Blind. Kalt. Brausend, ohrenbetäubend, drängend, schmerzend.
Das Erste, was Reid bemerkte, als er aufwachte, war, dass die Welt schwarz war – er konnte nichts sehen. Der beißende Geruch von Benzin füllte seine Nase. Er versuchte seine pochenden Glieder zu bewegen, aber seine Hände waren hinter seinem Rücken zusammengebunden. Ihm war kalt, aber es gab keine Brise; nur kalte Luft, so als würde er in einem Kühlschrank sitzen.
Langsam, wie durch einen Nebel, kehrten die Erinnerungen an das, was passiert war, zu ihm zurück. Die drei Männer aus dem Nahen Osten. Der Sack über seinem Kopf. Die Nadel in seinem Arm.
Er verfiel in Panik, zerrte an seinen Fesseln und schüttelte seine Beine. Schmerz schoss durch seine Handgelenke, von der Stelle, wo sich das Metall der Handschellen in seine Haut grub. Sein Fußgelenk pulsierte und sendete Schockwellen sein linkes Bein hinauf. Er hatte einen starken Druck in seinen Ohren und konnte nichts hören, nichts außer einem laufenden Motor.
Für den Bruchteil einer Sekunde hatte er in seinem Bauch das Gefühl zu fallen – ein Resultat negativer Vertikalbeschleunigung. Er befand sich in einem Flugzeug. Und dem Klang nach zu urteilen, war dies kein gewöhnliches Passagierflugzeug. Das Dröhnen, der extrem laute Motor, der Geruch von Benzin … Er realisierte, dass er sich in einem Frachtflugzeug befinden musste.
Wie lange war er bewusstlos gewesen? Was hatten sie ihm gespritzt? Waren die Mädchen sicher? Die Mädchen. Tränen schossen ihm in die Augen, als er entgegen aller Hoffnung trotzdem hoffte, dass sie sicher waren, dass die Polizei genug von seiner Nachricht gehört hatte und die Behörden zu seinem Haus geschickt wurden …
Er rutschte auf seinem Metallsitz umher. Trotz der Schmerzen und der Heiserkeit in seinem Hals versuchte er zu sprechen.
„H-Hallo?“ Es kam als ein kaum hörbares Flüstern heraus. Er räusperte sich und versuchte es noch mal. „Hallo? Irgendjemand …?“ Er bemerkte dann, dass der Lärm des Motors ihn für jeden, der nicht direkt neben ihm saß, unhörbar machen würde. „Hallo!“, versuchte er zu rufen. „Bitte … kann mir jemand sagen, was –“
Eine schroffe männliche Stimme zischte ihn auf Arabisch an. Reid schreckte zurück; dieser Mann war nach nicht mal einen Meter von ihm entfernt.
„Bitte, sagen Sie mir einfach, was vor sich geht“, bettelte er. „Was passiert hier? Warum tun Sie das?“
Eine andere Stimme rief drohend etwas auf Arabisch, dieses Mal auf seiner rechten Seite. Reid zuckte wegen der scharfen Zurechtweisung zusammen. Er hoffte, dass das Rütteln des Flugzeugs den Fakt verbarg, dass seine Glieder zitterten.
„Sie haben die falsche Person“, sagte er. „Was wollen Sie? Geld? Ich habe nicht viel, aber ich kann – Moment!“ Eine starke Hand schloss sich mit festem Griff um seinen Oberarm und einen kurzen Moment später wurde er aus seinem Sitz gerissen. Er taumelte, versuchte zu stehen, aber das Schwanken des Flugzeugs und der Schmerz in seinem Fußgelenk besiegten ihn. Seine Knie gaben nach und er fiel auf die Seite.
Etwas Hartes und Schweres traf ihn in der Körpermitte. Schmerz zog sich wie ein Spinnennetz durch seinen Oberkörper. Er versuchte zu protestieren, aber seine Stimme kam nur als unverständliches Schluchzen heraus.
Ein anderer Stiefel trat ihn in den Rücken. Noch einer, dieses Mal ins Kinn.
Trotz der grauenvollen Situation kam Reid ein bizarrer Gedanke. Diese Männer, ihre Stimmen, die Schläge wiesen alle auf einen persönlichen Rachefeldzug hin. Er fühlte sich nicht nur angegriffen. Er fühlte sich verabscheut. Diese Männer waren wütend – und ihre Wut richtete sich gegen ihn wie der Lichtpunkt eines Lasers.
Langsam ließ der Schmerz nach und machte Platz für eine kalte Taubheit, die seinen Körper überkam, als er bewusstlos wurde.
*
Schmerz. Scharf, pochend, schmerzend, brennend.
Reid wachte wieder auf. Die Erinnerungen an die Vergangenheit … er wusste nicht einmal, wie lange es gewesen war und auch nicht, ob es Tag oder Nacht war und wo er sich befand, dass es Tag oder Nacht sein könnte. Aber die Erinnerungen kamen wieder, unzusammenhängend, wie einzelne Aufnahmen, die aus einem Film geschnitten und auf dem Boden liegengelassen worden waren.
Drei Männer.
Der Notrufkasten.
Der Transporter.
Das Flugzeug.
Und jetzt …
Reid traute sich die Augen zu öffnen. Es war schwer. Seine Lieder fühlten sich an, als wären sie zusammengeklebt. Hinter der dünnen Haut konnte er sehen, dass es ein helles, grelles Licht auf der anderen Seite gab. Er konnte dessen Hitze auf seinem Gesicht fühlen und das Netzwerk der winzigen Kapillaren durch seine Lider erkennen.
Er blinzelte. Alles was er sehen konnte, war dieses gnadenlose Licht, hell und weiß, welches sich in seinen Kopf brannte. Gott, sein Kopf tat weh. Er versuchte zu stöhnen und bemerkte durch einen plötzlichen Stoß erneuter Schmerzen, dass sein Kiefer ebenfalls wehtat. Seine Zunge fühlte sich fett und trocken an und er hatte einen metallenen Geschmack im Mund. Blut.
Seine Augen, wie er dann bemerkte – waren so schwer zu öffnen gewesen, weil sie in der Tat zusammengeklebt waren. Die Seite seines Gesichts fühlte sich heiß und klebrig an. Blut war seine Stirn hinunter und in seine Augen gelaufen, zweifellos von den unnachgiebigen Tritten, die zur Bewusstlosigkeit im Flugzeug geführt hatten.
Aber er konnte das Licht sehen. Der Sack war von seinem Kopf entfernt worden. Ob das gut oder schlecht war, blieb abzuwarten.
Als sich seine Augen langsam eingewöhnten, versuchte er wieder verzweifelt, seine Hände zu bewegen. Sie waren noch immer zusammengebunden, aber dieses Mal nicht mit Handschellen. Dicke, raue Seile hielten sie an Ort und Stelle. Seine Fußgelenke waren ebenfalls an die Beine eines hölzernen Stuhls gebunden.
Endlich hatten sich seine Augen an das grelle Licht gewöhnt und es formten sich vage Umrisse. Er befand sich in einem kleinen fensterlosen Raum mit unebenen Betonwänden. Es war heiß und stickig, genug dass sich Schweißperlen auf der Rückseite seines Nackens bildeten und doch fühlte sich sein Körper kalt und teilweise taub an.
Er konnte sein rechtes Auge nicht vollständig öffnen und es brannte, wenn er es versuchte. Entweder war er dort getreten worden oder seine Entführer hatten ihn weiter geschlagen, während er bewusstlos war.
Das grelle Licht kam von einer Verhörlampe auf einem hohen, dünnen Gestell auf Rädern, die so eingestellt war, dass sie auf sein Gesicht hinunter schien. Die Halogenleuchte war unerbittlich. Wenn es irgendetwas hinter dieser Lampe gab, konnte er es nicht sehen.
Er zuckte zusammen, als ein schweres Geräusch durch den kleinen Raum hallte – das Geräusch eines Riegels, der zur Seite geschoben wurde. Türangeln knarrten, aber Reid konnte keine Tür sehen. Sie schloss sich mit einem dissonanten Klang.
Eine Silhouette blockierte das Licht und warf einen Schatten auf ihn, als sie über ihm stand. Er zitterte und traute sich nicht aufzuschauen.
„Wer sind Sie?“ Die Stimme war männlich, etwas höher, als die seiner vorherigen Entführer, aber noch immer mit einem Akzent des Nahen Ostens.
Reid öffnete seinen Mund, um zu sprechen – um ihnen zu sagen, dass er nichts mehr war als ein Geschichtsprofessor, dass sie den falschen Mann hatten – aber er erinnerte sich schnell an das letzte Mal, als er dies versucht hatte und dafür bis zur Gefügigkeit getreten wurde. Stattdessen entfloh seinen Lippen ein kleines Wimmern.
Der Mann seufzte und entfernte sich vom Licht. Etwas kratzte über den Betonboden; die Beine eines Stuhls. Der Mann stellte die Lampe so ein, dass sie leicht von Reid weg leuchtete und setzte sich dann ihm gegenüber auf den Stuhl, so dass sich ihre Knie fast berührten.
Reid sah langsam auf. Der Mann war jung, höchstens dreißig, mit dunkler Haut und einem sauber getrimmten schwarzen Bart. Er trug eine runde silberne Brille und eine weiße Kufi, eine randlose, runde Kappe.
Hoffnung machte sich in Reid breit. Dieser junge Mann schien ein Intellektueller zu sein, nicht wie die Barbaren, die ihn angegriffen und ihn aus seinem Haus gerissen hatten. Vielleicht konnte er mit diesem Mann verhandeln. Vielleicht hatte er hier das Sagen …
„Wir werden einfach anfangen“, sagte der Mann. Seine Stimme war sanft und ruhig, die Art, wie ein Psychologe mit einem Patienten sprechen würde. „Wie lautet Ihr Name?“
„L … Lawson.“ Seine Stimme versagte beim ersten Versuch. Er hustete und war leicht besorgt, als er die Flecken von Blut auf dem Boden sah. Der Mann vor ihm zog angewidert seine Nase in Falten. „Mein Name ist … Reid Lawson.“ Warum fragten sie immer wieder nach seinem Namen? Den hatte er ihnen doch schon gesagt. Hatte er unwissentlich irgendjemandem etwas getan?
Der Mann schniefte langsam durch seine Nase ein und aus. Er stützte sich mit seinen Ellbogen auf seine Knie und lehnte sich vor, wobei er seine Stimme noch weiter senkte. „Es gibt eine Menge Leute, die in diesem Moment gerne in diesem Raum wären. Zum Glück für Sie, sind es nur Sie und ich. Wie dem auch sei, wenn Sie nicht ehrlich mit mir sind, habe ich keine andere Wahl, als die Anderen auch einzuladen. Und die haben nicht so viel Mitgefühl wie ich.“ Er setzte sich aufrecht. „Also ich frage Sie noch mal. Wie … lautet … Ihr … Name?“
Wie konnte er ihn davon überzeugen, dass er, er selbst war. Reids Herzschlag verdoppelte sich im Tempo, als ihm plötzlich etwas klar wurde. Es war sehr gut möglich, dass er in diesem Raum starb. „Ich sage Ihnen die Wahrheit!“, versicherte er. Und plötzlich flossen die Worte wie ein Schwall aus seinem Mund. „Mein Name ist Reid Lawson. Bitte sagen Sie mir einfach nur, warum ich hier bin. Ich weiß nicht, was hier passiert. Ich habe nichts getan –“
Der Mann schlug Reid mit der Rückseite seiner Hand über den Mund. Sein Kopf flog in die andere Richtung. Er keuchte, als er den Stich seiner frisch aufgeplatzten Lippe spürte.
„Ihr Name.“ Der Mann wischte Blut von seinem goldenen Ring an der Hand.
„Ich h-habe es Ihnen gesagt“, stammelte er. „M-Mein Name ist Lawson.“ Er verschluckte sich an einem Schluchzen. „Bitte.“
Er wagte es aufzusehen. Sein Vernehmer starrte ihn passiv und kalt an. „Ihr Name.“
„Reid Lawson!“ Reid fühlte Hitze in sein Gesicht aufsteigen, als sich der Schmerz langsam in Wut umwandelte. Er wusste nicht, was er sonst sagen sollte, was sie von ihm hören wollten. „Lawson! Es ist Lawson! Sie können meinen … meinen …“ Nein, sie konnten seinen Ausweis nicht prüfen. Er hatte seine Brieftasche nicht bei sich gehabt, als die drei muslimischen Männer ihn entführt hatten.
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