im Hause und dessen Umgegend eben so wenig zu vertragen, wie die Luft und die Philosophie einen leeren Raum vertragen wollen. Wo ein Winkel, eine kleine Kammer, ein Treppenverschlag, ein Kellerloch aufzuspüren war, da siedelte sich Herr Pix mit Tonnen, Leiterbäumen, Stricken und allen erdenklichen Stoffen an, und wo er und seine Bande, die Riesen, sich einmal festgesetzt hatten, vermochte sie keine Gewalt der Erde zu vertreiben, selbst der Prinzipal nicht.

»Wo ist Wohlfart?« rief Herr Schröter aus der Thür des vordern Comtoirs in den Hausflur.

»Auf dem Boden,« antwortete Herr Pix kaltblütig.

»Was thut er dort?« frug der Prinzipal verwundert. – In demselben Augenblick hörte man oben im Hause lebhafte Stimmen, und Anton polterte die Treppe herunter, gefolgt von einem Hausknecht, beide beladen mit Cigarrenkisten, hinter ihnen die Tante, ein wenig erhitzt und sehr ärgerlich.

»Sie wollen uns oben nicht leiden,« sagte Anton eifrig zu Herrn Pix.

»Jetzt kommen sie uns schon auf den Wäschboden,« sagte die Tante eben so eifrig zum Prinzipal.

»Die Cigarren dürfen hier unten nicht stehn bleiben,« erklärte Herr Pix dem Prinzipal und der Tante.

»Unter den Wäschleinen dulde ich keine Cigarren!« rief die Tante; »kein Ort im Hause ist mehr sicher vor Herrn Pix. Auch in die Kammern der Dienstmädchen hat er Cigarren räumen lassen; die Mädchen klagen, daß sie es vor Tabakgeruch nicht mehr aushalten.«

»Es ist trocken dort oben,« sagte Herr Pix zum Prinzipal.

»Können Sie die Cigarren nicht irgend anderswo unterbringen?« frug der Prinzipal Herrn Pix rücksichtsvoll.

»Es ist unmöglich,« antwortete Herr Pix bestimmt.

»Haben Sie den ganzen Bodenraum zur Wäsche nöthig, liebe Tante?« frug der Prinzipal die Dame.

»Ich glaube, die Hälfte wäre genug,« warf Herr Pix dazwischen.

»Ich hoffe, Sie werden sich mit einer Ecke begnügen,« entschied der Prinzipal lächelnd. »Lassen Sie sogleich den Tischler einen Verschlag machen.«

»Wenn Herr Pix erst einmal auf dem Boden ist, so wird er unsere Wäsche ganz verdrängen,« klagte die erfahrene Tante.

»Es soll die letzte Bewilligung sein, die wir ihm machen,« beruhigte sie der Prinzipal.

Herr Pix lachte still, wie die Tante später behauptete, mit einem rebellischen Grinsen, und gab unserm Helden, sobald sich die beiden Autoritäten entfernt hatten, sofort den Befehl, mit den Kisten wieder hinauf zu ziehen.

Am größten aber war Herr Pix, so oft seine Vertrauten, die reisenden Commis des Geschäftes, auf kurze Zeit in die Handlung zurückkehrten. Dann setzte sich das Provinzialgeschäft im Hinterhause zusammen und verarbeitete die Neuigkeiten des Landes. Dann entfaltete Herr Pix seine genaue Bekanntschaft mit allen Geschäftsleuten der Provinz, mit ihren Vermögensverhältnissen und ihrer Gemüthsart und verfügte in kurzen, aber gewichtigen Worten, wie viel an Vertrauen und Credit den kleinen Handlungen zu schenken sei. Dann wurde Punsch getrunken und Solo gespielt, welches Spiel seines monarchischen Charakters wegen von Herrn Pix am meisten geschätzt wurde, doch behandelte er auch hier alle Compagniegeschäfte mit Verachtung.

Was aber Herrn Pix in dem Auge der Mitwelt das größte Ansehen gab, das waren die Riesen, welche um die große Waage herum nach seinem Befehle schalteten, hohe breitschultrige Männer mit herkulischer Kraft. Wenn sie die großen Tonnen zuschlugen und rollten und mit Centnern umgingen, wie gewöhnliche Menschen mit Pfunden, so erschienen sie dem neuen Lehrling wie die Ueberreste eines alten Volkes, von dem die Mährchen erzählen, daß es einst auf deutschem Boden gehaust und mit thurmhohen Felsblöcken Märmel gespielt habe. Bald merkte Anton, daß sie selbst nicht einem Stamme angehörten. Da waren zuerst sechs Hausknechte, alle von der Natur aus zähem Holz über Lebensgröße ausgeführt. Sie gehörten ganz der Handlung an, waren die regelmäßigen Untergebenen des schwarzen Pinsels, ja mehrere von ihnen wohnten im Hause selbst und hatten allnächtlich der Reihe nach die Wache. Von neun Uhr ab saß dann Pluto, der Newfoundländer des Fräulein, neben einer riesigen Gestalt schweigend im Schatten eines großen Fasses. Diese Hausknechte, wie groß sie auch waren und wie stark, sahen doch den Söhnen sterblicher Menschen noch in manchen Stücken ähnlich. Daneben aber bildeten die Auflader der Kaufmannschaft eine besondere Corporation, welche auf dem Packhof vor dem Thore ihr Hauptquartier hatte und von dort aus die Ladungen nach den großen Waarenhandlungen der Stadt schaffte oder abholte. Diese waren die mächtigsten unter den Riesen, und Einzelne unter ihnen von einer Körperkraft, wie sie in anderm Berufe nicht mehr gefunden wird. Sie hatten mit vielen Handlungen der Stadt zu thun, aber das alte angesehene Haus von T. O. Schröter war die irdische Stätte, auf der sie sich am liebsten herabließen, mit der kleinen Gegenwart zu verkehren. Seit mehr als einem Menschenalter war der Chef dieses Hauses der erste Vorstand ihrer Corporation gewesen. So hatte sich ein Clientenverhältniß zu der Firma gebildet. Herr Schröter empfing am Neujahr als Erster ihren Glückwunsch und wurde Pathe sämmtlicher Riesenkinder, welche im Lauf des Jahres bei ihrer Taufe die Arme der dienstthuenden Hebamme auf das Taufbecken hinunterdrückten und den Geistlichen durch ihre ungeheuren Köpfe so beunruhigten, daß er seine Stimme zur Stärke des Donners erhob, um den Teufel aus ihnen herauszutreiben.

Unter diesen Lederschürzen war Sturm, ihr Oberster, wieder der größte und stärkste, ein Mann, der enge Hintergassen vermied, um seine Kleider nicht auf beiden Mauerseiten zu reiben. Er wurde gerufen, wenn eine Last so schwer war, daß seine Kameraden sie nicht bewältigen konnten, dann stemmte er seine Schulter an und schob die größten Fässer weg, wie Holzklötzchen. Es ging von ihm die Sage, daß er einmal ein polnisches Pferd mit allen vier Beinen in die Höhe gehoben hätte, und Herr Specht behauptete, es gebe für ihn nichts Schweres auf der Erde. Ueber seinem großen Körper glänzte ein breites Gesicht von natürlicher Gutherzigkeit, welche nur durch die Würde gebändigt wurde, die ein Mann von seiner Stellung besitzen mußte.

Er stand zur Firma in einem besonders freundschaftlichen Verhältniß und besaß ein einziges Kind, an dem er mit großer Zärtlichkeit hing. Der Knabe hatte seine Mutter früh verloren, und der Vater hatte ihn als funfzehnjährigen Burschen in der Handlung von T. O. Schröter untergebracht in einer eigenthümlichen Stellung, die er selbst für ihn ausgedacht. Karl Sturm war unter den Hausknechten ungefähr dasselbe, was Fink im Comtoir war, ein Volontair, er trug seine Lederschürze und seinen kleinen Haken, wie der Vater, und war durch eignes Verdienst zu einem ausgedehnten Wirkungskreis gekommen. Er genoß das Vertrauen aller Mitglieder der Handlung, wußte in jedem Winkel des Hauses Bescheid, sammelte alle Bindfaden und Schnüre, alle Nägel und alle Faßdauben, hob alles Packpapier auf, fütterte den Pluto und unterstützte den Bedienten beim Stiefelputzen. Er konnte genau angeben, wo irgend eine Tonne, ein Bret, ein alter Waarenrest lag. Wenn ein Nagel einzuschlagen war, so wurde Karl gerufen; so oft ein Stemmeisen verlegt war, Karl wußte es zu schaffen; wenn die Tante den Wintervorrath von Schinken und Würsten aufhob, so verstand Karl am besten, diese Schätze einzupacken, und wenn Herr Schröter eine schnelle Bestellung auszurichten hatte, so war Karl der zuverlässigste Bote. Zu Allem anstellig, immer guter Laune und nie um Auskunft verlegen, war er ein Günstling aller Parteien, die Auflader nannten ihn »unser Karl,« und der Vater wandte sich oft von seiner Arbeit ab, um einen heimlichen Blick voll Stolz auf den Knaben zu werfen.

Nur in einem Punkt war er nicht mit ihm zufrieden: Karl gab keine Hoffnung, seinem Vater in Größe und Stärke gleich zu werden. Er war ein hübscher Bursch mit rothen Wangen und blondem Kraushaar, aber nach dem Gutachten aller Riesen war für seine Zukunft keine andere als eine mäßige Mittelgröße zu erwarten. So kam es, daß der Vater ihn als eine Art Zwerg behandelte, mit unaufhörlicher Schonung und nicht ohne Wehmuth. Er verbot seinem Sohne, beim Aufladen schwerer Frachtgüter anzugreifen, und wenn er plötzlich von einem Vatergefühl ergriffen wurde, so legte er die Hand vorsichtig auf den Kopf seines Karls in der unbestimmten Furcht, daß die Köpfe von Zwergen nur die Dicke einer Eierschale hätten und bei einem kräftigen Druck zerbrechen müßten.

»Es ist einerlei, was das Ding lernt,« sagte er zu Herrn Pix, als er den Knaben nach der Confirmation im Geschäft einführte, »wenn er nur Zweierlei lernt: ehrlich sein und praktisch sein.« Diese Rede war ganz nach dem Herzen des Herrn Pix. Und der Vater fing seine Lehre auf der Stelle damit an, daß er den Sohn in das große Gewölbe unter die offenen Vorräthe führte und zu ihm sagte: »Hier sind die Mandeln, und hier die Rosinen; diese in dem kleinen Faß schmecken am besten, koste einmal.«

»Sie schmecken gut, Vater,« rief Karl vergnügt.

»Ich denk's, Liliputer,« nickte der Vater. »Sieh, aus allen diesen Fässern kannst du essen, so viel du willst, kein Mensch wird dir's wehren; Herr Schröter erlaubt dir's, Herr Pix erlaubt dir's, ich erlaube dir's. Jetzt merke auf, mein Kleiner. Jetzt sollst du probiren, wie lange du vor diesen Tonnen stehen kannst, ohne hineinzugreifen. Je länger du's aushältst, desto besser für dich; wenn du's nicht mehr aushalten kannst, kommst du zu mir und sagst: es ist genug. Das ist gar kein Befehl für dich, es ist nur wegen dir selber und wegen der Ehre.« So ließ der Alte den Knaben allein, nachdem er seine große dreischalige Uhr herausgezogen und auf eine Kiste neben ihn gelegt hatte. »Versuch's zuerst mit einer Stunde,« sagte er im Weggehen, »geht's nicht, so schadet's auch nicht. Es wird schon werden.« Der Junge steckte trotzig die Hände in die Hosentaschen und ging zwischen den Fässern auf und ab. Nach Verlauf von mehr als zwei Stunden kam er die Uhr in der Hand zum Vater heraus und rief: »Es ist genug.«

»Zwei und eine halbe Stunde,« sagte der alte Sturm und winkte vergnügt Herrn Pix zu. »Jetzt ist's gut, Kleiner, jetzt brauchst du den übrigen Tag nicht mehr in das Gewölbe zu gehen. Komm her, du sollst diese Kiste zusammenschlagen; hier ist ein neuer Hammer für dich, er kostet zehn Groschen.«

»Er ist nur acht werth,« sagte Karl den Hammer betrachtend, »du kaufst immer zu theuer.«

So wurde Karl eingeführt. Am ersten Morgen, nachdem Anton gekommen war, sagte Karl zu seinem Vater im Hausflur: »Es ist ein neuer Lehrling da.«

»Was ist's für einer?« frug der Alte.

»Er hat einen grünen Rock und graue Hosen, es ist Mitteltuch; er ist nur wenig größer als ich. Er hat schon mit mir gesprochen, es scheint ein guter Kerl. Gieb mir dein Taschenmesser, ich muß ihm einen neuen Holznagel in seinen Kleiderschrank schneiden.«

»Mein Messer, du Knirps?« rief Sturm auf seinen Sohn heruntersehend mit tadelnder Stimme, »du hast ja dein eigenes.«

»Zerbrochen,« sagte Karl unwillig.

»Wer hat's gekauft?« frug Sturm.

»Du hast's gekauft, Vater Goliath; es war ein erbärmliches Ding, wie für ein Wickelkind.«

»Ich konnte dir doch kein schweres kaufen für deine kleine Hand?« frug der Vater gekränkt.

»Da haben wir's,« sagte Karl, sich vor den Vater hinstellend, »wenn man dich hört, muß man glauben, ich wäre eine Kaulquabbe von Gassenjungen, die ihre Hosen noch an die Jacke knöpft und hinten ein weißes Schwänzchen trägt.«

Die Auflader lachten. »Sei nicht aufsätzig gegen deinen Vater,« sagte Sturm und legte seine Hand behutsam auf den Kopf seines Sohnes.

»Sieh, Vater, da ist der Lehrling,« rief Karl und betrachtete Anton, der jetzt für ihn zum Inventarium des Hauses gehörte, mit prüfenden Blicken.

Herr Pix stellte Anton dem Riesen vor, und Anton sagte wieder mit Achtung zu dem Riesen aufsehend: »Ich war noch nie in einem Geschäft, ich bitte auch Sie, mir zu helfen, wo ich nicht Bescheid weiß.«

»Alles Ding will gelernt sein,« erwiederte der Riese mit Würde. »Da ist mein Kleiner hier, der hat in einem Jahre schon hübsch etwas losgekriegt. Also Ihr Vater ist nicht Kaufmann?«

»Mein Vater war Beamter, er ist gestorben,« erwiederte Anton.

»Oh, das thut mir leid,« sagte der Auflader mit betrübtem Gesicht. »Aber Ihre Frau Mutter kann sich doch über Sie freuen.«

»Sie ist auch gestorben,« sagte Anton wieder.

»Oh, oh, oh!« rief der Riese bedauernd und sann erstaunt über das Schicksal Antons nach. Er schüttelte lange den Kopf und sagte endlich mit leiser Stimme zu seinem Karl: »Er hat keine Mutter mehr.«

»Und keinen Vater,« erwiederte Karl ebenso.

»Behandle ihn gut, Liliputer,« sagte der Alte, »du bist gewissermaßen auch eine Waise.«

»Na,« rief Karl, auf die Schürze des Aufladers schlagend, »wer einen so großen Vater hat, der hat Sorge genug.«

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