Normalerweise war Kate vorsichtig damit ihrer Mutter nicht zu widersprechen. Das machte es nur noch schlimmer. Aber etwas fühlte sich heute anders an. Vielleicht war es, weil sie jetzt siebzehn war. Sie fühlte sich ein bisschen stärker, ein bisschen mächtiger. Im Hinterkopf fühlte sie vielleicht, dass sie am Scheitelpunkt zu etwas Aufregendem stand.
Kate öffnete den Kühlschrank und nahm einen Naturjoghurt heraus. Das war das einzige, was ihre Mutter sie momentan zum Frühstück essen ließ.
Sie nahm einen Löffel und begann, gegen die Küchentheke gelehnt, ihren Joghurt zu essen; unwillig sich dem Rest der Familie am Tisch anzuschließen.
Ihre Mutter ging mit dem Orangensaftkanister zum Tisch und schüttete jedem ein Glas ein.
Madison ließ ihren Handspiegel zuschnappen und sah ihre Schwester an.
"Willst du mit mir und Max zur Schule fahren?" fragte sie und fuhr mit ihren Augen über Kates mitgenommene Schuhe, die zerrissene Jeans und das wenig schmeichelhafte T-Shirt.
Kate warf einen Blick auf Max. Er sah noch schuldbewusster aus als vorher. Max war immer mit dem Fahrrad mit ihr zusammen zur Schule gefahren, aber nachdem sie in das neue Haus gezogen waren, was die Strecke deutlich länger machte, wurde er im Auto von Madison mitgenommen. Es sollte ihr nichts ausmachen – es dauerte eine Stunde bis zur San Marcos Senior School, im Vergleich zu kaum fünfzehn Minuten mit dem Auto – aber sie vermisste das Gefühl von Verbundenheit mit ihm. Es war, als würde er dadurch, dass sie zusammen mit Fahrrad fuhren, schweigend zeigen, dass er der Hackordnung im Haus nicht zustimmte, an dessen Spitze unangefochten Madison stand. Aber jetzt war dieser stille Protest gebrochen worden. In einem ihrer paranoideren Momente hatte Kate sich gefragt, ob ihre Mutter nur deshalb auf das Haus am Butterfly Beach bestanden hatte, um sie und Max auseinanderzubringen.
"Kein Mitnehmen," warnte ihre Mutter, auch wenn ihr Ton bei Madison weicher war. "Kate braucht die Bewegung."
Kate sah auf die vier am Frühstückstisch und spürte einen Stich Eifersucht. Ihre Familie war vollkommen gestört, aber sie waren alles was sie hatte und von ihnen so getrennt zu sein war schmerzhaft.
"Ich nehme mein Fahrrad," erwiderte Kate mit einem Seufzen.
Madison zuckte mit den Schultern. Sie war nicht übermäßig gemein zu Kate, aber sie überschlug sich auch nicht, um für sie einzutreten. Madison war die Lieblingstochter im Haus und sie hatte es ziemlich bequem an der Spitze. Sich zu sehr auf Kates Seite zu schlagen, könnte ihr schaden. Sie hatte mit eigenen Augen gesehen, was passierte, wenn man in den Augen ihrer Mutter in Ungnade fiel und sie würde nichts tun, um das zu riskieren.
Über den Raum hinweg trafen sich Max' und Kates Blicke und er formte ein stilles Tut mir leid.
Sie schüttelte den Kopf und erwiderte ein lautloses Schon okay.
Es war nicht die Schuld von Max, dass er in der Mitte von allem gefangen war. Er sollte nicht denken, dass er für Ungerechtigkeiten ihrer Mutter die Schuld trug.
Max deutete auf Kates Tasche und hob eine Augenbraue.
Kate runzelte die Stirn und sah in ihre Umhängetasche. Da steckte ein hellblauer Umschlag. Sie schnappte nach Luft. Es war ganz offensichtlich eine Karte. Sie wurde von Dankbarkeit überwältigt. Er hatte ihr eine Geburtstagskarte in die Tasche geschmuggelt.
Kates Kopf schoss nach oben und sah ihm in die Augen, während er sie verlegen anlächelte.
Danke formte sie lautlos.
Er nickte und sein Lächeln wurde breiter.
"Hast du heute nicht Training, Liebes?" fragte ihre Mutter und ihre Augen glitzerten vor Stolz, als sie ihre schöne, talentierte, älteste Tochter ansah.
Die beiden fingen an über das Cheerleader-Training zu reden und kommentierten gehässig welche der Mädchen die Gruppe runterzogen oder wer in letzter Zeit ein paar Pfund zu viel zugenommen hatte. Ihre Mutter und Madison glichen sich wie ein Ei dem anderen. Kates Mutter war in ihren Highschool-Tagen eine erfolgreiche Cheerleaderin gewesen und für sie war es eine große Enttäuschung gewesen, als Kate das Lesen und Schreiben dieser Aktivität vorgezogen hatte.
In dem Moment stand ihr Vater vom Tisch auf. Alle erstarrten. Er war ein sehr großer Mann und ragte über ihnen auf, wodurch ein dunkler Schatten durch die ansonsten helle, sonnige Küche geworfen wurde.
"Ich bin spät dran für die Arbeit," murmelte er.
Kate spannte sich innerlich an. Der einzige Ort an den ihr Vater gehen sollte, war sein Bett, um seinen Kater auszuschlafen. Er war in einem schlimmen Zustand, mit dem Hemd, das aus der Hose hing und den Stoppeln auf seinem Kinn. Vielleicht war sein Alkoholproblem einer der Gründe, warum ihre Mutter Kates Aussehen so sehr kritisierte; vielleicht war sie nicht in der Lage zu kontrollieren wie vorzeigbar ihr Vater war und ließ es deshalb an ihrer Tochter aus.
Es wurde still im Raum, als jeder seinen Atem anhielt. Ihr Vater stapfte durch die Küche, nahm seine Autoschlüssel aus der Schüssel auf der Küchentheke und nahm seine Aktentasche vom Boden. Seine Bewegungen waren unkoordiniert und Kate bereitete es Sorgen, dass er in diesem Zustand zur Arbeit fahren wollte. Sie fragte sich, was seine Kollegen über ihn dachten. Wussten sie, wie viel er jeden Abend trank? Oder war er genauso gut im Schauspielern wie ihre Mutter? Wenn er auf die Arbeit kam, schlüpfte er mühelos in die Persönlichkeit eines anderen, eines besseren Mannes, eines Familienmannes, eines Mannes, der respektiert wurde? Er war oft genug befördert worden, wodurch sie sich dieses schöne Haus in einer guten Nachbarschaft leisten konnte, also musste er etwas richtig machen.
Sobald die Haustür zuschlug und der Automotor startete, entspannten sich alle ein wenig. Aber nicht viel. Manchmal war es nur das unberechenbare Temperament ihres Vaters, das ihre Mutter in Schach hielt. Ohne ihn hier, war sie der Boss von allem und jedem, insbesondere von Kate.
"Also," sagte sie und blickt mit kalten Augen auf ihre jüngere Tochter. "Ich habe mir die Rechnungen angeguckt seit wir in das neue Haus gezogen sind und wie es aussieht ist College für dich vom Tisch, Kate."
Kate erstarrte. Ihr ganzer Körper verwandelte sich in Eis.
"Was?"
"Du hast mich gehört," sagte ihre Mutter. "Diese Nachbarschaft ist teuer und wir können es uns nicht leisten euch beide zu schicken. Madison muss unsere Priorität sein. Du kannst durch dein Abschlussjahr arbeiten und dann das nächste Jahr eine Auszeit nehmen und mir helfen Madisons Studiengebühren zu bezahlen.
Kate fühlte wie der Joghurt sich in ihrem Magen umdrehte. Sie war so am Boden zerstört von diesen Neuigkeiten, dass sie das Gefühl hatte sie würde sich jeden Augenblick übergeben.
"Das … das kannst du nicht machen," stammelte sie.
Max machte sich auf seinem Stuhl klein. Selbst Madison sah unbehaglich aus, auch wenn Kate wusste, dass sie sich in keinster Weise für sie einsetzen würde.
"Ich bin deine Mutter und solange du unter meinem Dach lebst, kann ich tun was ich will. Madison wurde in einem guten College angenommen und ich werde nicht zulassen, dass du diese Möglichkeit für sie in Gefahr bringst." Der Gesichtsausdruck ihrer Mutter war hart. Ihre Arme waren fest über ihrer Brust verschränkt. "Und Glückwünsche wären auch angebracht," höhnte sie. "Ich glaube nicht, dass ich auch nur einen Piep von dir gehört habe, seit Madison ihren Brief bekommen hat. Du bist nicht einmal für den Kuchen geblieben."
Ihre Mutter hatte am Montag, als der Brief angekommen war, eine Party für Madison geschmissen. Sie hatte einen Kuchen gebacken – auch wenn Kate gesagt worden war, dass sie kein Stück davon essen durfte – und hatte sogar ein großes Banner aufgehängt. Madisons Feier war genau wie die Geburtstagsfeier, die Kate nicht bekommen würde.
Kates Herz raste. Ein roter Nebel senkte sich über ihren Verstand.
Plötzlich sprudelte es nur so aus ihr heraus.
"Und was ist mit mir?" rief sie. "Wie wäre es mit Herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag? Du hast nicht 'mal anerkannt, dass heute mein Siebzehnter ist! Warum muss sich immer alles um Madison drehen? Warum kannst du dich nicht zur Abwechslung mal um mich kümmern?”
Max' und Madisons Augen traten vor Angst aus den Höhlen. Kate hatte sich noch nie gewehrt und sie beide sorgten sich, wie die Vergeltung dafür aussehen könnte.
Der Ausdruck auf dem Gesicht ihrer Mutter machte klar, dass sie Kates Geburtstag vollkommen vergessen hatte. Aber sie würde ihren Fehler nicht zugeben – das tat sie nie.
"Ich habe nicht vor, das mit dir zu diskutieren, junge Dame. Du wirst mit mir Häuser putzen, um bei Madisons Studiengebühren zu helfen und damit ist die Sache erledigt." Ihr Ton war emotionslos und kalt. "Wenn ich noch ein weiteres Wort von dir höre, dann nehme ich dich aus der Schule und du bekommst nicht 'mal dein Highschool Abschlusszeugnis. Verstanden?" Sie sah Kate mit einem Blick purer Verachtung in den Augen an. "Bist du nicht spät dran für die Schule?" fügte sie hinzu.
Kate stand einfach da und rauchte vor Wut. Tränen stachen ihr in die Augen. Andere Kinder konnten sich auf Geschenke und Partys zu ihrem Geburtstag freuen. Alles was sie bekam, waren die Neuigkeiten, dass ihr ihre Zukunft weggenommen worden war.
Sie knallte den Joghurtbecher auf die Theke und stürmte aus dem Haus. Es war Mai und die heiße Sonne brannte auf ihrer bleichen Haut. Sie griff sich ihr Fahrrad von der Stelle, wo sie es am Tag zuvor nach der Schule fallen gelassen hatte und begann die Straße herunterzufahren. Sie trat so fest in die Pedalen wie sie konnte, in dem Versuch die Wut, die durch ihre Adern pulsierte, zu beruhigen.
Sie hasste ihre Mutter. Sie hasste das blöde neue Haus. Sie hasste ihre Familie. Es war alles eine Lüge. Das einzige, was sie all die Jahre über Wasser gehalten hatte, war das Wissen, dass sie von diesem Ort entkommen würde, von ihrer schrecklichen, erdrückenden Mutter und ihrem nutzlosen Trinker von einem Vater. Dass sie eines Tages aufs College gehen würde. Sie wollte an die Ostküste, so weit wie möglich von ihnen weg.
Jetzt war dieser Traum vorbei.
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