„Danke“, murmelte sie. „Aber ich scheine hier draußen keinen Empfang zu haben.“
Ihre Gedanken kehrten zu ihrem Handy und den leeren Balken zurück, was sie wieder daran erinnerte, wie einsam sie wirklich war.
„Ein Stück die Straße hinauf gibt es eine Telefonzelle“, merkte Daniel an. „Aber ich würde es nicht riskieren, mitten in einem Blizzard dorthin zu gehen. Und außerdem wird der Laden jetzt sowieso geschlossen haben.“
„Natürlich“, murmelte Emily, die von der Ausweglosigkeit der Situation frustriert war.
Daniel musste erkannt haben, wie verärgert und niedergeschlagen Emily war. „Ich könnte ein Feuer für dich entzünden“, bot er mit einem Nicken in Richtung des Wohnzimmers an. Seine Augenbrauen hoben sich in Erwartung, fast schon schüchtern, was ihm plötzlich ein jungenhaftes Aussehen verlieh.
Emily wollte protestieren, ihm sagen, dass er sie in dem eiskalten Haus allein lassen sollte, weil das das Mindeste war, das sie verdiente, doch ein Teil in ihr zögerte. Vielleicht fühlte sie sich weniger einsam, wenn Daniel im Haus war, weniger von der Zivilisation abgeschnitten. Sie hatte nicht erwartet, dass sie mit dem Handy kein Empfang hatte, sie Amy nicht erreichen konnte, und dass die Realität, die erste Nacht alleine in dem kalten, dunklen Haus zu verbringen, beängstigend war.
Daniel musste den Grund ihres Zögerns erkannt haben, denn er ging aus dem Raum, noch bevor sie ihren Mund öffnen konnte, um etwas zu sagen.
Sie folgte im, insgeheim dankbar dafür, dass er die Einsamkeit in ihren Augen gesehen und ihr angeboten hatte, zu bleiben, auch wenn es unter dem Vorwand des Feuermachens war. Sie fand Daniel im Wohnzimmer, wo er im Kamin einen kleinen Haufen aus Holzstückchen, Kohle und Holzscheiten errichtete. Sofort schoss ihr eine Erinnerung an ihren Vater durch den Kopf, wie er vor dem Kamin kniete und fachmännisch ein Feuer entzündete. Er war bei dieser Aufgabe so sorgfältig vorgegangen als ob er ein großes Kunstwerk anfertigen würde. Sie hatte ihm tausende Male dabei zugesehen und es immer geliebt. Sie fand das Feuer hypnotisch und hatte Stunden damit verbracht, sich vor dem Kamin auf den Teppich zu legen und zu beobachten, wie die orangen und roten Flammen tanzten. Sie hatte so lange dort gesessen, dass die Hitze auf ihrer Haut stach.
Gefühle wallten in Emily auf und drohten, sie zu ersticken. Bei dem Gedanken an ihren Vater, die Erinnerung war noch so klar in ihrem Geist, sammelten sich die lange Zeit unterdrückten Tränen in ihren Augen. Sie wollte nicht vor Daniel weinen, sie wollte nicht wie eine erbärmliche, hilflose Frau aussehen. Deshalb drängte sie alle Gefühle zurück und schritt zielstrebig in den Raum.
„Ich weiß sogar, wie man ein Feuer entfacht“, sagte sie zu Daniel.
„Oh, tust du das wirklich?“, erwiderte Daniel, der sie mit hochgezogener Augenbraue anschaute. „Dann nur zu.“ Er hielt ihr die Streichhölzer entgegen.
Emily nahm sie ihm aus der Hand und zündete eines von ihnen an, die kleine orange Flamme zuckte zwischen ihren Fingern. In Wirklichkeit hatte sie ihrem Vater lediglich beim Feuermachen zugesehen, sie selbst hatte eigentlich noch nie eines entfacht. Innerhalb von Sekunden entzündete sich das Feuer, das altbekannte Geräusch tröstete sie und ließ sie in Nostalgie schwelgen, genau wie alles andere in diesem Haus auch. Als die Flammen begannen anzusteigen, war sie sehr stolz auf sich selbst. Doch anstatt den Kamin hinaufzuziehen, breitete sich schwarzer Rauch in dem Raum aus.
„Verdammt!“, schrie Emily, als Rauchwolken sie umhüllten.
Daniel fing an zu lachen. „Hattest du nicht gesagt, du wüsstest, wie man ein Feuer macht?“, fragte er, während er den Kaminschacht öffnete. Sofort wurde die Rauchwolke in den Kamin gezogen. „Tada!“, fügte er grinsend hinzu.
Als der Rauch um sie herum immer dünner wurde, warf Emily ihm einen verärgerten Blick zu, sie war zu stolz, um ihm für seine Hilfe, die sie so offensichtlich gebraucht hatte, zu danken. Trotzdem war sie erleichtert, dass es endlich warm wurde. Sie spürte, wie ihr Kreislauf wieder in Schwung kam und die Wärme in ihre Zehen und ihre Nase zurückkehrte. Ihre steifen Finger lösten sich langsam.
Das Licht des Feuers erhellte das Wohnzimmer und tauchte es in ein sanftes, oranges Licht. Endlich konnte Emily all die antiken Möbel sehen, mit denen ihr Vater das Haus gefüllt hatte. Sie schaute sich um und warf einen Blick auf die schäbigen, vernachlässigten Gegenstände. Das große Bücherregal stand in einer Ecke, einst war es mit Büchern vollgestopft gewesen, die sie endlose Sommertage lang gelesen hatte, doch jetzt waren nur noch ein paar wenige übriggeblieben. Dann gab es noch den alten Flügel neben dem Fenster. Mit Sicherheit war er jetzt komplett verstimmt, doch vor all den Jahren hatte ihr Vater Lieder für sie gespielt, zu denen sie gesungen hatte. Ihr Vater war so stolz auf das Haus gewesen und es jetzt in dem strahlenden Licht zu sehen, das seinen ungepflegten Zustand enthüllte, machte sie traurig.
Über den zwei Sofas lagen weiße Tücher. Emily überlegte, ob sie sie entfernen sollte, doch das würde nur eine Staubwolke aufwirbeln. Nach dem Rauch, der aus dem Kamin gequollen war, glaubte sie nicht, dass ihre Lunge das aushalten würde. Und außerdem sah es ziemlich gemütlich aus, wie Daniel neben dem Kamin auf dem Boden saß, weshalb sie sich neben ihm niederließ.
„Also“, meinte Daniel, während er seine Hände am Feuer wärmte. „Wir haben es immerhin geschafft, dich aufzuwärmen. Aber im Haus gibt es keinen Strom und ich nehme nicht an, dass sich in deinem Koffer Laternen oder Kerzen befinden.“
Emily schüttelte den Kopf. Ihre Koffer waren voller unwichtiger Dinge, nichts, was man gebrauchen konnte, nichts, was sie hier wirklich weiterbrachte.
„Mein Vater hatte früher immer Kerzen und Streichhölzer“, sagte sie. „Er war immer vorbereitet. Ich nehme an, ich hatte erwartet, dass es immer noch einen Schrank mit diesen Dingen gäbe, aber nach zwanzig Jahren…“
Sie schloss ihren Mund, plötzlich wurde ihr bewusst, dass sie eine Erinnerung an ihren Vater laut ausgesprochen hatte. Das tat sie nicht oft, normalerweise behielt sie ihre Gefühle für ihn tief in sich verborgen. Die Leichtigkeit, mit der sie gerade eben von ihm gesprochen hatte, überraschte sie.
„Dann können wir ja einfach hier drinnen bleiben“, erwiderte Daniel mit sanfter Stimme, als ob er erkannt hätte, dass Emily gerade eine schmerzhafte Erinnerung durchlebte. „Im Licht des Feuers kann man mehr als genug sehen. Willst du einen Tee?“
Emily runzelte die Stirn. „Tee? Wie genau willst du ihn denn ohne Strom kochen?“
Daniel lächelte, als ob er eine Art Herausforderung annehmen würde. „Schau zu und lern.“
Er stand auf und verschwand aus dem großen Wohnzimmer, nur, um wenige Minuten mit einem kleinen runden Topf zurückzukehren, der wie ein Kessel aussah.
„Was hast du da?“, fragte Emily neugierig.
„Oh, nur den besten Tee, den du jemals trinken wirst“, antwortete er und hängte den Kessel über die Flammen. „Du hast noch nie einen echten Tee getrunken, bis du nicht einen versucht hast, der über einem Feuer gekocht wurde.“
Emily beobachtete ihn, wie das Licht des Feuers über seine Gesichtszüge zuckte und sie auf eine Weise betonte, die ihn sogar noch attraktiver machte. Die Tatsache, dass er sich so auf seine Arbeit konzentrierte, verstärkte seine Anziehungskraft.
„Hier“, sagte er und hielt ihr einen Becher hin, wodurch er ihre Gedanken unterbrach sah sie abwartend an, als sie den ersten Schluck nahm.
„Oh, der ist wirklich gut“, gab Emily erleichtert zurück, endlich die Kälte aus ihren Knochen vertreiben zu können.
Daniel begann zu lachen.
„Was?“, verlange Emily zu wissen.
„Ich habe dich einfach noch nicht lachen gesehen, das ist alles“, antwortete er.
Emily wandte ihren Blick ab, auf einmal fühlte sie sich etwas verlegen. Daniel war das genaue Gegenteil von Ben und doch fühlte sie sich stark zu ihm hingezogen. Vielleicht würde sie an einem anderen Ort und zu einer anderen Zeit ihrer Lust nachgeben. Immerhin war sie sieben Jahre lang mit Ben zusammen gewesen und verdiente ein wenig Aufmerksamkeit, ein wenig Aufregung.
Doch jetzt war nicht der richtige Moment dafür. Nicht mit all dem, was gerade vor sich ging, mit ihrem Leben, das ein totales Chaos und komplett durcheinander war, und mit den Erinnerungen an ihren Vater, die ihr durch den Kopf schwirrten. Sie hatte das Gefühl, dass sie seinen Schatten sehen konnte, wo immer sie auch hinschaute: wie er mit einer jungen Emily, die sich an ihn kuschelte, auf dem Sofa saß und ihr vorlas; wie er mit einem breiten Grinsen zur Tür hereinplatzte, nachdem er auf den Flohmarkt ein paar wertvolle Antiquitäten erstanden hatte. Aber wo waren all diese Antiquitäten jetzt? All die Figürchen und Kunstwerke, Gedenkgeschirr und Geschirrstücke aus der Zeit des Bürgerkriegs? Das Haus war nicht wie es in ihrer Erinnerung in der Zeit stehen geblieben. Stattdessen hatte sie solch drastischen Auswirkungen auf das Haus gehabt, wie sie es nicht für möglich gehalten hätte.
Erneut wurde Emily von einer Welle des Trauers überrollt, als sie sich in dem staubigen, ungepflegten Zimmer umsah, das einst voller Leben und Lachen gewesen war.
„Wie konnte dieser Ort nur so zerfallen?“, rief sie plötzlich aus, wobei sie den anklagenden Ton nicht aus ihrer Stimmer verdrängen konnte. Sie runzelte die Stirn. „Ich meine, deine Aufgabe ist es doch, darauf aufzupassen, oder etwa nicht?“
Daniel zuckte zurück, als ob er von ihrer plötzlichen Aggressivität überrascht wäre. Noch vor wenigen Augenblicken hatten sie einen sanften, zärtlichen Moment miteinander geteilt und nur wenige Sekunden später machte sie ihm Vorwürfe. Daniel warf ihr einen kalten Blick zu. „Ich tue mein Bestes. Ich habe schließlich auch nur zwei Hände.“
„Es tut mir leid“, sagte Emily, die sofort einen Rückzieher machte, denn sie mochte es nicht, der Grund für Daniels dunklen Gesichtsausdruck zu sein. „Ich wollte dich nicht beleidigen. Ich meine nur…“ Sie schaute in ihren Becher und schwenkte die Teeblätter darin. „Als Kind war dieser Ort für mich wie aus einem Märchen. Er war so ehrfurchtgebietend, weißt du? So wunderschön.“ Sie schaute auf und stellte fest, dass Daniel sie intensiv musterte. „Es ist traurig, ihn so zu sehen.“
„Was genau hast du denn erwartet?“, gab Daniel zurück. „Es ist zwanzig Jahre lang vernachlässigt worden.“
Emily wandte ihren Blick traurig ab. „Ich weiß. Ich glaube, ich hatte mir immer gewünscht, dass die Zeit stehen geblieben ist.“
Stillgestandene Zeit, genau wie das Bild ihres Vaters, das sie in ihrem Kopf hatte. Darin war er immer noch vierzig Jahre alt, war keinen einzigen Tag gealtert und schaute immer noch so aus, wie sie ihn zuletzt gesehen hatte. Emilys Entschluss, das Haus übers Wochenende wieder auf Vordermann zu bringen, wurde immer stärker. Sie wollte nichts mehr, als es zu restaurieren, um einen Teil seines früheren Glanzes wiederherzustellen. Vielleicht wäre das so, als würde sie ihren Vater wieder zurückholen. Sie könnte es für ihn tun.
Emily trank den letzten Schluck Tee aus und stellte die Tasse ab. „Ich sollte ins Bett gehen“, sagte sie. „Es war ein langer Tag.“
„Natürlich“, erwiderte Daniel, während er aufstand. Er bewegte sich schnell, schlenderte aus dem Raum und den Flur entlang zur Haustür, ohne darauf zu achten, ob Emily mitkam. „Wenn du Hilfe brauchst, ruf mich einfach an, okay?“, fügte er hinzu. „Ich wohne in dem Kutschenhaus dort drüben.“
„Das wird nicht nötig sein“, erwiderte Emily empört. „Ich komme alleine zurecht.“
Daniel riss die Haustür auf, wodurch ein starker Lufthauch voller Schnee hereinwehte. Er kauerte sich in seine Jacke, bevor er sie noch einmal über die Schulter hinweg anschaute. „Mit Stolz wirst du hier nicht weit kommen, Emily. Es ist nicht schlimm, nach Hilfe zu fragen.“
Sie wollte ihm hinterherschreien, mit ihm streiten, um seine Behauptung, sie sei stolz, zu widerlegen, doch stattdessen starrte sie auf seinen Rücken, als er inmitten des umherwirbelnden Schnees im Dunkel der Nacht verschwand. Sie brachte kein einziges Wort heraus, sie war komplett sprachlos.
Emily schloss die Tür, womit sie die Welt da draußen und die Kraft des Blizzards hinaussperrte. Jetzt war sie ganz alleine. Von dem Feuer, das im Wohnzimmer brannte, drang Licht in den Flur, doch es war nicht stark genug, um die Treppe hinauf zu leuchten. Sie schaute die lange, hölzerne Treppe hoch, die in die Dunkelheit verschwand. Wenn sie nicht vorhatte, auf einem der staubigen Sofas zu schlafen, dann musste sie sich trauen, hinauf in die Finsternis zu gehen. Sie fühlte sich wieder wie ein Kind, das vor dem schattenreichen Keller Angst hatte, und das sich alle möglichen Monster und Schauergestalten vorstellte, die dort unten auf sie warteten. Nur war sie jetzt eine erwachsene Frau von fünfunddreißig Jahren, die zu große Angst hatte, nach oben zu gehen, weil sie wusste, dass der Anblick der Vernachlässigung schlimmer war, als jede Schauergestalt, die sie sich vorstellen konnte.
Stattdessen ging Emily zurück ins Wohnzimmer, um die letzte Wärme des Feuers in aufzusaugen. Im Bücherregal standen immer noch ein paar Exemplare – Der geheime Garten, Fünf Kinder, Es – Klassiker, die ihr Vater ihr vorgelesen hatte. Aber wo war der Rest? Was war mit den Besitztümern ihres Vaters geschehen? Sie waren an jenen unbekannten Ort verschwunden, wie auch ihr Vater selbst.
Als die Glut verlosch, legte sich wieder die Dunkelheit um sie, was zu ihrer düsteren Stimmung passte. Sie konnte die Müdigkeit nicht länger vertreiben, es war an der Zeit, die Stufen hinaufzugehen.
Gerade als sie das Wohnzimmer verließ, hörte sie ein seltsames, kratzendendes Geräusch an der Haustür. Zuerst dachte sie, dass ein wildes Tier nach Essensresten suchte, doch dafür war das Geräusch zu deutlich.
Mit klopfendem Herzen ging sie auf leisen Sohlen den Flur entlang zur Haustür, an die sie ihr Ohr drückte. Was auch immer sie dachte, gehört zu haben, war jetzt weg. Alles, was sie hören konnte, war der heulende Wind. Doch etwas reizte sie, die Tür zu öffnen.
Sie zog sie auf und sah, dass auf der Stufe davor Kerzen, eine Laterne und Streichhölzer lagen. Daniel musste zurückgekommen sein und sie für sie dorthin gelegt haben.
Sie schnappte sich die Sachen und nahm widerstrebend sein Hilfsangebot an, auch wenn es ihren Stolz verletzte. Doch zur selben Zeit war sie so dankbar, dass sich jemand um sie sorgte. Sie hatte zwar ihr Leben aufgegeben und war zu diesem Ort geflohen, aber sie war nicht mehr komplett alleine hier.
Emily entzündete die Laterne und brachte endlich genug Mut auf, um in das obere Stockwerk zu gehen. Während das sanfte rote Licht der Laterne sie die Treppe hinaufführte, nahm sie den Anblick der Bilderrahmen an den Wänden in sich auf, deren Bilder im Laufe der Zeit verblasst waren und von Spinnenweben und Staub bedeckt waren. Die meisten Bilder waren Aquarelle aus der Gegend – Segelschiffe auf dem Meer, immergrüne Bäume im Nationalpark – doch nur eines davon war ein Familienportrait. Sie blieb stehen und starrte auf das Bild, sie betrachtete sich selbst als kleines Kind. Sie hatte dieses Bild komplett vergessen, hatte es in eine Ecke ihres Gedächtnisses verdrängt und zwanzig Jahre lang weggeschlossen.
Nachdem sie ihre Gefühle hinuntergeschluckt hatte, ging sie weiter die Treppe hinauf. Die alten Stufen knarzten laut unter ihren Füßen und sie stellte fest, dass einige von ihnen gesprungen waren. Sie waren durch jahrelange Nutzung abgetreten und konnte sie sich wieder daran erinnern, wie sie als Kind in ihren roten Sandalen genau diese Treppe hinauf und hinuntergerannt war.
Am oberen Ende der Treppe erleuchtete die Lampe den langen Korridor – die zahlreichen Türen aus dunklem Eichenholz sowie das Fenster am anderen Ende, das vom Boden bis zur Decke reichte und jetzt mit Brettern verschlagen war. Ihr altes Schlafzimmer befand sich hinter der letzten Tür auf der rechten Seite, gegenüber dem Badezimmer. Sie konnte es nicht ertragen, eines der beiden Zimmer zu betreten. Ihr Schlafzimmer enthielt zu viele Erinnerungen, die auf einmal freigesetzt würden. Und genauso wenig hatte sie Lust, nachzusehen, welche gruseligen Krabbeltiere sich in den letzten Jahren im Badezimmer eingenistet hatten.
Stattdessen stolperte Emily den Flur entlang, an einer antiken, verzierten Kiste vorbei, an der sie sich früher oft ihren Zeh gestoßen hatte, und betrat schließlich das Zimmer ihrer Eltern.
Im Licht der Laterne konnte Emily sehen, wie viel Staub auf dem Bett lag und wie sehr die Bettwäsche im Laufe der Jahre von den Motten zerfressen worden war. Die Erinnerung an das schöne Himmelbett ihrer Eltern zerbrach in ihrem Kopf, als sie mit der Realität konfrontiert wurde. Zwanzig Jahre Vernachlässigung hatten den Raum verwüstet. Die Vorhänge waren schmutzig und voller Spinnenweben, es sah so aus, als hätten in ihnen ganze Generationen an Spinnenfamilien gehaust. Eine dicke Staubschicht hatte sich auf alles gelegt, auch auf den Schminktisch am Fenster und den kleinen Hocker, auf dem ihre Mutter vor vielen Jahren gesessen und sich ihr Gesicht vor dem Spiegel mit nach Lavendel riechender Creme eingerieben hatte.
Emily konnte das alles vor sich sehen, all die Erinnerungen, die sie die ganzen Jahre lang vergraben hatte. Sie konnte ihre Tränen nicht mehr zurückhalten. All die Emotionen der letzten Tage brachen über sie herein und wurden von den Gedanken an ihren Vater und dem plötzlichen Schock, als sie erkannte, wie sehr sie ihn vermisste, verstärkt.
Draußen wurden die Geräusche des Blizzards immer lauter. Emily stellte die Laterne auf das Nachttischkästchen, wodurch eine Staubwolke aufwirbelte, und machte sich bettfertig. Die Wärme des Feuers war nicht so weit hinaufgedrungen und als sie sich auszog, fühlte sich der Raum eisig an. In ihrem Koffer fand sie ihr seidenes Nachthemd, doch sie erkannte, dass es ihr hier nicht viel nützen würde. Unattraktive, lange Unterhosen und dicke Bettsocken würden sich besser eignen.
Emily zog die staubige, karmesinrote und goldene Patchwork-Tagesdecke zurück und schlüpfte ins Bett. Einen Moment lang starrte sie an die Zimmerdecke hinauf und dachte über all das nach, was in den letzten Tagen geschehen war. Einsam, kalt und mit einem Gefühl der Hilflosigkeit blies sie die Flamme der Laterne aus, überließ sich der Dunkelheit und weinte sich in den Schlaf.
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