Am nächsten Morgen wurde Keira von einem schrillen, unerwünschten Alarm geweckt. Im Versuch ihn zu ignorieren, zog sie ihr Kissen über den Kopf, konnte aber schon bald fühlen, wie Milo sanft ihren Ellenbogen anstupste. Sie zog das Kissen langsam von ihrem Gesicht und schaute darunter hervor. Es war noch nicht einmal richtig hell. Milo lächelte zu ihr hinunter, aber sie konnte auch Sorgen in seinen Augen sehen.
„Es ist an der Zeit“, sagte er.
Keira resignierte stöhnend, zog das Kissen nun vollständig von ihrem Gesicht und setzte sich auf. Sie sah, dass Milo bereits angezogen war. Neben ihr auf dem Nachttisch stand ein Tablett mit Kaffee und Frühstück.
„Hast du das für mich gemacht?“, fragte sie bewegt.
„Ich wollte nicht, dass du hungrig ins Flugzeug steigst“, sagte er mit einem schüchternen Schulterzucken.
Keira lehnte sich vor und strich ihm sanft über die stoppelige Wange. Sie küsste ihn zärtlich. „Vielen Dank“, sagte sie mit tiefer Hingebung.
Der Anflug von Trauer, den sie seit gestern gefühlt hatte, war wieder da. Die Emotionen schnürten ihr die Kehle zu, als ihr wirklich klar wurde, dass heute alles für sie beide enden würde. Sie schob schnell die Bettdecke zur Seite und versuchte nicht vor Milo zusammenzubrechen. Sie wirbelte im Zimmer herum, um ihre auf dem Fußboden verstreuten Kleidungsstücke einzusammeln.
„Keira“, sagte Milo mit seiner freundlichen, vorsichtigen Stimme.
„Was?“, antwortete sie, ohne ihn anzusehen und versuchte dabei ihre Stimme ruhig zu halten.
„Dein Frühstück.“
Keira griff ihre Waschtasche vom Schrank und warf sie schnell in ihren Koffer. „Ich muss packen.“
„Es gibt keinen Grund zur Eile“, sagte er. Seine Stimme war ruhig wie immer, was das genaue Gegenteil von dem war, wie Keira sich fühlte. „Wir haben genug Zeit uns hinzusetzen und einen Kaffee zu trinken.“
„Ich möchte das hier lieber zuerst machen“, antwortete Keira und hörte, wie ihre Stimme kippte.
Hinter sich hörte sie, dass Milo aufstand. Er kam zu ihr hinüber und griff nach ihren Schultern. Sie zuckte zusammen, ängstlich, in ihrem emotional verletzbaren Zustand nicht in der Lage zu sein, mit seiner Liebe umzugehen. Aber es war zu spät. Nur das Gefühl, ihn hinter sich zu spüren, ließ ihre Fassade bröckeln. Die Tränen begannen aus ihren Augen zu fließen.
Sie drehte sich um und fiel in Milos Umarmung. Sie standen für eine lange Zeit so da und Keira ließ den aufgestauten Emotionen endlich freien Lauf. Zu ihrer Überraschung fühlte sie, dass, wenn sie sich selbst erlaubte, verletzbar zu sein und die Tränen laufen zu lassen, dies ihre Macht über sie bereits schmälerte. Sie riss sich zusammen, viel schneller als sie es normalerweise könnte und fühlte sich bereits wesentlich besser.
„Kaffee?“, fragte sie und löste sich aus Milos Umarmung.
Er nickte und sie saßen zusammen auf seinem Bett und tranken gemeinsam einen letzten Kaffee. Die Tränen auf Keiras Wangen waren getrocknet.
„Ich freue mich nicht darauf, deiner Familie auf Wiedersehen sagen zu müssen“, gab sie zwischen den Schlucken zu. „Ich meine, ihr alle fühlt euch jetzt wie meine Familie an. Ich werde eine heulende Idiotin sein.“
Milos Lippen zuckten. „Es wird schon gehen. Es ist ja nicht für immer. Oder zumindest muss es das nicht sein.“
Keira blieb stumm und wälzte viele Gedanken. Sie war sich noch nicht sicher, was sie wollte und wie ihre Geschichte weitergehen würde. Ob es überhaupt eine Geschichte für sie beide geben würde.
Milo musste ihr Zögern bemerkt haben.
„Aber wir müssen nicht jetzt darüber reden“, sagte er und sein Blick schweifte ab.
Nachdem sie ihr Frühstück und den Kaffee beendet hatte, ging Keira ins Bad, um sich zu waschen und sich für den langen Flug, der vor ihr lag, entsprechend zu kleiden. Normalerweise graute ihr vorm Reisen, aber sie hatte sich so sehr daran gewöhnt, dass es ihr fast nichts mehr ausmachte. Wie schnell sie sich an ihren neuen Jetsetter-Lebensstil gewöhnt hatte. Sie dachte mit einem Funken der Aufregung daran, dass in New York City eine neue Wohnung auf sie wartete; ihr erster richtiger Schritt in Richtung vollständiger Unabhängigkeit.
Als ihre Taschen vollständig gepackt waren, gingen sie und Milo die Treppen hinunter. Die Familienmitglieder hatten sich in der Küche versammelt und waren alle selbst mitten beim Frühstück. Keira wusste, dass sie extra den Aufwand betrieben hatten, früher aufzustehen, nur um sich von ihr zu verabschieden und war gerührt von der Geste.
Regina war die Erste, die aufstand. Sie kam zu ihr hinüber und umarmte Keira fest, wobei ihr sonst so ernsthafter Ausdruck wesentlich weicher wirkte.
„Ich werde es vermissen, noch eine Frau hier im Haus zu haben“, sagte sie. „Es war schön, für eine Woche eine Schwester zu haben.“
„Ich bin nur einen Telefonanruf entfernt“, erinnerte Keira sie.
Nils nahm jetzt Reginas Platz ein und stand mit seinen fast zwei Metern Größe direkt vor Keira. Er klopfte ihr fest auf die Schulter.
„Du bist hier jederzeit herzlich willkommen“, sagte er. „Wirklich jederzeit.“
„Vielen Dank“, antwortete Keira.
Dann zog er sie in eine unbeholfene Halbumarmung. Keira fühlte sich in seinen großen Armen wie ein Kind.
Sie löste sich aus der Umarmung und wandte ihre Aufmerksamkeit Yolanta zu. Während ihres Aufenthaltes war ihr Milos Mutter am meisten ans Herz gewachsen und von den Dreien würde es ihr am schwersten fallen, sich von ihr zu verabschieden.
Yolanta nahm Keiras Gesicht in einer sehr mütterlichen Geste zwischen ihre Hände.
„Wunderschönes, talentiertes Mädchen“, sagte sie. „Du kommst wieder, um uns zu besuchen, nicht wahr?“
Keira errötete. „Das werde ich.“
Yolanta nickte zufrieden und die zwei umarmten sich fest.
„Wir sollten lieber losgehen“, sagte Milo, der hinter ihnen stand.
Keira löste sich aus Yolantas Armen und sah ihn über ihre Schulter hinweg an, wie er dort an der Tür mit all ihrem Gepäck zu seinen Füßen dastand. Sie sah zurück zur Familie.
„Ich vermute, es ist soweit“, sagte sie mit einem schweren Seufzen. „Ich werde euch vermissen. Vielen Dank für eure Gastfreundlichkeit. Es war das beste Weihnachtsfest, das ich je hatte. Ich werde diese Erinnerungen für immer in meinem Herzen tragen.“
„Es war uns eine Freude, dich hier zu haben“, sagte Nils.
„Komm wieder, wann immer du willst“, fügte Regina hinzu.
„Wir werden dich schon bald wieder sehen“, sagte Yolanta mit Betonung auf bald.
Keira nickte. Sie drehte sich von ihnen weg, ging zu Milo hinüber und griff nach einer ihrer Taschen. Milo öffnete die Tür und ein kalter Stoß schwedischer Winterluft blies hinein und ließ sie erschauern. Milo ging hinaus in den kalten Wintertag und lief in Richtung Auto. Keira schluckte den Kloß in ihrem Hals hinunter, als sie der Familie hinter sich ein letztes Mal winkte.
„Auf Wiedersehen!“, sagten alle gleichzeitig.
Dann folgte Keira Milo und schloss sanft die Tür hinter sich. Sie lief den verschneiten Pfad im Garten entlang und genoss noch einmal die Aussicht auf die Berge. Keira versuchte, den Anblick in ihrer Erinnerung einzubrennen. Sie wollte diese Aussicht niemals vergessen, diesen Ort und diese Familie. Jedes Detail sollte sicher in ihren Gedanken gespeichert wurde.
Sie hob ihre Tasche in den Kofferraum und stieg auf der Beifahrerseite in Milos kleines Auto ein. Er startete den Wagen.
„Fertig?“, fragte er.
„Fertig“, antwortete sie mit einem endgültigen Nicken.
Als er losfuhr, sah sie noch einmal über ihre Schulter zurück und machte ein letztes geistiges Foto.
Gerade als das Haus aus ihrer Sicht verschwand, hörte Keira, wie ihr Handy piepste. Sie angelte es aus ihrer Tasche und sah, dass sie eine Textnachricht von Elliot erhalten hatte. Sie runzelte die Stirn. Es sah Elliot gar nicht ähnlich, eine SMS zu schreiben. Normalerweise hielt er die Dinge zwischen ihnen eher förmlich.
Sie öffnete die Nachricht und las.
Fröhliche Weihnachten, Keira! Ich hoffe, du hattest dein Happy End …
Sie lächelte, berührt davon, dass Elliott ihr eine persönliche Nachricht schrieb. Aber dann las sie den Rest:
Nur eine Erinnerung, dass morgen der Abgabetermin für deinen Artikel ist. Du hattest bereits eine Verlängerung, dies ist also endgültig.
Sie stöhnte. Elliott wusste, wann ihr Flugzeug heute losfliegen würde und hatte trotzdem gewählt, sie jetzt zu kontaktieren, auf die direkteste und persönlichste Art und Weise, anstatt ihr, wie sonst, eine E-Mail zu schicken. Er versuchte, das wenige bisschen Zeit, das sie mit Milo noch hatte, von ihr zu nehmen. Sie schaltete ihr Handy aus und warf es zurück in ihre Tasche.
„Ist alles in Ordnung?“, fragte Milo.
„Ja“, sagte Keira mit einem schnellen Lächeln.
Aber in Wirklichkeit fühlte sie sich, als hätte die Realität sie mit einem plötzlichen Blitz wieder eingeholt. Ihre Fantasiereise war vorbei. Es war an der Zeit, in die reale Welt zurückzukehren.
*
Keira und Milo standen Hand in Hand nebeneinander am Ausgang zum Flugsteig für ihren Flug. Die Flugnummer begann im selben Moment auf dem Bildschirm zu blinken, als eine Stimme über den Lautsprecher ertönte:
„Dies ist der Aufruf zum Boarding für Swedish Air 145 von Stockholm nach New York. Wir möchten alle Passagiere bitten, sich zum Ausgang zu begeben.“
Keira drehte sich zu Milo. „Das bin ich“, sagte sie.
Er nickte. Sein Gesichtsausdruck war griesgrämiger als je zuvor, als er sich vorbeugte, um sie auf die Stirn zu küssen.
„Viel Glück bei allem, Keira“, sagte er.
„Das klingt so endgültig“, antwortete sie murmelnd.
„Entschuldige“, antwortete Milo. „Ich habe schon den ganzen Morgen das Gefühl von dir bekommen, dass es, sobald du abreist, zwischen uns vorbei sein wird.“
Keira zog ihre Augenbrauen hoch. Es erschien etwas ungewöhnlich für den sonst so geradeheraus sprechenden Milo, sich von seinem Gefühl leiten zu lassen. Aber er hatte nicht Unrecht.
Sie seufzte.
„Es ist einfach nicht praktisch“, sagte sie. „Das weißt du, oder? Du willst nicht fliegen oder Schweden verlassen und ich möchte nicht aus New York wegziehen. Das ist einfach, wie es ist. Es ist nicht meine Absicht, so kalt zu sein.“
„Nein, es ist in Ordnung“, sagte Milo mit einem Nicken. „Du weißt, wie sehr ich Ehrlichkeit schätze. Es ist einfach nur schade. Wir hatten so viel Spaß zusammen.“
„Es soll ja nicht so klingen, als würden wir nie wieder miteinander sprechen“, sagte Keira und schenkte ihm ein halbes Lächeln. „Wir können noch immer Freunde sein.“
Milos besorgte Miene erhellte sich ein bisschen. „Okay. Ja. Das würde ich gern.“
„Gut“, antwortete Keira mit einem erleichterten Seufzen. Sie konnte den Gedanken, dass er komplett aus ihrem Leben verschwinden würde, einfach nicht ertragen, obwohl sie sehr wohl verstand, dass sie sich romantisch gesehen voneinander lösen mussten.
Einladend öffnete Keira ihre Arme für eine Umarmung und Milo nahm sie an. Sie hielten einander für eine lange Zeit fest. Erst als die Stimme zum zweiten Mal aus dem Lautsprecher erklang, die die Passagiere bat, das Flugzeug zu besteigen, lösten sie sich wieder voneinander.
„Ich gehe jetzt besser“, sagte Keira. Sie sah ihm tief in die Augen. „Auf Wiedersehen, Milo.“
Er hielt ihre Hand fest, in einem Versuch die Zeit noch hinauszuzögern. „Ich weiß, das ist vielleicht etwas Seltsames zu sagen … aber, ich danke dir. Ich bin sehr glücklich, dich getroffen zu haben.“
Keira lächelte. „Es geht mir genauso.“
„Auf Wiedersehen, Keira.“
Als ihre Hand sich von Milos löste, drehte Keira sich weg und ging los. Als sie den Flugsteig erreichte und dem Mann dort ihre Bordkarte und ihren Pass reichte, sah sie ein letztes Mal zurück. Milo stand noch immer dort, wo sie ihn soeben zurückgelassen hatte. Sie winkte mit einem Anfall von Trauer in der Brust. Er winkte zurück.
„Bitte schön, Fräulein Swanson“, sagte der Mann und gab ihr ihre Dokumente zurück.
„Danke schön“, sagte sie und nahm sie entgegen.
Sie drehte sich nicht noch einmal um.
*
Keira begab sich zu ihrem Sitzplatz im Flugzeug. Obwohl sie ein bisschen traurig über das Ende der Dinge zwischen ihr und Milo war, fühlte sie sich ebenso energiegeladen. Ihre ganze Erfahrung in Schweden hatte sich wie eine Vorbereitung auf ihre neu gefundene Unabhängigkeit angefüllt.
Sie sah sich um und betrachtete die anderen Leute im Flugzeug. Auf den Plätzen links neben ihr saß ein sich küssendes Pärchen, ein bisschen weiter vorn eine Familie mit Kindern, die herumsprangen, während die Eltern versuchten, sie zum Hinsetzen zu bewegen. Zum ersten Mal war Keira nicht neidisch. Stattdessen fühlte sie eine neue Freiheit und Trost in ihrer Unabhängigkeit. Ihr Leben war anders, als das all dieser anderen Leute und sie würde es nicht anders wollen.
Mit einem ermutigten Gefühl zog Keira ihren Laptop aus ihrer Handgepäcktasche und begann an ihrem Artikel zu arbeiten. Sie wählte dieses Mal eine andere Herangehensweise, als sie es in ihren vergangenen Artikeln getan hatte und schrieb über die Freiheit des Ungebundenseins.
Von nun an, wenn ich liebe, werde ich es auf die skandinavische Art tun.
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