Sascha hielt die Absperrung in Händen, zog sie zu sich. Von der anderen Seite klammerten sich die erschrockenen Milizionäre daran.
Über deren Rücken hinweg schwenkte ein Offizier seinen Schlagstock und versuchte Sascha am Kopf zu treffen. Sascha wich seinen Schlägen aus; er ließ die Absperrung mehrfach los, um dann wieder danach zu greifen, vorsichtig, als wäre sie brennend heiß.
Der Offizier nahm den Schlagstock in die andere Hand, wirbelte ihn herum, und versetzte Wenka seitlich einen Schlag, dessen Wange sofort grellrot anschwoll.
»Die Fahnenstange!«, schrie Wenja, der sich nach hinten drehte und dabei grundlos grinste. »Die Fahnenstange, hierher!«
Eine Fahne wurde ihm gereicht. Wenja riss mit einer Bewegung den ganzen Stoff ab, schwenkte die Fahnenstange wild durch die Gegend und ließ sie auf den Offizier niederdonnern[29]. Der drosch gerade voller Begeisterung mit dem gekrümmten Gummiknüppel irgendwem ins Gesicht und sah den Schlag nicht kommen.
Seine Kappe rutschte in den Nacken, sofort floss ein gleichmäßiger Blutstrom über die Stirn und verteilte sich an der Nasenwurzel wie Astwerk über Augenbrauen, Wangen und Augenhöhlen.
Der Offizier schaute nach oben, verdrehte seine blödsinnigen Augen, als versuchte er, die Verletzung zu sehen.
Auf Saschas Schulter lag, wie eine Kopie, noch eine weitere Fahnenstange, das Fahnentuch hing nach unten. Aus dem Augenwinkel bemerkte er weitere Fahnen, die mit ihren Spitzen auf Milizionäre und Rekruten zielten, die ihrerseits die Absperrung festhielten.
Abermals wurde von hinten gegen Sascha gedrängt, so stark, dass er zu fallen drohte. Stürzend hielt er sich an der Brust eines Rekruten fest, der den Schlagstock vertikal in die Höhe hielt und vor Angst zu blinzeln begann – entweder weil er nicht richtig ausholen konnte, oder weil er Angst hatte, zuzuschlagen.
Sascha hielt sich gerade noch auf den Beinen, stieß den Rekruten weg, und hob den Teil der Absperrung, den er zu fassen bekommen hatte, hoch über den Kopf.
Die unablässig brüllende Meute preschte aus dem Pferch hinaus. Die Milizionäre zogen sich zurück und schauten den Laufenden absolut unentschlossen nach. Jemand brachte den am Kopf verletzten Offizier zu einem Polizeiauto.
»Jungs, ich flehe euch an!«, rief noch jemand auf der Tribüne.
Von irgendwo an der Seite liefen schon die Sondereinheitler heran, ein Dutzend Typen im Kampfanzug.
»Drei…«, zählte Sascha – »Vorerst nur drei.«
Sascha warf die Absperrung in ihre Richtung und renkte sich dabei fast seine Gelenke aus. Sie fiel laut scheppernd auf die Straße, flog nicht bis zu den Laufenden. Sascha sah, dass die innehaltenden Sondereinheitler[30] Flüche in seine Richtung ausstießen[31], verstand die Wörter allerdings nicht. Sie setzten sich abermals in seine Richtung in Bewegung, und Sascha griff sich einen weiteren Abschnitt.
Die geschleuderte Absperrung bedeckte einen Sondereinheitler, der unter dem auf ihn gestürzten Metallstück ganz verdreht dalag. Zwei andere versuchten ihn herauszuziehen.
»Bewahren wir Ruhe!«, wurde von der Tribüne gerufen. »Setzen wir das Meeting fort!«
Die Jungs stürzten vorwärts, den Prospekt entlang. Die Miliz stand machtlos da, wie eine Ehrenwache, und ließ die junge, vor Glück jaulende Bande in die Stadt.
Der ganze Platz strömte regelrecht in eine Fußgängerzone. Das Erste, worauf die in Freiheit Drängenden trafen, waren ein Taxistand an der Straße und Verkaufsstände für Blumen.
Die Verkäufer schnappten die Blumen bündelweise[32] und machten sich auf und davon. In der Eile warfen die Laufenden – zunächst ohne Absicht, aus Versehen – da eine Vase, dort einen Korb mit Rosen, Nelken und Tulpen um; sofort bekam man aber Lust auf mehr. Als Sascha zu den Verkaufsständen hetzte, war die ganze Straße schon rot, gelb, rosa und bordeaux übersät. Unzählige gebrochene Stängel knacksten unter seinen Schritten.
Sascha ergriff – warum auch immer – einige, etwa drei, vier Sträuße von den noch nicht umgeworfenen Blumenständern und lief eine Zeitlang mit ihnen in der Hand – bis er die Unsinnigkeit seiner Handlung begriff. Als er am Taxistandplatz vorbeirannte, sah er, dass ein verängstigter Taxifahrer aufs Gas stieg und einen Passagier, der sich an der Tür festhielt und sich noch nicht hatte setzen können, einige Meter mitschleifte – jener brüllte durchdringend. Andere Taxis, die ständig hupten, bremsten, fuhren eilig davon.
Sascha überschüttete eine auf dem Boden sitzende armselige Flüchtlingsfrau aus dem Süden samt obligatorischem Säugling im Arm mit den Blumen und wäre beinahe in Wenja hineingelaufen, der vor einem Schaufenster stehengeblieben war, offenbar auf der Suche nach einer geeigneten Waffe.
Wenja entdeckte eine Mülltonne und einen Augenblick später flog sie unter fürchterlichem Krachen in das Fenster.
An diesem Sonntagmorgen waren noch wenig Menschen auf der Straße. Vereinzelte Passanten verließen den Ort, eilig und ohne sich umzuschauen. Ein Mann in blauem Mantel lief aus einem Geschäft und trottete die Straße hinauf. Wenig später tauchte ein Wächter in schwarzer Jacke auf und verschwand sofort wieder hinter den Türen, während er in ein Handy schrie.
Auf der anderen Straßenseite stand ein schönes Auto einer ausländischen Marke – ohne Rücksicht auf die Fußgänger war es falsch geparkt worden. Die Alarmanlage des Fahrzeugs hatte schon eine Weile gequäkt, was vermutlich den Unmut der tobenden Menge hervorrief. Mit überraschender Leichtigkeit kippten einige Jugendliche das Auto zur Seite und dann aufs Dach.
Weiter oben an der Straße standen noch andere Autos – Jungen und Mädchen sprangen in wilder, fast tierischer, zugleich aber stummer Freude auf deren Dächern herum.
Sie waren auf der Suche nach etwas, das lautstark zertrümmert werden könnte, und zogen so, unter Krachen und Klirren, durch die Straßen, anfangs vereinzelt, Auge in Auge[33] mit der Stadt.
Die Jungs führten ihre Taten ohne jegliche Schreierei aus, mit bösem Ernst, beinahe ruhig.
Unter atemberaubendem metallenem Scheppern fielen einige im Freien stehende Spielautomaten zu Boden.
Irgendwer wackelte am Zaun eines Sommercafés, um ihn umzureißen; von der Abgrenzung wurde eine schöne schwarze Kette abmontiert, sie segelte[34] in die bunt angestrichenen Fenster des Cafés.
Einer hatte sich geschnitten und umwickelte die blutende Hand mit einem Stück Seidenvorhang, der samt Gardinenstange aus dem Café herausgeholt worden war.
Kostja Solowyj, ein großgewachsener, erstaunlicher Kerl von merkwürdiger Schönheit – weiße Jacke, weiße Hosen und spitze weiße Schuhe, die verblüffend gut zu seinen spitzen Vampirohren passten – ergriff die schwarze Kette, wirbelte sie fröhlich durch die Luft und ließ sie krachend gegen jede Straßenlaterne, an der er vorbeikam, donnern.
Niemand kam ihm in die Quere[35] – die Kette vollführte wunderbare, schwere Kreise, und wäre nicht dieser verrückte Wirbel ringsum gewesen, hätte man das leise Heulen, das die Kette durch die Kreisbewegung erzeugte, hören können.
In der Auslage des Kleidergeschäftes standen feingliedrige Puppen mit kleinen Köpfen – Schönheiten in Miniröcken und grellen Blusen.
Als das Schaufenster zertrümmert war, wurden die Schönen herausgeholt und in Einzelteile zerschlagen. Die zuletzt Davonlaufenden erschraken beim Anblick der am Boden herumliegenden verunstalteten, bein- und kopflosen Körper.
Trotz allem war es der Miliz offenbar gelungen, einen Teil der Kolonne des »Sojus« abzutrennen und hinter der Absperrung zu halten – Sascha sah, dass nur wenige der Jungs übriggeblieben waren, im Ganzen vielleicht zweihundert Mann. Viele verdünnisierten sich schon in die Höfe hinein, sie verstanden: Das Fest würde nicht mehr lange anhalten.
»Die Bullen!«[36], wurde irgendwo gebrüllt, die Meute drängte die Straße hinauf, schmiss Mülleimer um und warf Schaufenster ein.
Unablässig war das Klirren von zerschlagenem Glas zu hören. Die an diesem Morgen vermischten und fein zermahlenen Farben der Stadt wurden unverhofft grell.
Journalisten huschten durch die laufende Menge mit ihren Videokameras – höchst geschäftig, und, wie es schien, glücklich über das, was vorging.
»Hierher! Schneller!«, trieb ein Kameramann einen Menschen mit Mikrophon an.
Sascha ging mit klarem Kopf vor, andere Gefühle als den Wunsch, zu zerstören und möglichst viel zu zertrümmern, verdrängte er.
Auf der Straße sah er Plüschtiere herumliegen, die als Preis im zertrümmerten und umgeworfenen Spielautomaten aus Glas gedient hatten – rosa und gelb, erbärmlich, als wären sie verloren worden.
Irgendwoher kam ein kleiner Major, der schon im Pensionsalter war, den Jungs entgegengelaufen.
»Stehenbleiben!«, rief er, und schon seinem Schrei war anzumerken, dass er selbst absolut entsetzt war und eigentlich nicht wollte, dass irgendjemand auf ihn hörte.
Ihm entgegen rannte Wenja, der – ohne innezuhalten – in die Luft sprang und den Major gegen die Brust trat. Der fiel um und streckte die Arme von sich.
Sascha blieb abrupt neben dem alten Major stehen, unterdrückte sein Verlangen, ihn aufzurichten, ihm aufzuhelfen, sich sogar zu entschuldigen.
Mit krampfartiger Bewegung griff der Major an die Pistolentasche, nicht um die Pistole herauszuziehen, sondern aus Angst, die Waffe zu verlieren.
Er verfluchte Sascha und brüllte ihn an, und der überlegte es sich anders – anstatt dem Major zu helfen, sprang er auf dessen Mütze, die in einiger Entfernung lag.
»Was machst du da, du?«, fragte der Major, der sich aufsetzte. Er sah ziemlich blöde aus – wie er da auf dem Asphalt saß, ohne Kappe, wirkte wie ein alter Mensch.
»Ihr seid an allem selbst schuld!«, sagte Sascha voller Bosheit. Er wandte sich um, wollte weiterlaufen, wurde aber von Wenja am Ärmel gepackt, der ihn in die Gegenrichtung zog: »Dort sind die ›Kosmonauten‹*. Schnell, wir müssen irgendwo …«
Sie liefen an der Aufschrift »Gaben der Natur« vorbei, auf der – wie abgebrochene Beine – drei Buchstaben weggerissenen worden waren, neben einer in schönem Zickzack zerschlagenen Auslage, stürzten schließlich in einen verpissten Hof, und waren in der Falle.
»Scheiße, ich kenne diesen Bezirk nicht!«, sagte Wenja und grinste. Ohne Pause und nicht weniger fröhlich fügte er hinzu: »Die ›Kosmonauten‹ schlagen dort alles zu Matsch. Sie treten Allen die Scheiße raus. Die haben uns über die Parallelstraße umfahren, jetzt treiben sie alle von oben nach unten, zu den Bullen …«
Sascha suchte die Mauern ab, in der Hoffnung, einen Durchschlupf zu finden.
»Eine Treppe«, sagte Sascha.
Nach oben, auf ein vierstöckiges Haus führte eine Feuerleiter, zu ihr hinaufzuspringen, war allerdings nicht möglich – es war zu hoch.
»Komm, du steigst auf meine Schultern«, schlug Wenja vor.
Sascha blickte ihn an, grinste, fast zärtlich. Denn Wenja hatte nicht gesagt: »Los, ich steige auf deine Schultern.«
»Und du vergräbst dich hier im Sand«, antwortete Sascha.
»Ich werde mich blöd stellen[37]«, fuhr Wenja fort, und gackerte dämlich herum. »Oh, Tantchen!« Er unterbrach das Lachen schlagartig, bemerkte etwas.
Wenja lief zu einem Fenster im Erdgeschoss und trommelte gegen die Scheibe.
»Tantchen, geh nicht weg!«
Die Frau kehrte zum Fenster zurück, schüttelte den Kopf: »Was ist los?«
»Sie jagen uns! Dort! Sie schlagen und jagen uns! Öffnen Sie das Fenster! Sie jagen uns!« Wenja begann wie verrückt zu gestikulieren. Offenbar hatte er sich noch nicht entschieden, wen er vorspielen sollte: Den weibischen jungen Idioten samt »Tantchen, hab Mitleid«, oder den ernsthaften jungen Burschen, der ein Problem mit dem Gesetz hat: »Frau, helfen Sie! So etwas kann jedem passieren!« Schließlich wechselten sich diese beiden Masken in Wenjas Gesicht ohne jegliches System ab, was bei der am Fenster stehenden Frau nicht gerade Vertrauen erweckte.
»Mist, wenn sie wenigstens eine Oma wäre. Eine Oma hätte Mitleid«, schimpfte Wenja, als die Frau, die im Übrigen nichts antwortete, die Vorhänge zuzog, dann aber neben dem Fenster stehenblieb; man konnte deutlich ihren Umriss sehen.
»Vermutlich hat sie noch andere Fenster auf die Straße hinaus …«, sagte Sascha und unterbrach den Satz; es war sowieso klar, dass sie die Frau, sollte sie gesehen haben, was sie dort aufgeführt hatten, niemals hineinlassen würde.
»Wir haben höchstens noch zwei Minuten …«, überlegte Wenja schnell, der die Antwort offenbar überhört hatte. Er erinnerte sich – »Sanjok, lass es.« »Lass es« war seine Lieblingsformulierung, die viele Bedeutungen hatte; diesmal bedeutete sie: »Jetzt werde ich’s dir zeigen!« – »Dort lief vor uns ein Sportler, ein Läufer. Ein Leichtathlet, nicht wahr. Ein Lauf am Sonntagmorgen. Er lief als Erster in die Sondereinheit. In roten Hosen. Ach, sie haben ihn sofort verdroschen. Einfach Debile, Scheiße nochmal. Der Typ tat was für die Gesundheit.«
Schritte waren zu hören, und Wenja erstarrte mit einem Grinsen im Gesicht, Sascha wollte sich, warum auch immer, hinsetzen oder sogar hinlegen.
Ljoscha Rogow kam in den Hof gelaufen – ein Junge irgendwo aus dem Norden. Aus Sewerodwinsk oder so.
Sie kannten sich noch kaum, doch Sascha akzeptierte Ljoschka schon – er schätzte seine dezidierte, unerschütterliche Ruhe.
»Was steht ihr da rum?«, fragte Ljoscha mit ruhiger Stimme.
»Sind die Bullen schon da?«, beantwortete Sascha die Frage mit einer Gegenfrage.
»Es sind noch hundert Meter bis zu ihnen. Ist das eine Sackgasse[38]? Im Nachbarhof ist offenbar ein Durchgang. Ich bin gestern hier rumgelaufen.«
Die Straße versetzte sie mit all ihrem Chaos und ihrer Verwüstung noch immer in Erstaunen.
»Sie haben einen Wagen angezündet!«, freute sich Wenja.
Die Luft war erfüllt von Hundegekläff, Sirenen und Pfiffen.
Sascha bemerkte noch zwei weitere umgestürzte Autos, eines davon – siebzig Meter die Straße hinunter, brannte sogar. Alle hielten Abstand zu ihm. Vermutlich deshalb kam auch keine Polizei, man befürchtete eine Explosion.
Das zweite schaukelte zehn Meter entfernt von ihnen auf dem Dach liegend.
Daneben tanzte zur Alarmanlage, die immer wieder in Geheul überging, eine Pennerin – dreckiges Gesicht und feuchte Lippen, als wären ihre Wangen nach außen gekehrt. Das Weib grinste, öffnete den zahnlosen Mund.
Nicht weit entfernt stand ein junger Mann mit Aktenkoffer, der aus irgendeinem Grund Schlüssel in der Hand hielt.
»Es ist sein Auto«, erriet Sascha.
Wenja blieb einen Moment lang stehen: »Hör mal, Landsmann!«, rief er den jungen Menschen, der sein Gesicht nervös verzog. Er drehte sich um.
»Schalt die Sirene aus, das nervt«, bat Wenja, grinste und machte mit dem Daumen eine Geste, als würde er eine Alarmanlage ausschalten.
Sie stürzten in den Hof, rannten, über die Bänke springend, an Pavillons und Rutschen des Kinderspielplatzes vorbei. Fast im Flug streifte Sascha das rostige Skelett der Schaukel und hörte einige Sekunden lang hinter seinem Rücken deren rhythmisches Ächzen.
Hinter den Jungs liefen drei Milizionäre schweren Schritts und forderten sie drohend auf, stehenzubleiben. Sascha, der sich auf den Ruf hin umdrehte, sah, dass der erste von ihnen dem Schäferhund kaum nachkam, den er unter Mühen[39] an der Leine festhielt.
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