Читать книгу «Sankya / Санькя. Книга для чтения на немецком языке» онлайн полностью📖 — Захара Прилепина — MyBook.
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Manchmal sah Sascha dieses Fass, gefüllt mit etwas Weißem und Dickflüssigem. Wie schmutzige bebende Finger mit langen Nägeln in den Honig gleiten. Zahnlose Münder, die von verdreckten Haaren umwachsen sind, schnappen nach dem Honig. Und der Honig verätzt die Kehle. Und der Großvater sitzt abseits, gebeugt und abgewandt. Vielleicht hatten Großvaters Weggefährten auch noch gelacht, einige Minuten lang waren sie sehr übermütig gewesen. Doch plötzlich setzte einer sich abrupt hin oder fiel sofort um, und die Augen weiteten sich vor Schmerz …

Und der Großvater ging allein weiter.

Von den Kommunisten wurde er ausgeschlossen, weil er in Gefangenschaft gewesen war. Er kehrte ins Dorf zurück, zu seiner Frau. Im Lauf der Nachkriegsjahre zeugten[68] sie drei Söhne.

Da sind sie, die Söhne – auf einem anderen Foto. Saschas Vater, Wasja, er steht zwischen Großmutter und Großvater, ein blonder Schopf, oder wie es hier im Dorf heißt – flachsblond[69], das bedeutet, dass die Haare hell wie von der Sonne ausgeblichenes Leinen waren[70]. Der Großvater hält den mittleren Sohn auf den Armen, die Großmutter das kleine Söhnchen. Der Großvater – mager, hochgewachsen, abgearbeitet, streng. Die Großmutter – mit dunklem Gesicht, hohlwangig, sich selbst nicht ähnlich. Es war schwierig gewesen, die Kinder aufzuziehen.

Daneben eine andere Aufnahme – Saschas Urgroßvater mit Freunden – der Vater des Großvaters. Die festgehaltene Zeit: Der Erste Weltkrieg, vor dem Hintergrund eines Bunkers stehen vier Soldaten, mit – wie bei Pferden – langgezogenen Gesichtern, sinnlos, repräsentabel. An Urgroßvaters Brust drei Georgs- Orden. Er hat dann noch im Bürgerkrieg gekämpft und auch Auszeichnungen erhalten. Aus dem Bürgerkrieg waren allerdings keine Aufnahmen erhalten. Und die Auszeichnungen waren verloren gegangen.

Und hier ist Sascha selbst, vierzehnjährig, rosig, hellhäutig, die Haare wie zur Seite geleckt. Als er aus dem Dorf wegfuhr, war er, wie alle Dorfjungen, strohblond, in der Stadt verlor er die helle, seltene Färbung und wurde dunkelblond.

Sascha war mittlerweile der Einzige, der noch etwas über das Leben dieser Menschen wusste, die auf den Schwarzweißfotos abgebildet waren, zumindest war er ein Zeuge ihrer Existenz. Wenn die Großmutter stirbt, kann keiner mehr irgendwem erklären, wer hier abgebildet ist, welche Leute das sind – Stille. Ja, es wird auch niemand fragen, das braucht keiner. Die neuen Hausherren werden den Fotoaltar in das undurchdringliche Gestrüpp auf der anderen Straßenseite schmeißen, die Gesichter auf den Bildern werden verwaschen, und das war’s dann. Als wäre es nie gewesen[71].

Schon jetzt wusste Sascha nicht mehr, wer all die Menschen auf den vielen Fotos waren – vielleicht irgendwelche Verwandte der Großmutter, des Großvaters, vielleicht Nachbarn, mit denen sie befreundet gewesen waren, sonst noch wer. Die ganze Verwandtschaft ist weggestorben und die Freunde sind gestorben, es gab niemanden mehr, der sich erinnern konnte, wie die Großeltern in den Nachkriegsjahren eigentlich waren, ganz zu schweigen von der Zeit vor dem Krieg. Es hatte ja auch eine Hochzeit stattgefunden – die jungen Leute küssten sich scheu und die Gäste lärmten und tranken und alle lächelten, oder fast alle, vielleicht hat jemand missmutig in der Ecke gesessen und sich leise betrunken, auf jeder Hochzeit gibt es solche, trotzdem waren alle glücklich und lärmten … aber vermutlich ist kein Zeuge dieser Hochzeit mehr übrig geblieben.

Sascha erinnerte sich plötzlich, wie dem Großvater einmal herausgerutscht war, dass er mit der Großmutter in zweiter Ehe verheiratet sei. Die erste Frau hatte er am Tag nach der Hochzeit verlassen. Was sie eigentlich gemacht hatte, sagte der Großvater nicht. Angeekelt verlor er über seine erste Hochzeit ein paar Worte, die Sascha längst vergessen hatte, das war alles.

Dass der Großvater zwei Mal verheiratet gewesen war, beeindruckte Sascha sogar mehr als die furchtbaren Jahre, die der Großvater in Gefangenschaft verbracht hatte. Was war das für eine Ehefrau, was war das für ein Mädchen? Was hat sie getan? Hat der Großvater sie etwa mit einem anderen erwischt? Oder hat sie sich betrunken und den Großvater beschimpft? »Vielleicht hat sie das Tor mit Pech beschmiert?«, dachte Sascha, und vergaß dabei, dass im Dorf kein Haus hinter dem Tor versteckt war. Du machst einen Schritt von der Straße weg – und da ist gleich die Tür, die oft nicht einmal verschlossen ist. Und Hunde hielt auch niemand.

»Das Tor … mit Pech …«, äffte Sascha sich selbst nach. »Zu viele Bücher gelesen …«

Niemand weiß, wie das alles gewesen war. Aber all das war gewesen.

Wie kommt das, ha? Wohin sind alle verschwunden?

Hätte es einen Wert, zu wissen, wie die Großeltern ihr Leben gelebt haben? Oder war es für gar nichts nütze?

Sascha ging leise zum Großvater hin.

Die Türrahmen in der Hütte waren niedrig, und Sascha verbeugte sich unwillkürlich vor dem Großvater, der aber nichts sah – er lag mit geschlossenen Augen da. Sascha hörte das heisere, bebende Atmen des Großvaters und blickte einige Momente lang auf seine blasse Stirn mit der dünnen, schwärzlichen Vene.

Der Großvater zuckte mit den tränenden Augen, man konnte die Pupillen unter den Lidern nicht ausmachen.

»Sieht er? Sieht er nicht? Soll ich was sagen?«

»Sankya«, sagte der Großvater leise. »Bist aufgestanden. Hättest noch weiterschlafen …«

Sascha schwieg und sah den Großvater ohne zu blinzeln an. Der Großvater atmete.

Sascha nahm den Hocker und stellte ihn neben Großvaters Bett, vielleicht tat er das auch lauter, als es möglich gewesen wäre – schon die Bewegung, der Lärm verwischten gleichsam den Eindruck der schwermütigen Schmerzhaftigkeit dessen, was hier vor sich ging.

Der Großvater schielte kaum merklich auf den daneben sitzenden Sascha – das Lid zuckte, ein bleicher Fleck der Pupille bewegte sich, und das Lid zuckte von Neuem, drückte eine kleine Träne hervor, die sich sofort in einer Falte verlor.

»Fährst du bald? Bleib doch noch … Bleib, bis ich sterbe … Ich sterbe bald … Begrab mich wenigstens. Die Oma ist doch alleine … Die Weiber werden mich begraben. Es gibt doch keine Männer mehr …«

»In solchen Fällen«, dachte Sascha, »sagt man sicher: ›Was heißt du stirbst bald, Großvater, alles kommt in Ordnung. Du liegst ein bisschen und wirst bald wieder aufstehen.‹« Er schwieg.

»Solange ich lebe, kann ich mich nicht erinnern, dass die Weiber jemanden begraben hätten … Gibt’s in der Stadt noch Männer?«

Sascha lächelte ein wenig.

»Gibt es«, sagte er laut, um wenigstens etwas zu sagen.

»Bei uns sind sie alle ausgestorben. Ich bin der letzte. Alle sind zu meinen Lebzeiten geboren, aufgewachsen, und alle sind sie gestorben. Ich habe sie alle begraben … Die meinigen und die fremden.«

Der Großvater verstummte und lag lange schweigend da.

»Ich esse nichts, und kann trotzdem nicht sterben …«

Er schwieg wieder.

»Erinnerst du dich an meinen silbernen Löffel? Nimm ihn, wenn ich sterbe. Mein Vater hat ihn mir gegeben. Jetzt gehört er dir.«

Sascha erinnerte sich an diesen Löffel – er war schwer, schön. Die Großmutter sagte, dass der Großvater mit diesem Löffel alle seine kleinen Jungs auf die rosa Stirn schlug, wenn sie bei Tisch Unfug trieben[72]. Sascha glaubte das nicht. Mit so einem Löffel kann man töten. Ja, und das passte auch nicht zu Großvaters Charakter. Sascha dachte, dass er nie im Leben gehört hatte, wie Großvater schrie – nie erhob er die Stimme und niemals fluchte er. Seine Unzufriedenheit äußerte er durch Gesten. Einmal kam Sascha mit dem Vater ins Dorf, ungefähr vor fünf Jahren war das. Der Großvater war schon fast achtzig. Onkel Kolja kam noch dazu und sie tranken den ganzen Abend und tranken noch die halbe Nacht weiter. Am Morgen setzten sie sich zum Frühstück, um auszunüchtern. Die Großmutter, die ja hörte, wie schwer der Großvater im Schlaf atmete, entschied, ihn zu schützen und füllte den Söhnen die Gläser mit Selbstgebranntem[73] ganz voll, dem Großvater nur etwas mehr als die Hälfte. In Großvaters Gesicht bewegte sich nicht ein einziger Muskel, mit einer laschen Bewegung schob er mit dem Handrücken der Rechten das Glas weg, nicht abrupt, aber immerhin so, dass es umfiel: Der Selbstgebrannte breitete sich auf dem Tisch aus, der Gestank war schneidend. Dann stand der Großvater auf und schob den Stuhl weg, als wollte er hinausgehen.

»Bleib schon sitzen, du Waldgeist! Bleib sitzen!«, schrie die Großmutter. Augenblicklich wischte sie den Tisch ab, stellte das Glas hin, füllte es bis zum Rand und ging schimpfend hinaus, maßvoll schimpfend, nicht laut und nicht bösartig, seit Langem kannte sie die Grenze, die sie nicht überschreiten durfte, wenn sie ihren Mann tadelte.

Der Großvater setzte sich, trank ruhig aus und die Großmutter versuchte nie mehr, ihm nicht richtig einzuschenken; es erinnerte oder erwähnte auch niemand mehr diesen Vorfall.

Sascha schaute auf den Großvater, dieser war wohl eingeschlafen. Sascha stand vorsichtig auf.

Auf der Straße stand Dunst, nebelgraue Feuchtigkeit, die im Sommer besonders unangenehm war.

Das Dorf gab kein einziges Lebenszeichen von sich.

Neben derselben Pfütze von gestern stand derselbe Junge mit der Gerte in der Hand. Zischend schlug er auf die schmutzige Spiegelung seiner selbst und sprang dabei von der Pfütze weg.

Der Anblick des Kindes hätte vielleicht das Herz zusammengezogen, wäre im Herzen nicht stille Leere gewesen.

»Du stehst schon auf, Sankya, warum bist du denn schon auf«, sagte die Großmutter, die vom Hof kam. »Gehen wir frühstücken.«

Das Rührei mit Speck, Tomaten und Zucchini – unnatürlich hell, wie die Zeichnung eines Kindes – verströmte ein starkes Aroma, bebte und spritzte als wäre es lebendig und voller Freude.

»Interessant, und wenn man die Alten zu zeichnen zwingt – werden ihre Zeichnungen genauso hell sein wie die der Kinder?«, überlegte Sascha.

Der Selbstgebrannte trübte sich ein, das grobe Brot wurde voller Gelassenheit dunkler. Auf einem Tisch ist Brot ist immer das Strengste, es kennt seinen Preis.

Sascha aß alles schnell und sagte, er gehe spazieren. Er bewegte sich vom Haus weg, den Berg hinunter zum Fluss. Er erinnerte sich, wie er als Kind auf demselben Weg ging und die Gänse der Nachbarin traf und lange nicht an ihnen vorbeigehen konnte, da der Gänserich, der widerwärtige Vogel, den Hals streckend und mit den Flügeln schlagend, den Weg blockierte. Sascha sprang weg und drehte sich vor Schreck um und lief, mit hochgezogenen Knien. Dann blieb er in einiger Entfernung lange stehen, von einem dunklen Bein auf das andere tretend, wie ein kleines Pferd. Als jemand die Straße entlangging, setzte sich Sascha und tat, als würde er mit den Steinen spielen. Er schämte sich, dass er sich vor einer Gans fürchtete. Der Mensch ging vorbei, erschreckte die Gänse und sie liefen wild mit den Flügel schlagend und wie blöde schnatternd davon.

Wenn Sascha sich erinnerte, sich an sein Leben erinnerte, dann mochte er auch nur diesen Jungen, den dunkelbeinigen, mit den Schrammen. Dann, als er die blonde Mähne losgeworden war, wurde aus diesem Jungen ein weißhäutiger, buckliger Blödkopf, der dumm lachte und alle anderen Merkmale eines Halbwüchsigen hatte. Sascha erinnerte sich nicht an seine Zeit als Halbwüchsiger, er vermied es, sich daran zu erinnern. Fahrig, raufsüchtig, unangenehm – wer möchte sich schon daran erinnern.

Jetzt gab es keine Gänseriche mehr.

Die Stege über das Flüsschen verbogen sich, brachen ein.

»Geht denn etwa niemand mehr ans andere Ufer hinüber?«, dachte Sascha und ertappte sich dabei, dass Großmutters »denn etwa«[74] in seine Sprache eingegangen war. Aber vermutlich verwendete er diesen Ausdruck nur, weil er mit seinem eingebildeten Dörflertum spielte, das sich, wenn es je existiert haben sollte, schon lange in Nichts aufgelöst hatte. Selbst »denn etwa« konnte er nicht gelassen aussprechen, ohne sich bei einem Selbstbetrug zu ertappen.

Sascha ging das Ufer entlang zum weiter entfernten Strand. Manchmal fand er am Ufer alte Boote, die mit Ketten an Bäumen festgemacht waren, oder herrenlose, löchrige, die schon lange niemand mehr brauche. Sascha schaute in jedes Boot, in das feuchte oder vertrocknete Innere.

Das Dorf blieb rechter Hand zurück.

Der Weg zog sich in Furchen, als hätte man ihn durchgekaut und ausgespuckt und während die Spucke vertrocknet war, blieben die verbogenen, groben Spuren von Zähnen oder hartem Zahnfleisch zurück.

Der Fluss wurde allmählich breiter. Manchmal war in der Strömung schwaches Plätschern zu hören.

Über dem Gras taumelten unsinnig Mücken.

Sascha ging zu dem Platz, der Timochas Winkel[75] hieß. Der Vater sagte, hier habe einst der Einsiedler Timocha gelebt, neben dem Fluss, der hier tatsächlich unvermittelt abbog und einen Knick bildete. Timocha war an irgendetwas erstickt. Die Fabel schenkte dem schönen stillen Strand mit dem weißen, fast schneefarbenen Sand seinen Namen.

Als kleiner Junge, der sich am Strand das Bäuchlein wärmt, hatte Sascha oft an Timochas Schicksal gedacht, aber in Anbetracht der Abwesenheit selbst eines kleinen Gebäudes, hatten die Überlegungen, wer dieser Timocha überhaupt gewesen war und wieso er ohne Menschen gelebt hatte, zu nichts geführt. Und dann war Saschka baden gegangen.

Manchmal – der Zeit nach zu urteilen, während der Mittagspausen – kamen junge Männer und hübsche Mädchen zum Strand. Irgendwo nicht weit entfernt wurde Torf abgebaut und in der freien Zeit planschte das arbeitende Volk glucksend herum.

Damals hatte der kleine Sascha zum ersten Mal gesehen, wie ein kräftiger Kerl in Badehose, in die sie so etwas wie eine Kartoffelknolle gelegt hatten, eine gut gebaute Schönheit abknutschte, sie an den Hüften streichelte und ihre weißen Brüste rieb, ohne sich vor dem Jungen zu schämen. Das auf dem Rücken liegende Mädchen ließ sich nicht lange auf die Lippen küssen und schlug bald dem Kerl gegen die Brust. Der nahm schließlich seine gierigen heißen Pfoten weg, stand unvermittelt auf und sprang vom hohen Ufer ins Wasser, verschwand fast für eine Minute unter Wasser, sodass die zerzauste Göre, die aufgestanden war und den Büstenhalter gerichtet hatte, sich Sorgen zu machen begann und unter vorgehaltener Hand Ausschau hielt, bis ihr Kavalier schließlich wie ein Wasserteufel am anderen Ufer auftauchte.

Sascha wusste nicht, was größeren Neid in ihm hervorrief – die Kunst, unter Wasser weit zu schwimmen oder dieser freie Umgang mit dem anderen Geschlecht. Das übrigens erschreckte Saschka, es rief eine merkwürdige Mischung aus Verwunderung und Ekel hervor.

Der Vater führte Sascha weiter am Fluss entlang, weg vom Lärm und den ständigen Flüchen, dort hatten sie noch ein anderes Geheimplätzchen – eine von Sträuchern eingewachsene Betonplatte, von der man nicht wusste, wie sie ans Ufer gekommen war. Der untere Teil der Platte ragte in den Fluss. Im Sommer erwärmte sich die Platte und Sascha und der Vater lagen lange auf ihr und schmorten[76]. Wenn die Sonne unerträglich wurde, gingen Saschka und der Vater bis zu den Knien ins Wasser und übergossen die Platte mit Wasser – davon wurde sie feucht und kalt, sie war wieder gut geeignet, um sich entspannt darauf zu bräunen und auszuruhen.

Er legte eine große Strecke zurück und da er vor so langer Zeit hier gewesen war, verwechselte er die Treppe – Sascha kam nicht bei Timochas Winkel heraus, sondern weiter flussabwärts. Er musste umkehren.

Der Pfad entlang des Flusses, einst von den Fischern und den Arbeitern ausgetreten, war ganz verwachsen, und Sascha ging mit vorsichtigen Storchenschritten[77], weil er Angst hatte, auf eine Natter zu treten. Seit der Kindheit hatte er Angst vor Schlangen.

Als er älter war, erfuhr Sascha, dass er bei der Geburt fast gestorben wäre – von der Nabelschnur erwürgt; man sagt, Menschen, die in den ersten Augenblicken ihres Lebens auf dieser Welt einen derartigen Schock erleben, würden sich ihr ganzes Leben vor Schlangen fürchten. Damit begründete Sascha wenigstens seine unglaubliche Angst vor harmlosen Nattern.

Natürlich traf er auf eine Natter, nicht nur auf eine, sondern auf eine ganze Familie, die herausgekrochen war, um sich in der Sonne zu wärmen. Sascha schrie auf, sprang hoch und kam mit gespreizten Beine wieder zu stehen. Die Nattern waren schon weg. Er hätte geschworen[78], dass die widerlichen Kreaturen weggekrochen waren, während er in der Luft hing.

Fluchend und ein wenig zitternd sprang Sascha durch die Sträucher und lief weiter bis zu jener Platte, auf der er mit dem Vater immer gelegen hatte.

Die Platte war vom Gebüsch ganz zugewachsen, ihr größter Teil ins Wasser gerutscht und mit grünen, schleimigen Unterwasserpflanzen überwuchert. Auf der Platte zu liegen war jetzt ganz offensichtlich nicht mehr möglich.

Sascha spürte bei diesem Anblick ein gramerfülltes Zucken im Herzen – als würde nicht die Platte im Wasser liegen, sondern ein umgestürztes Denkmal.

Sascha blickte sich nach allen Seiten um, überlegte, wo er sich hinsetzen konnte, um sich seiner Trauer zu überlassen. Er setzte sich ins niedrige Gras am Ufer und zündete eine Zigarette an.

Im Dorf, in der frischen Luft, rauchte es sich immer schlechter – in der schwülen Pestilenz der Stadt ist die Zigarette das Allerliebste, auf dem Dorf aber, wo die Lungen eine Schwindel erregende Frische atmen, ist es fast sträflich, sich eine Zigarette anzuzünden.

Sascha wollte sich noch einmal der Schwermut hingeben, die höchst wohlig und mit Zigarettenrauch vermischt war, allerdings drehte sich ihm der Kopf und die Trauer sammelte sich nicht in einem süßen Klumpen unter dem Herzen, sondern kroch als Trägheit durch den ganzen Körper. Er musste die Zigarette mit dem Absatz im Gras zertreten. Zum unverbrannten Tabak, vermischt mit trockener, schmutziger Erde, krabbelten sofort einige Ameisen.

Timochas Winkel, zu dem Sascha nach einigen Minuten kam, war von hässlichen Kletten überwuchert. Es gab keinen Strand mehr, an seiner Stelle hatte sich eine Sandwüste ausgebreitet.

Sascha schlüpfte aus den Schuhen und ging ins Wasser. Das Wasser war kalt und schleimig wie Sauerteig. Den Lehm zu berühren, war unangenehm – mit seiner vernarbten Kälte erinnerte er an das nackte Zahnfleisch eines alten Menschen.

Sascha stieg aus dem Wasser und setzte sich entkräftet auf den schmutzigen Sand. Er blickte sich um, spuckte aus, stand wieder auf. Er begann die Kletten an den Wurzeln herauszureißen, ein widerliches Gewächs mit langen Wurzeln, unbekannte niederwüchsige Gräser, und säuberte den Strand. Das ausgerissene rötliche, trockene, hässliche Zeug warf er ins Wasser. Die Strömung trug es fort.

Nach etwa eineinhalb Stunden war auf dem Strand kein einziges Gewächs mehr geblieben. Nur abgerissene Wurzeln ragten manchmal hervor. Der Strand war nicht hell und sauber geworden, wie er in Saschas Kindheit gewesen war, nein. Es war, als hätte der Strand an einer Infektion gelitten, den Pocken – und er lag mürrisch da, überzogen von Kerben und Scharten.

Sascha kehrte nach Hause zurück, er aß kein Abendbrot[79]. Er stand neben dem schlafenden Großvater, ging hinaus zur Großmutter und sagte, dass er abfahre. Jetzt sofort, er müsse.

Die Großmutter schwieg.

»Du warst doch beim Vater am Grab?«, fragte sie.

»War ich«, log Sascha.

»Wie geht es ihm, ist er aufgestanden?«

Sascha nahm eine Zigarette und begann sie mit den Fingern zu kneten, er wusste nicht, was er antworten sollte.

»Ich werde dir Zwiebeln mitgeben. Und Eier …«, sagte die Großmutter leise.

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