Читать бесплатно книгу «Kindheit» Льва Толстого полностью онлайн — MyBook
image

2. Mama

Mama saß im Gastzimmer und goß Tee ein; mit einer Hand hielt sie die Teekanne, mit der anderen den Samowarhahn, aus dem das Wasser über den Rand der Teekanne auf das Teebrett floß. Obgleich sie unverwandt auf diese Stelle blickte, bemerkte sie nichts, bemerkte nicht einmal, daß wir eintraten.

Wenn man versucht, die Züge eines geliebten, längst verstorbenen Wesens in Gedanken wachzurufen, tauchen so viele traurige Erinnerungen an die Vergangenheit auf, daß man durch diese Erinnerungen wie durch Tränen sieht. Das sind die Tränen der Erinnerung.

Wenn ich mich bemühe, mir meine Mutter so vorzustellen, wie sie damals war, sehe ich nur ihre wunderbaren braunen, stets gleichmäßige Güte und Liebe ausdrückenden Augen, das Muttermal am Halse, ein wenig unterhalb der Stelle, wo sich die kleinen Härchen kräuseln, das gestickte weiße Bäffchen und die magere, weiße, zarte Hand, die ich so oft küßte und die mich so oft gestreichelt hat.

Links vom Sofa an der Wand stand ein alter englischer Flügel, an dem mein schwarzbraunes Schwesterchen Ljubotschka saß und mit ihren rosigen, soeben in kaltem Wasser gewaschenen Fingerchen mit deutlich sichtbarer Anstrengung die Etüden von Clementi übte. Sie war elf Jahre alt, trug ein kurzes Leinenkleid und weiße, spitzenbesetzte Höschen. Die Oktaven konnte sie nur »Arpeggio« greifen. Neben ihr, halb seitwärts, saß Maria Iwanowna in einer rosa bebänderten Haube, blauen Jacke und mit rotem, bösem Gesicht, das einen noch böseren Ausdruck annahm, wenn Karl Iwanowitsch das Zimmer betrat. Sie maß ihn mit drohenden Blicken, grüßte nicht, sondern fuhr noch lauter und gebieterischer als vorhin fort zu zählen; un, deux, trois … un, deux, trois …

Karl Iwanowitsch achtete nicht darauf, ging gewöhnlich mit seinem deutschen Gruß direkt auf die Mutter zu, um ihr die Hand zu küssen. Dann fuhr sie auf, schüttelte das Köpfchen, wie um die traurigen Gedanken zu vertreiben, reichte Karl Iwanowitsch die Hand und küßte ihn auf die runzelige Schläfe, während er ihre Hand mit den Lippen berührte.

»Ich danke Ihnen, lieber Karl Iwanowitsch,« sagte sie und fragte weiter deutsch: »Haben die Kinder gut geschlafen?«

Karl Iwanowitsch war auf einem Ohr taub und konnte jetzt wegen des Lärms am Flügel gar nichts hören. Er beugte sich, eine Hand auf den Tisch gestützt und auf einem Bein stehend, näher zum Sofa, lüftete mit einem Lächeln, das mir damals als Gipfelpunkt feiner Sitte erschien, sein Käppchen und sagte: »Entschuldigen, was meinten Natalie Iwanowna?«

Karl Iwanowitsch nahm, um sich den kahlen Kopf nicht zu erkälten, niemals das rote Käppchen ab, bat aber jedesmal, wenn er das Gastzimmer betrat, deswegen um Entschuldigung.

»Bleiben Sie bedeckt, Karl Iwanowitsch. Ich frage, ob die Kinder gut geschlafen haben?« sagte die Mutter, sich zu ihm beugend, ziemlich laut.

Aber er hatte wieder nichts gehört, bedeckte seine kahle Platte mit dem Käppchen und lächelte nur.

»Hört einen Augenblick auf, Mimi,« sagte Mutter freundlich lächelnd zu Maria Iwanowna: »man kann nichts verstehen.«

Mutter hatte ein Lächeln, durch das, so hübsch ihr Gesicht auch war, es doch noch hübscher wurde und ringsum alles verklärte. Wenn ich in schweren Augenblicken des Lebens auch nur flüchtig dieses Lächeln sehen könnte, wüßte ich nicht, was Kummer ist. Mir scheint, daß im Lächeln eigentlich die Schönheit des Gesichtes liegt; wenn das Lächeln dem Gesicht mehr Reiz gibt, ist dieses schön; wenn es das Gesicht nicht verändert: gewöhnlich; wenn es entstellt: häßlich.

Nachdem Mama Wolodja begrüßt, küßte sie nach althergebrachter Gewohnheit in unserer Familie meine Hand; nahm dann meinen Kopf zwischen beide Hände, beugte ihn zurück, sah mich unverwandt an und fragte: »Du hast heute geweint?« Dann küßte sie mich auf die Augen und fragte deutsch: »Worüber hast du geweint?«

Wenn sie freundschaftlich mit uns sprach oder scherzte, bediente sie sich stets des Deutschen. Sie beherrschte diese Sprache vollkommen.

»Ich hab' im Traum geweint, Mama,« erwiderte ich, dachte dabei an meinen erfundenen Traum mit allen Einzelheiten und zitterte in Gedanken unwillkürlich. Karl Iwanowitsch bestätigte meine Worte, schwieg aber von dem Traum.

Nachdem man noch vom Wetter gesprochen, an welcher Unterhaltung auch Mimi sich beteiligte, legte Mama für einige bevorzugte Dienstboten sechs Stücke Zucker auf das Teebrett, stand auf und ging zum Stickrahmen am Fenster.

»Nun, Kinder, geht zum Vater und sagt ihm, daß er zu mir kommt, eh' er zur Tenne geht. Vous pouvez reprendre votre leçon, chère Mimi.«1

Wieder Musik, Zählen, drohende Blicke, und wir gingen zu Papa.

Wir gingen durch das Zimmer, das noch von Großvater her »Dienerzimmer« hieß und traten in das Arbeitszimmer des Vaters.

3. Papa

Er stand am Schreibtisch und war, auf verschiedene Papiere, Kuverts und Geldpäckchen deutend, in lebhafter Unterhaltung mit dem Verwalter Jakob Michailow begriffen, der mit auf dem Rücken verschränkten Händen auf seinem gewöhnlichen Platz zwischen Tür und Barometer stand und die Finger sehr schnell nach verschiedenen Richtungen drehte. Je lebhafter Papa sprach, um so schneller bewegten sich die Finger; wenn er verstummte, ruhten auch die Finger; wenn aber Jakob selbst das Wort nahm, kamen auch die Finger wieder in starke Bewegung. Und aus ihren Bewegungen konnte man die geheimsten Gedanken Jakobs erraten, während sein Gesicht stets den Ausdruck von Würde und Unterwürfigkeit zeigte: »Ich habe recht, aber natürlich ganz wie es Ew. Gnaden beliebt.«

Bei unserem und Karl Iwanowitschs Anblick sagte Papa nur: »Einen Augenblick; sofort,« und deutete durch eine Kopfbewegung an, daß jemand von uns die Tür schließen sollte.

»Ach, lieber Gott! Was hast du heute nur, Jakob?« fuhr er, seiner Gewohnheit nach achselzuckend, zum Verwalter gewandt fort. – »Dieses Kuvert mit achthundert Rubeln …«

Jakob nahm das Rechenbrett, schob achthundert beiseite und starrte, in Erwartung des Weiteren, unbestimmt vor sich hin.

»… sind für Wirtschaftsausgaben in meiner Abwesenheit, verstanden? Für die Mühle bekommst du ja wohl tausend? Ja, oder nein? Für Hypotheken achttausend; für Heu, – nach deiner Rechnung kann man siebentausend Pud rechnen – sagen wir fünfundvierzig Kopeken das Pud, macht zirka dreitausend; also hast du zusammen wieviel? Zwölftausend. Ja oder nein?«

»Jawohl,« sagte Jakob, aber aus den schnellen Fingerbewegungen bemerkte ich, daß er etwas erwidern wollte. Papa schnitt ihm das Wort ab: »Also von diesem Gelde schickst du zehntausend zum Amt in Petrowskoie. Jetzt das Geld im Kontor,« fuhr Papa fort – Jakob warf die früheren zwölftausend zusammen und notierte einundzwanzigtausend – »das bringst du mir und trägst es unterm heutigen Datum als Ausgabe ein« – Jakob schob die Kugeln beiseite und kehrte das Rechenbrett um, dadurch wahrscheinlich andeutend, daß nun auch diese einundzwanzigtausend verloren wären. – »Diesen Geldbrief übergibst du an seine Adresse.«

Ich stand dicht am Tisch und las die Adresse. Da stand: An Karl Iwanowitsch Mauer. Papa bemerkte wohl, daß ich etwas las, was ich nicht zu wissen brauchte. Er sprach weiter, legte aber seine Hand auf meine Schulter und wies mich durch eine leichte Bewegung vom Tisch fort. Ich verstand nicht, ob das eine Liebkosung oder ein Tadel sein sollte, küßte aber für alle Fälle seine große, weiße, nervige Hand mit dem Trauring auf dem Goldfinger.

»Zu Befehl,« sagte Jakob. »Was soll aber mit dem Gelde von Chabarowka geschehen?«

Chabarowka war Mamas Gut.

»Das soll im Kontor bleiben und ohne meine Verfügung nicht angerührt werden,« sagte Papa.

Jakob schwieg einen Augenblick, dann drehten sich plötzlich wieder die Finger mit verstärkter Geschwindigkeit, er änderte den Ausdruck unterwürfigen Stumpfsinns, mit dem er die Befehle des Herrn anzuhören für nötig hielt, nahm den ihm eigenen Ausdruck spitzbübischer Findigkeit und Schlauheit an, zog das Rechenbrett heran und begann: »Gestatten Sie, zu bemerken, Peter Alexandrowitsch – ganz wie Sie wünschen, aber auf dem Amt werden wir das Geld kaum rechtzeitig bezahlen. Sie beliebten zu sagen: das Geld müßte von der Mühle, für Lombard und Heu einkommen …« Er rechnete den Betrag aus und schob die Kugeln auf der Rechenmaschine beiseite. »Ich fürchte aber, daß wir uns in den Voranschlägen irren,« fügte er nach kurzem Schweigen hinzu, Papa dabei tiefsinnig anstarrend.

»Warum?«

»Ja, sehen Sie, was die Mühle betrifft, so hat mich der Müller schon zweimal aufgesucht und um Stundung gebeten, hat bei Gott und allen Heiligen geschworen, daß er kein Geld hätte. Er ist auch jetzt wieder da. Wollen Sie nicht selbst mit ihm sprechen?«

Papa machte mit dem Kopf ein Zeichen, daß er das nicht wünsche.

»Was sagt er denn?« fragte Papa.

»Das weiß man schon,« erwiderte Jakob. »Hätte nichts zu mahlen gehabt und alles Geld in das Wehr gesteckt. Wenn wir ihm kündigen, Herr, fragt sich noch, ob wir dabei profitieren. Was Sie über die Hypothek zu bemerken beliebten – so habe ich vielleicht schon ausgeführt, daß unser Geld dort festliegt und wir es so leicht nicht wiederbekommen. Ich habe eigens in der Angelegenheit eine Fuhre Mehl und ein Schreiben an Iwan Afanasjewitsch in die Stadt geschickt; der antwortet, er wolle sich gern Ihretwegen bemühen, die Sache hinge aber nicht von ihm ab und allem Anschein nach würden wir kaum in einem Monat Ihre Quittung bekommen. Bezüglich des Heus beliebten Sie zu bemerken – selbst angenommen wir verkaufen für dreitausend« – er warf dreitausend auf dem Rechenbrett zur Seite, schwieg einen Augenblick und blickte bald auf das Rechenbrett, bald in Papas Augen, als wollte er sagen: Sie sehen selbst, wie wenig das ist. »Und mit dem Heu fallen wir auch wieder herein, wenn wir es jetzt verkaufen, das wissen der Herr selbst.«

Offenbar hatte er noch einen großen Vorrat von Argumenten; deswegen unterbrach Papa ihn: »Es bleibt bei meinen Anordnungen. Sollte wirklich im Eingang des Geldes eine Verzögerung eintreten, dann ist nichts zu machen; dann nimmst du von Chabarowka Geld soviel wie nötig ist.«

»Zu Befehl.«

Jakob war Papas Leibeigener. Er war zunächst sein Wärter gewesen, dann Kammerdiener und jetzt Verwalter. Er hatte alle Feldzüge mit Papa mitgemacht, und dieser hatte ihn wegen seiner Anhänglichkeit, seines Eifers und seiner Treue gern. Wie alle guten Verwalter war er im Interesse seines Herrn äußerst knauserig und hatte von dessen Vorteil die sonderbarsten Vorstellungen. Er war stets bemüht, das Eigentum Papas auf Kosten Mamas zu vermehren und suchte zu beweisen, daß alle Einkünfte von Mamas Gütern auf Petrowskoie (das Dorf, in dem wir lebten) verwandt werden müßten. Gegenwärtig war ihm das gelungen, und als er »zu Befehl« sagte, konnte man an seinem Gesicht erkennen, daß er sehr mit sich zufrieden war, wie jemand, der seine liebste Tätigkeit ausübt.

Nachdem Papa uns begrüßt hatte, sagte er, wir wären jetzt keine kleinen Kinder mehr, es sei Zeit, daß wir ernstlich etwas lernten. Deswegen führe er heute nacht nach Moskau zur Großmutter und nähme uns ganz dahin mit. Er fügte noch hinzu, Mama bliebe mit den Mädchen hier, und das eine würde sie trösten, die Überzeugung, daß wir gut lernen und daß man mit uns zufrieden sein würde.

Obgleich wir an den Vorbereitungen seit einigen Tagen bemerkt hatten, daß etwas Ungewöhnliches im Gange war, überraschte uns diese Neuigkeit vollständig. Wolodja sagte, um seine Verwirrung zu verbergen: »Mama läßt dir bestellen, du möchtest zu ihr kommen, Papa,« und ging zum Fenster. Mir aber tat Mütterchen sehr, sehr leid, und gleichzeitig freute mich der Gedanke, daß wir nun groß seien.

Wenn wir heute reisen, gibt es keine Schule mehr, das ist famos, dachte ich. Aber der arme Karl Iwanowitsch tat mir leid; der wurde sicher entlassen, weil man das Kuvert für ihn zurechtgemacht … Dann schon lieber immer lernen, nicht fortreisen, sich nicht von Mama trennen und dem armen Karl Iwanowitsch nicht weh tun, der schon so sehr unglücklich ist.

Diese Gedanken zogen mir durch den Sinn. Ich rührte mich nicht von der Stelle und starrte unverwandt auf die schwarzen Schleifen an meinen Schuhen.

Nachdem Papa mit Karl Iwanowitsch noch einige Worte über das Fallen des Barometers gewechselt und Jakob befohlen hatte, die Hunde nicht zu füttern, weil er zum Abschied nach Tisch die jungen Treibhunde probieren wollte, schickte er uns wider Erwarten zum Unterricht. Allerdings bekamen wir den Trost mit auf den Weg, daß wir nach Tisch mit auf die Jagd genommen würden.

Traurig und zerstreut gingen wir nach oben zum Lernen in Begleitung unseres noch mehr zerstreuten und traurigen Mentors Karl Iwanowitsch, der seine Entlassung erwartete.

Unterwegs lief ich auf die Veranda. Dicht an der Tür lag mit zugekniffenen Augen in der Sonne, wie ein Hase im Lager, Papas Lieblingswindhund Milka.

»Milkachen,« sagte ich, den Hund streichelnd und auf die Schnauze küssend, »wir reisen heute, leb wohl, wir sehen uns nie wieder.«

Wahrscheinlich gefiel der Hündin mein tränenfeuchtes Gesicht nicht, oder sie war nicht bei Laune; jedenfalls brüllte sie mich an, stand auf, ging beiseite und legte sich faul an einer anderen Stelle nieder.

»Was bin ich für ein unglücklicher Junge,« sagte ich und rannte Hals über Kopf nach oben.

...
5

Бесплатно

5 
(1 оценка)

Читать книгу: «Kindheit»

Установите приложение, чтобы читать эту книгу бесплатно