Читать книгу «Marsch der Könige» онлайн полностью📖 — Моргана Райс — MyBook.
image

KAPITEL SECHS

Ein Windstoß traf Gareth ins Gesicht und er blickte hoch in das blasse Licht der ersten aufgehenden Sonne, die Tränen wegblinzelnd. Der Tag brach gerade erst an, und schon hatten sich an diesem abgelegenen Ort hier am Rande der Kolvian-Klippen hunderte Verwandte, Freunde und enge Untertanen des Königs versammelt, die sich mit dem Wunsch zusammendrängten, an der Bestattung teilzunehmen. Direkt hinter ihnen, zurückgehalten von einem Heer an Soldaten, konnte Gareth die hereinströmenden Massen sehen, tausende Menschen, die der Zeremonie von Ferne beiwohnten. Die Trauer auf ihren Gesichtern war aufrichtig. Sein Vater war geliebt gewesen, soviel war sicher.

Gareth stand mit dem Rest der direkten Familie im Halbkreis um den Leichnam seines Vaters, der auf Brettern über einer Grube im Boden aufgebahrt war; bereit, hinabgelassen zu werden. Argon stand vor der Menge, in die tiefroten Roben gehüllt, die für Bestattungen vorbehalten waren, mit einem unergründlichen Ausdruck auf dem Gesicht, das von einer Kapuze verdunkelt wurde, und blickte auf den Leichnam des Königs hinab. Gareth versuchte verzweifelt, dieses Gesicht zu lesen; zu entziffern, wie viel Argon wusste. Wusste Argon, dass er seinen Vater umgebracht hatte? Und wenn ja, würde er es den anderen berichten—oder dem Schicksal seinen Lauf lassen?

Zu Gareths Unglück war dieser lästige Junge, Thor, von allen Vorwürfen freigesprochen worden; klarerweise hätte er den König nicht erstechen können, während er im Kerker saß. Nicht zu vergessen, dass sein Vater selbst allen anderen erklärt hatte, dass Thor unschuldig war. Was die Sache für Gareth nur noch schlimmer machte. Ein Rat war bereits gebildet worden, um die Sache zu untersuchen, jedes einzelne Detail seines Mordest genauestens unter die Lupe zu nehmen. Gareths Herz pochte, während er mit den anderen zusammen dastand und auf den Leichnam starrte, der bald in das Erdreich hinuntergelassen werden würde; er wollte mit ihm mit versinken.

Es war nur eine Frage der Zeit, bis die Spur zu Firth führte—und sobald das geschah, würde Gareth mit ihm zusammen fallen. Er würde schnell handeln müssen, um die Aufmerksamkeit abzulenken und die Schuld jemand anderem zuzuschieben. Gareth fragte sich, ob sein Umfeld ihn verdächtigte. Wahrscheinlich war er nur paranoid, und als er auf die Gesichter um ihn herum blickte, war da niemand, der ihn ansah. Da standen seine Brüder, Reece, Godfrey und Kendrick; seine Schwester Gwendolyn; und seine Mutter, ihr Gesicht von Trauer zerfurcht, wie erstarrt; tatsächlich war sie seit dem Tod seines Vaters wie verändert, kaum fähig, zu sprechen. Er hatte gehört, dass etwas mit ihr passiert war, als sie die Nachricht erhielt, in ihr drin; eine Art Lähmung. Ihr halbes Gesicht war wie erstarrt; wenn sie ihren Mund öffnete, kamen die Worte zu langsam hervor.

Gareth betrachtete die Gesichter des Königlichen Rats hinter ihr—sein führender General Brom und der Hauptmann der Legion, Kolk, standen vorne, und hinter ihnen die endlose Masse der Ratgeber seines Vaters. Sie alle täuschten Trauer vor, doch Gareth wusste es besser. Er wusste, dass es all diese Leute, all die Ratgeber und Ratsmitglieder und Generäle—und all die Adeligen und Lords hinter ihnen—kaum bekümmerte. In ihren Gesichtern sah er Ehrgeiz. Gier nach Macht. Während sie alle auf die Leiche des Königs starrten, fühlte er, wie jeder unter ihnen sich fragte, wer wohl als Nächstes den Thron besteigen würde.

Es war derselbe Gedanke, der Gareth beschäftigte. Was würde in den Nachwehen eines solch chaotischen Attentats geschehen? Wäre es sauber und einfach gewesen, und würde der Verdacht auf jemand anderem liegen, dann wäre Gareths Plan perfekt gewesen—der Thron würde in seine Hände fallen. Immerhin war er der erstgeborene legitime Sohn. Sein Vater hatte die Macht Gwendolyn überlassen, doch niemand außer seinen Geschwistern war bei jener Besprechung anwesend gewesen, und sein Wunsch war nie beurkundet worden. Gareth kannte den Rat und er wusste, wie ernst sie es mit dem Gesetz nahmen. Ohne eine Beurkundung konnte seine Schwester nicht regieren.

Was wiederum zu ihm führte. Falls alles mit rechten Dingen zugehen würde—und Gareth war fest entschlossen, dafür zu sorgen, dass dem so war—dann würde der Thron auf ihn übergehen müssen. So wollte es das Gesetz.

Seine Geschwister würden ihn anfechten, da hatte er keine Zweifel. Sie würden ihre Besprechung mit ihrem Vater vorbringen und wahrscheinlich darauf bestehen, dass Gwendolyn regieren soll. Kendrick würde nicht versuchen, die Macht für sich zu ergreifen—dafür war er zu aufrichtig. Godfrey war teilnahmslos. Reece war zu jung. Gwendolyn war seine einzige wahre Bedrohung. Doch Gareth war optimistisch: er dachte nicht, dass der Rat bereit dafür war, dass eine Frau—noch dazu ein jugendliches Mädchen—den Ring regieren solle. Und ohne Beurkundung durch den König hatten sie die perfekte Ausrede, sie zu übergehen.

Die einzig wirkliche Gefahr in Gareths Augen war Kendrick. Immerhin war er, Gareth, weithin verhasst, während Kendrick unter dem gemeinen Volk und den Soldaten beliebt war. Unter den Umständen bestand stets die Chance, dass der Rat Kendrick den Thron überlassen würde. Je eher Gareth die Macht übernehmen konnte, umso eher konnte er sie dazu nutzen, Kendrick unschädlich zu machen.

Gareth fühlte einen Ruck in seiner Hand und blickte auf das geknotete Seil hinunter, das über seine Handfläche brannte. Er erkannte, dass sie begonnen hatten, den Sarg seines Vaters abzusenken; er blickte zu seinen anderen Geschwistern hinüber, die wie er alle ein Seil hielten und es langsam absenkten. Gareths Ende begann zu kippen, da er verzögert mit dem Absenken anfing, und er musste vorgreifen und das Seil mit der anderen Hand packen, bis er endlich aufgeholt hatte und der Sarg eben lag. Es war ironisch: sogar im Tod konnte er seinem Vater nicht gerecht werden.

In der Ferne läuteten Glocken von der Burg herüber, und Argon trat vor und hob eine Hand.

“Itso ominus domi ko resepia…”

Die lange verlorene Sprache des Rings, die königliche Sprache, die seine Vorfahren vor tausend Jahren gesprochen hatten. Es war eine Sprache, die Gareths Privatlehrer ihm als Kind eingetrichtert hatten—und eine, die er brauchen würde, sobald er seine königliche Pflicht aufnahm.

Plötzlich hielt Argon inne, blickte auf und starrte direkt auf Gareth. Es jagte Gareth einen Schauer über den Rücken, wie Argons durchscheinende Augen sich direkt durch ihn durch zu brennen schienen. Gareths Gesicht errötete und er fragte sich, ob das gesamte Königreich es gesehen hatte, und ob irgendjemand wusste, was es bedeutete. Mit diesem Blick bekam er das Gefühl, dass Argon von seiner Beteiligung wusste. Und doch war Argon ein Rätsel; er hielt sich stets aus den Drehungen und Wendungen der menschlichen Schicksale heraus. Würde er schweigen?

„König MacGil war ein guter, gerechter König“, sprach Argon bedächtig mit tiefer, unirdischer Stimme.

„Er machte seinen Vorfahren Ehre und Stolz, und brachte diesen Königreich Reichtum und Frieden, wie wir sie selten gesehen haben. Sein Leben fand ein verfrühtes Ende, wie es Gottes Wille war. Doch er hinterließ ein tiefes und reiches Erbe. Nun ist es an uns, dieses Erbe anzutreten.“

Argon hielt inne.

„Unser Königreich des Rings ist auf allen Seiten umringt von dunklen und bedrohlichen Gefahren. Hinter dem Canyon, rein von unserem Energie-Schild abgehalten, liegt eine Nation von Wilden und Kreaturen, die uns zerreißen möchte. Innerhalb unseres Rings, auf der anderen Seite unserer Hochlande, liegt ein Clan, der uns nicht wohlgesinnt ist. Wir leben in unvergleichlichem Wohlstand und Frieden; und doch ist unsere Sicherheit vergänglich.

Warum nehmen die Götter jemanden in der Blüte seines Lebens von uns—einen guten und weisen und gerechten König? Warum war es sein Schicksal, auf solche Art ermordet zu werden? Wir alle sind nichts als Spielfiguren, Puppen in den Händen des Schicksals. Auch am Gipfel unserer Kräfte können wir unter der Erde enden. Die Frage, mit der wir uns plagen müssen, ist nicht, wonach wir streben—sondern wer wir sein wollen.“

Argon senkte den Kopf, und Gareth fühlte, wie seine Hände brannten, als sie den Sarg zur Gänze absenkten; endlich stieß er mit einem Ruck am Boden auf.

„NEIN!“, ertönte ein Schrei.

Es war Gwendolyn. Hysterisch rannte sie auf den Grubenrand zu, als wolle sie sich hineinwerfen; Reece rannte vor und packte sie, hielt sie zurück. Kendrick trat vor, um zu helfen.

Doch Gareth empfand kein Mitgefühl für sie; am ehesten fühlte er sich bedroht. Wenn sie unter die Erde wollte, konnte er das arrangieren.

Ja, in der Tat: das konnte er.

*

Thor stand nur wenige Fuß von König MacGils Leichnam entfernt, als er zusah, wie er in die Erde abgesenkt wurde. Der Anblick überwältigte ihn. Am Rande der höchsten Klippen des Königreichs gelegen, hatte der König einen atemberaubenden Ort als letzte Ruhestätte gewählt, einen luftigen Ort, der bis in die Wolken selbst zu reichen schien. Die Wolken waren in Orange und Grün und Gelb und Rosa getaucht, als die erste der aufgehenden Sonnen höher in den Himmel kletterte. Doch der Tag war mit einem Nebel bedeckt, der sich nicht lichten wollte; als würde das Reich selbst trauern. Neben ihm winselte Krohn.

Thor hörte ein Kreischen und blickte zu Estopheles hinauf, die hoch oben ihre Kreise zog und auf sie hinunterspähte. Thor fühlte sich immer noch taub. Er konnte die Ereignisse der letzten Tage kaum fassen; dass er nun hier stand, inmitten der Familie des Königs, und zusah, wie dieser Mann, den er so schnell ins Herz geschlossen hatte, im Erdreich versenkt wurde. Es schien unmöglich. Er hatte kaum begonnen, ihn zu kennen, den ersten Mann, der je wie ein richtiger Vater zu ihm gewesen war, und nun wurde er ihm weggenommen. Mehr als alles andere konnte Thor nicht aufhören, über die letzten Worte des Königs nachzudenken.

Du bist nicht wie die anderen. Du bist etwas Besonderes. Und solange du nicht verstehst, wer du bist, wird unser Königreich nie zur Ruhe kommen.

Was hatte der König damit gemeint? Wer genau war er? Wie war er anders? Woher wusste der König das? Was hatte das Schicksal des Königreichs mit Thor zu tun? War der König nur bereits im Wahn gewesen?

Fern von hier liegt ein großes Land. Hinter dem Imperium. Sogar hinter dem Land der Drachen. Es ist das Land der Druiden. Die Heimat deiner Mutter. Dorthin musst du reisen, um die Antworten zu suchen.

Woher wusste MacGil von seiner Mutter? Woher wusste er, wo sie lebte? Und welche Antworten sollte sie haben? Thor hatte stets angenommen, dass sie tot war—der Gedanke daran, dass sie am Leben sein könnte, elektrisierte ihn. Er fühlte sich fest entschlossen, mehr als je zuvor, sie zu suchen und zu finden. Die Antworten zu finden; zu entdecken, wer er war und was an ihm so besonders war.

Während eine Glocke ertönte und MacGils Leichnam sich zu senken begann, wunderte sich Thor über die grausamen Drehungen und Wendungen des Schicksals; warum war es ihm gestattet, die Zukunft zu sehen, diesen großen Mann sterben zu sehen—und doch war er machtlos gewesen, etwas dagegen zu unternehmen? In gewisser Weise wünschte er, er hätte nie etwas davon gesehen, nie im Voraus gewusst, was passieren würde; er wünschte, er hätte einfach nur ein unbeteiligter Außenstehender sein können wie die anderen, einfach nur eines Tages aufwachen und erfahren, dass der König tot war. Nun fühlte er sich, als hätte er etwas damit zu tun. Irgendwie fühlte er sich schuldig, als hätte er mehr unternehmen sollen.

Thor fragte sich, was nun aus dem Königreich werden würde. Es war ein Königreich ohne König. Wer würde regieren? Würde es Gareth sein, wie jeder es dachte? Thor konnte sich nichts Schlimmeres vorstellen.

Thor blickte durch die Menge und sah die ernsten Gesichter der Adeligen und Lords, die hier aus allen Ecken des Rings versammelt waren; er wusste von Reece, dass sie mächtige Männer waren, in einem unruhigen Königreich. Er musste sich fragen, wer der Mörder sein könnte. Diesen Gesichtern nach zu schließen schien es, als wäre jeder von ihnen verdächtig. Jeder dieser Männer würde nach Macht eifern. Würde das Königreich in Stücke brechen? Würden ihre Streitkräfte miteinander uneins sein? Wie würde sein eigenes Schicksal verlaufen? Und was würde aus der Legion werden? Würde sie aufgelöst werden? Oder die Armee? Würden die Silbernen sich auflehnen, falls Gareth zum König ernannt werden sollte?

Und nach allem, was passiert war: würden die anderen wirklich glauben, dass Thor unschuldig war? Würde er gezwungen sein, in sein Heimatdorf zurückzukehren? Er hoffte nicht. Er liebte alles, was er hatte; mehr als alles andere wollte er hierbleiben dürfen, an diesem Ort, in der Legion. Er wolle, dass alles so bleiben würde, wie es war; dass sich nichts ändern würde. Vor nur wenigen Tagen noch hatte das Königreich so standfest gewirkt, so dauerhaft; MacGil schien, als würde er den Thron noch eine Ewigkeit halten. Wenn etwas so Sicheres, so Stabiles, so plötzlich zusammenbrechen konnte—welche Hoffnung gab es dann für den Rest von ihnen? Nichts fühlte sich für Thor mehr von Dauer an.

Thors Herz brach, als er zusehen musste, wie Gwendolyn versuchte, ihrem Vater ins Grab nachzuspringen. Während Reece sie zurückhielt, traten Bedienstete vor und begannen, den Erdhaufen in die Grube zu schaufeln, während Argon mit seinem Zeremonien-Gesang fortfuhr. Eine Wolke zog über den Himmel und bedeckte einen Moment lang die erste Sonne, und Thor fühlte einen kalten Wind durch den rasch warm werdenden Sommertag peitschen. Er hörte ein Winseln und sah, wie Krohn zu ihm aufblickte.

Thor wusste kaum, wie es mit irgendetwas weitergehen sollte, doch eines wusste er: er musste mit Gwen sprechen. Er musste ihr sagen, wie leid es ihm tat, wie sehr auch ihm der Tod ihres Vaters ans Herz ging; ihr sagen, dass sie nicht alleine war. Selbst wenn sie beschließen würde, Thor nie wieder zu sehen, musste er sie wissen lassen, dass er fälschlich beschuldigt war; dass er in jenem Freudenhaus nichts getan hatte. Er brauchte eine Chance, nur eine Gelegenheit, die Sache richtigzustellen, bevor sie ihn auf immer abschrieb.

1
...