Читать книгу «Gertrud / Гертруда. Книга для чтения на немецком языке» онлайн полностью📖 — Германа Гессе — MyBook.
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Drittes Kapitel

Während meines letzten Semesters am Konservatorium lernte ich den Sänger Muoth kennen, der in der Stadt einen gewissen ehrenvollen Ruf besaß. Er war seit vier Jahren mit seinen Studien fertig und sogleich an der Hofoper angestellt worden, wo er zwar einstweilen noch mit mittleren Rollen auftrat und neben beliebten älteren Kollegen nicht recht zu Glanze kam, aber bei vielen für einen zukünftigen Stern galt, den der nächste Schritt zum Ruhm führen müsse. Mir war er von der Bühne her aus einigen Rollen bekannt und hatte mir immer einen starken Eindruck gemacht, wenn schon keinen reinen.

Unsere Bekanntschafft entstand so. Ich hatte nach meiner Rückkehr zur Schule jenem Lehrer, der mir so freundliche Teilnahme gezeigt hatte, meine Violinsonate und zwei von mir komponierte Lieder gebracht. Er versprach, die Arbeiten durchzusehen und mir seine Meinung darüber zu sagen. Nun dauerte es lange, bis er es tat, und ich konnte ihm eine gewisse Verlegenheit anmerken, so oft ich ihm begegnete. Endlich rief er mich eines Tages zu sich und gab mir meine Noten zurück.

»Da sind Ihre Arbeiten wieder«, sagte er etwas befangen. »Hoffentlich haben Sie sich nicht gar zu große Hoffnungen gemacht! Es ist etwas daran, ohne Zweifel, und es kann etwas aus Ihnen werden. Aber offen gesagt, ich hatte Sie schon für reifer und ruhiger gehalten, überhaupt Ihrer Natur nicht so viel Leidenschafft zugetraut. Ich hatte etwas Stilleres und Gefälligeres erwartet, was technisch sicherer wäre und was sich technisch beurteilen ließe. Nun ist aber Ihre Arbeit technisch missglückt, so dass ich wenig dazu sagen kann, und ist dafür ein kecker Versuch, den ich nicht bewerten kann, aber als Ihr Lehrer nicht loben möchte. Sie haben weniger und mehr gegeben, als ich erwartet hatte, und mich damit in Verlegenheit gebracht. Ich bin zu sehr Schulmeister, um die Stilsünden übersehen zu können, und ob sie durch die Originalität aufgewogen werden, mag ich erst nicht entscheiden. Ich will also warten, bis ich wieder etwas von Ihnen sehe, und wünsche Glück dazu. Weiterkomponieren werden Sie ja doch, soviel habe ich bemerkt.«

Damit war ich abgezogen und hatte nicht gewusst, was mit dem Bescheid anfangen, der keiner war. Mir hatte es geschienen, man müsse einer Arbeit ohne weiteres ansehen, ob sie aus Spielerei und zum Zeitvertreib oder ob sie aus Bedürfnis und aus dem Herzen entstanden sei. Ich legte die Noten weg und nahm mir vor, das alles einstweilen zu vergessen, um in diesen letzten Lernmonaten recht fleißig zu sein.

Da war ich einmal von einer Familie eingeladen, wo viel Musik getrieben wurde, und wo ich, als bei Bekannten meiner Eltern, ein oder zweimal im Jahr meinen Besuch zu machen pflegte. Es war ein Gesellschafftsabend wie alle, nur dass ein paar Berühmtheiten von der Oper dabei waren, die ich vom Sehen alle kannte. Auch der Sänger Muoth war da, der mich von allen am meisten interessierte, und ich sah ihn zum erstenmal so nahe. Er war groß und schön, ein imponierender dunkler Mann mit sichern und vielleicht schon etwas verwöhnten Manieren, man sah ihm an, dass er den Frauen gefiel. Doch sah er, von den Gebärden abgesehen, weder stolz noch vergnügt aus, sondern hatte in Blick und Mienen viel Suchendes und Unbefriedigtes. Als ich ihm vorgestellt wurde, grüßte er mit einem kurzen steifen Kompliment[27], ohne mit mir zu sprechen. Nach einer Weile kam er aber plötzlich zu mir her und sagte: »Heißen Sie nicht Kuhn? – Dann kenne ich Sie schon ein wenig. Der Professor S. hat mir Ihre Arbeiten gezeigt. Sie dürfen es ihm nicht übelnehmen, er ist nicht indiskret. Aber ich kam gerade dazu, und weil ein Lied dabei war, sah ich mir’s mit seiner Eraubnis an.«

Ich war erstaunt und verlegen. »Warum sprechen Sie davon?« fragte ich. »Es hat dem Professor nicht gefallen, glaube ich.«

»Tut Ihnen das weh? Nun, mir hat das Lied sehr gefallen; ich könnte es singen, wenn ich nur die Begleitung hätte. Die möchte ich mir von Ihnen erbitten.«

»Es hat Ihnen gefallen? Ja, kann man es denn singen?«

»Das kann man schon, freilich nicht in jedem Konzert. Ich möchte es aber gern für mich haben, für den Hausgebrauch[28]

»Ich will es Ihnen abschreiben. Aber warum wollen Sie es haben?«

»Weil es mich interessiert. Es ist ja wirklich Musik, das Lied, das wissen Sie doch selber!« Es sah mich an, und mich plagte seine Art, Leute anzusehen. Er blickte mir ganz gerade ins Gesicht, völlig unbekümmert studierend, und seine Augen waren voll Neugierde.

»Sie sind jünger, als ich gedacht hätte. Sie müssen doch schon viel Schmerz erfahren haben.«

»Ja«, sagte ich, »aber ich kann nicht davon sprechen.«

»Das sollen Sie auch nicht, ich will Sie doch nicht ausfragen.«

Sein Blick verwirrte mich, auch war er eine Art von Berühmtheit und ich noch ein Schüler, so dass ich mich nur schwach und schüchtern zur Wehr setzen konnte, obgleich mir seine Art zu fragen gar nicht gefiel. Hochmütig war er nicht, aber irgendwie verletzte er mir das Schamgefühl, ohne dass ich mich mehr als leise abwehren konnte, denn es kam doch auch kein rechter Widerwille in mir auf. Ich hatte das Gefühl, er sei unglücklich und habe eine ungewollt gewaltsame Art, die Menschen anzufassen, als wolle er ihnen etwas entreißen, was ihn trösten könne. Sein dunkel forschendes Auge war so frech wie traurig, und sein Gesicht viel älter, als er sein konnte.

Bald darauf, während mir seine Anrede noch die Gedanken beschäftigte, sah ich ihn höflich und lustig mit einer Tochter des Hauses plaudern, die ihm entzückt zuhörte und ihn wie ein Meerwunder anschaute.

Ich lebte seit meinem Ungeschick so einsam, dass diese Begegnung mir noch tagelang nachklang und mich störte. Ich war meiner selbst nicht sicher genug, um den überlegenen Mann nicht zu fürchten, und doch zu einsam und bedürftig, um nicht von seiner Annäherung geschmeichelt zu sein. Schließlich dachte ich, er habe mich und seine Laune von jenem Abend vergessen. Da erschien er zu meiner Verwirrung in meiner Wohnung.

Das war an einem Dezemberabend, schon bei voller Dunkelheit. Der Sänger klopfte an und trat herein, als sei nichts Merkwürdiges an seinem Besuch, und sprang sogleich, ohne alle Einleitung und Höflichkeiten, mitten in das Gespräch. Ich musste ihm das Lied geben, und da er mein Mietklavier im Zimmer sah, wollte er es sogleich singen. Ich musste hinsitzen und begleiten, und so hörte ich zum erstenmal mein Lied richtig gesungen. Es war traurig und ergriff mich wider meinen Willen, denn er sang es nicht sängermäßig, sondern leise und wie für sich allein. Der Text, den ich im vorigen Jahr in einer Zeitschrift gelesen und mir abgeschrieben hatte, hieß so:

 
Dass bei jedem Föhn
Vom Berg die Lawine rollt
Mit Sausen und Todesgetön,
Hat das Gott gewollt?
Dass ich ohne Gruß
Durch der Menschen Land
Fremd wandern muss,
Kommt das von Gottes Hand?
Sieht er in Herzensnot
Und Qual mich schweben?
Ach, Gott ist tot!
 

– Und ich soll leben?

Wie ich’s ihn singen hörte, begriff ich, dass das Lied ihm gefallen hatte.

Wir waren eine kleine Weile still, dann fragte ich ihn, ob er mir nicht Fehler sagen und Korrekturen vorschlagen könne.

Muoth sah mich mit seinem dunklen, starren Blick an und schüttelte den Kopf.

»Da ist nichts zu korrigieren«, sagte er. »Ich weiß nicht, ob die Komposition gut ist, ich verstehe davon gar nichts. Es ist Erlebnis und Herz in dem Lied, und weil ich selber nicht dichte und nicht komponiere, freut es mich, wenn ich einmal etwas finde, das mir wie eigen vorkommt und das ich mir selber vorsingen mag.«

»Der Text ist aber nicht von mir«, warf ich ein.

»Nicht? Nun, einerlei, der Text ist auch Nebensache. Sie müssen ihn doch erlebt haben, sonst hätten Sie das nicht komponiert.«

Ich bot ihm nun die Abschrift an, die ich schon seit Tagen bereit hatte. Er nahm die Blätter an sich, rollte sie ein und zwängte sie in die Manteltasche.

»Kommen Sie auch einmal zu mir, wenn Sie mögen«, sagte er und gab mir die Hand. »Sie leben einsam, das will ich Ihnen verderben. Aber hie und da sieht man doch gern einem anständigen Menschen ins Gesicht.«

Da er fortging, blieb sein letztes Wort und Lächeln bei mir zurück, erklang mit dem Lied zusammen, das er gesungen hatte, und mit allem, was ich bis jetzt von dem Manne wusste. Und je länger ich das alles bei mir trug und betrachtete, desto deutlicher wurde es, und am Ende verstand ich diesen Menschen. Ich verstand, warum er zu mir gekommen war, warum mein Lied ihm gefiel, warum er so fast unbescheiden in mich drang und mir halb scheu, halb frech erschienen war. Er litt, er trug einen schweren Schmerz, und er war von Einsamkeit ausgehungert wie ein Wolf. Dieser Leidende hatte es mit dem Stolz und dem Alleinsein versucht und es nicht ausgehalten, er lag auf der Lauer[29] nach Menschen, nach einem guten Blick und einem Hauch von Verständnis, und war bereit, sich wegzuwerfen dafür. So dachte ich es mir damals.

Mein Gefühl gegen Heinrich Muoth war nicht klar. Ich fühlte wohl sein Verlangen und seine Not, doch hatte ich Furcht vor ihm als einem überlegenen und grausamen Menschen, der mich verbrauchen und liegenlassen könnte. Ich war zu jung und hatte zuwenig Menschliches erlebt, um das zu verstehen und zu billigen, wie er sich gleichsam nackt hingab und kaum die Scham des Schmerzes zu kennen schien. Doch sah ich auch, dass hier ein glühender und inniger Mensch litt und verlassen war. Es fielen mir ungesucht die Gerüchte ein, die ich über Muoth gehört hatte, undeutliches ängstliches Schülergerede, dessen Farbe und Ton aber mein Gedächtnis wohl bewahrt hatte. Man erzählte von ihm tolle Frauengeschichten und Abenteuer, und ohne dass mir das einzelne erinnerlich gewesen wäre, glaubte ich doch noch irgend etwas Blutiges zu wissen, als sei er in die Geschichte eines Mordes oder Selbstmordes verwickelt gewesen.

Als ich bald darauf meine Scheu bezwang und einen Kameraden darüber fragte, zeigte sich die Sache harmloser, als sie mir erschienen war. Muoth hatte, wie es hieß, ein Liebesverhältnis mit einer jungen Dame aus der guten Gesellschafft unterhalten, und diese hatte sich allerdings vor zwei Jahren das Leben genommen, doch ohne dass man von einer Verwicklung des Sängers in diese Geschichte mehr als in vorsichtigen Andeutungen zu reden wagen durfte. Vermutlich hatte meine eigene Phantasie, durch die Begegnung mit dem eigenartigen und mir leise unheimlichen Menschen erregt, jenen Duft von Schrecken um ihn geschaffen. Doch musste er immerhin mit jener Liebe Böses erlebt haben.

Ich hatte nicht den Mut, zu ihm zu gehen. Wohl konnte ich mir nicht verbergen, dass Heinrich Muoth ein leidender und vielleicht verzweifelnder Mensch sei, der nach mir griffe und begehre, und manchmal schien mir, ich müsse dem Rufe folgen und wäre ein Schelm, wenn ich es nicht täte. Dennoch ging ich nicht hin, ein anderes Gefühl hinderte mich. Was Muoth bei mir suchte, konnte ich ihm nicht geben, ich war ein ganz anderer Mensch als er, und wenn ich auch in mancher Hinsicht einsam und nicht recht verstanden unter den Leuten stand, wenn ich auch vielleicht anders war als jedermann, durch Schicksal und durch Veranlagung von den meisten getrennt, so wollte ich doch davon kein Aufhebens machen[30]. Mochte der Sänger ein dämonischer Mensch sein, ich war keiner, und mich hielt ein inneres Bedürfnis vom Auffallenden und Besonderen ab. Ich hatte eine Abneigung und einen Widerwillen gegen Muoths heftige Gebärde, er war ein Mann der Bühne und der Abenteuer, schien mir, und vielleicht dazu bestimmt, ein tragisches und weithin sichtbares Schicksal zu leben. Ich hingegen wollte in der Stille bleiben, mir standen Gebärden und kühne Worte nicht an, ich war zur Resignation bestimmt. So rätselte ich hin und wider, im Bedürfnis nach Beruhigung. Es hatte ein Mensch an meiner Tür geklopft, der mir leid tat und den ich vielleicht gerechterweise über mich stellen musste, aber ich wollte Ruhe haben und ihn nicht einlassen. Eifrig warf ich mich auf die Arbeit und ward die plagende Vorstellung nicht los, es stehe hinter mir einer, der nach mir greife.

Da ich nicht kam, nahm Muoth die Sache wieder selber in die Hand[31]. Ich erhielt ein Brieflein von ihm, das war in großen stolzen Zügen geschrieben und lautete:

»Lieber Herr! Am elften Januar pflege ich mit einigen Freunden meinen Geburtstag zu feiern. Darf ich Sie dazu einladen? Schön wäre es, wenn wir bei diesem Anlass Ihre Violinsonate hören könnten. Was meinen Sie dazu? Haben Sie einen Kollegen, mit dem Sie sie spielen können, oder soll ich Ihnen jemand schicken? Stefan Kranzl wäre bereit. Sie würden eine Freude machen Ihrem

Heinrich Muoth.«

Das hatte ich nicht erwartet. Ich sollte meine Musik, um die noch niemand wusste, vor Kennern spielen, und ich sollte mit Kranzl zusammen geigen! Beschämt und dankbar sagte ich zu und wurde schon nach zwei Tagen von Kranzl aufgefordert, ihm die Noten zu schicken. Und wieder nach ein paar Tagen lud er mich ein. Der beliebte Geiger war noch jung, ein Mann vom Virtuosen-zuschnitt[32], sehr schmal und schlank und blass.

»So«, sagte er gleich bei meinem Eintreten, »Sie sind also der Freund von Muoth. Ja, da wollen wir gleich anfangen. Wenn wir aufpassen, wird’s nach zwei, dreimal schon gehen.«

Damit setzte er mir einen Stuhl hin, legte mir die zweite Geigenstimme vor, markierte den Takt und fing an, mit seinem leicht empfindlichen Strich, dass ich daneben ganz zusammensank.

»Nur nicht so schüchtern!«, rief er mir zu, ohne das Spiel zu unterbrechen, und wir spielten das Ganze durch.

»So, es geht ja!«, sagte er, »Schad, dass Sie keine bessere Geigen haben. Tut aber nichts. Das Allegro nehmen wir dann aber ein bissel schneller, dass man’s nicht für einen Trauermarsch anschaut. Los!«

Und da spielte ich nun neben dem Virtuosen ganz zutraulich meine Noten herunter, meine einfache Geige klang mit seiner kostbaren zusammen, als müsse es so sein, und ich war erstaunt, den apart aussehenden Herrn so zwanglos, ja naiv zu finden. Als ich warm geworden und etwas zu Mut gekommen war[33], fragte ich ihn zögernd nach seinem Urteil über meine Komposition.

»Da müssens ein andern fragen, lieber Herr, ich versteh nit viel davon. Ein bissel sonderbar ist’s schon, aber das haben die Leut ja gern. Wann’s dem Muoth gefällt, könnens sich schon was einbilden, der frisst nicht alles.«

Er gab mir Ratschläge wegen des Spiels und zeigte mir einige Stellen, denen Änderungen not taten. Dann wurde auf morgen eine weitere Probe verabredet, und ich konnte gehen.

Es war mir ein Trost, diesen Geigenmann so einfach und bieder zu finden. Wenn der zu Muoths Freunden gehörte, konnte ich dort zur Not auch bestehen. Freilich war er ein fertiger Künstler und ich ein Anfänger ohne große Aussichten. Leid tat mir nur, dass niemand sich so offen über meine Arbeit äußern wollte. Das härteste Urteil wäre mir lieber gewesen als diese gutmütigen Sprüche, die nichts sagten.

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