Ehrlich gesagt hatte Kate natürlich ein kleines Donnerwetter erwartet für das, was sie getan hatte, aber nichts in der Größenordnung, wie es ihr zuteil wurde, als sie die Wache des Third Precinct erreichte. Sie wusste, dass etwas kommen würde, als sie die Blicke der Polizisten sah, die während ihrer Bürotätigkeiten an ihr vorbeikamen. Einige der Blicke konnte man als ehrfurchtsvoll deuten, während andere hinter ihr her zu geifern schienen.
Kate war das egal. Sie war noch viel zu aufgebracht von ihrer Konfrontation auf Neilbolts Veranda, als dass es ihr etwas ausmachte.
Nachdem sie mehrere Minuten im Foyer gewartet hatte, kam ein nervöser Beamter auf sie zu. „Sind sind Ms. Wise, richtig?“, fragte er.
„Richtig.“
An seinen Augen konnte sie sehen, dass er sie erkannte. Es hatte einmal eine Zeit gegeben, in der sie diesen Blick ständig eingefangen hatte von Beamten, die ihr zum ersten Mal begegneten und bis dahin nur ihren Ruf kannten. Sie vermisste diese Blicke des Erkennens.
„Chief Budd möchte Sie sprechen.“
Ehrlich gesagt war sie ziemlich überrascht. Sie hatte gehofft, mit jemandem vom Rang von Deputy Commissioner Greene zu sprechen. Während er am Telefon den harten Kerl hatte heraushängen lassen, wusste sie, dass er in einem persönlichen Gespräch leichter zu überzeugen war. Chief Randall Budd jedoch war jemand, den man nicht umgarnen konnte. Sie war ihm nur einmal vor einigen Jahren begegnet. Sie konnte sich kaum mehr an die eigentliche Gelegenheit erinnern; woran sie sich allerdings erinnerte war die Tatsache, dass Budd starrköpfig und absolut professionell war.
Trotzdem wollte Kate nicht eingeschüchtert oder besorgt wirken. Daher erhob sie sich und folgte dem Beamten durch den Wartebereich und das Großraumbüro. Sie kamen an mehreren Schreibtischen vorbei, wo ihr noch mehr unsichere Blicke zugeworfen wurden, und gingen dann einen Flur hinunter, der zu Randall Budds Büro führte. Die Tür stand offen, so als warte er schon seit geraumer Zeit auf sie.
Der Beamte hatte kein Wort gesagt. Sobald er sie an der Tür zu Budds Büro abgeliefert hatte, machte er auf dem Absatz kehrt und ging. Kate schaute ins Büro hinein und sah, wie Chief Budd sie zu sich herein winkte.
„Kommen Sie doch herein“, sagte er. „Ich werde Sie nicht anlügen. Ich bin nicht glücklich über Ihre Aktion, aber ich beiße auch nicht. Bitte machen Sie die Tür hinter sich zu.“
Kate trat ein und schloss die Tür. Sie nahm Platz auf einem der drei Stühle gegenüber des Chiefs Schreibtisch. Auf dessen Oberfläche fanden sich mehr persönliche Dinge als solche, die mit seiner Arbeit zu tun hatten: Familienfotos, ein signierter Baseball, ein Kaffeebecher mit persönlichem Schriftzug und eine sentimentale Patronenhülse, die in eine Plakette eingelassen war.
„Lassen Sie mich damit beginnen, dass ich mir ihres Rufes und Ihrer Erfolgsbilanz durchaus bewusst bin. Mehr als einhundert Verhaftungen während Ihrer Karriere. Klassenbeste in der Academy. Gold und Silber Medaillen in acht aufeinanderfolgenden Kickboxing Wettkämpfen neben der Standardausbildung des FBI, wo Sie auch alles niedergemäht haben. Ihr Name wurde hoch gehandelt, während Sie die Leitung hatten, und die meisten Leute hier beim Virginia State Police Department respektieren Sie höllisch.“
„Aber?“, sagte Kate. Sie sagte dies nicht, um witzig zu sein. Sie wollte ihm nur zu verstehen geben, dass sie genug Größe besaß, ermahnt zu werden… obwohl sie persönlich nicht der Meinung war, es wirklich verdient zu haben.
„Doch trotz alledem können Sie nicht durch die Gegend laufen und Leute angreifen, nur weil Sie denken, dass sie mit dem Tod der Tochter einer Ihrer Freundinnen zu tun haben könnten.“
„Ich habe ihn nicht mit dem Vorsatz aufgesucht, ihn anzugreifen“, sagte Kate. „Ich habe ihn aufgesucht, um ihm einige Fragen zu stellen. Als er handgreiflich wurde, habe ich mich natürlich verteidigt.“
„Er hat meinen Leuten erzählt, dass Sie ihn die Verandatreppen hinuntergestoßen und seinen Kopf auf den Boden geknallt haben.“
„Dass ich stärker bin als er kann mir ja wohl niemand vorwerfen, oder?“, fragte er.
Er blickte sie scharf an. „Ich kann wirklich nicht sagen, ob Sie versuchen, witzig zu sein, ob Sie diese ganze Sache auf die leichte Schulter nehmen oder ob dies wirklich Ihre alltägliche Einstellung ist.“
„Chief, ich kann nachvollziehen, dass es Ihnen Kopfschmerzen bereitet, wenn eine pensionierte fünfundfünfzigjährige Frau einen Kerl k.o. schlägt, den Ihre Leute kurz vorher vernommen und dann wieder freigelassen haben. Aber Sie müssen verstehen, dass ich nur bei Brian Neilbolt war, weil meine Freundin mich darum gebeten hat. Und als ich etwas mehr über ihn erfahren habe, fand ich die Idee ehrlich gesagt gar nicht so schlecht.“
„Sie sind also davon ausgegangen, dass meine Leute ihren Job nicht anständig machen?“, fragte Budd.
„Davon war nicht die Rede.“
Budd rollte die Augen und seufzte. „Sehen Sie mal, ich will mich darüber nicht streiten. Mir wäre nichts lieber, als wenn Sie in ein paar Minuten mein Büro verlassen, und damit wäre die Sache erledigt. Ich muss aber sicherstellen, dass Sie verstehen, dass Sie hier eine Grenze überschritten haben, und dass ich Sie festsetzen lassen muss, wenn so etwas noch einmal vorkommt.“
Kate fiel so einiges ein, was sie am liebsten geantwortet hätte, aber sie meinte, wenn Budd die Sache auf sich beruhen lassen konnte, dann konnte sie das auch. Ihr war klar, dass er ihr so richtig die Hölle heiß machen konnte, sofern er das wollte. Daher beschloss sie, so höflich wie möglich zu sein.
„Ich verstehe“, sagte sie.
Budd schien über etwas nachzudenken, bevor er die Finger beider Hände ineinander und dann die Hände vor sich auf den Schreibtisch legte, so als wolle er seine Mitte finden. „Damit Sie Bescheid wissen, wir sind sicher, dass Brian Neilbolt Julie Hicks nicht ermordet hat. In der Nacht, in der sie ermordet wurde, ist er von Überwachungskameras vor einer Bar aufgenommen worden. Gegen zehn ist er rein und nicht wieder herausgekommen bis nach Mitternacht. Ferner haben wir Aufzeichnungen von SMS zwischen ihm und seiner derzeitigen Flamme, die zwischen eins und drei Uhr morgens gesendet wurden. Der Kerl ist sauber. Er war es nicht.“
„Er hatte Rucksäcke und eine Tasche gepackt“, warf Kate ein. „Als wolle er die Stadt schnell verlassen.“
„In den SMS haben er und seine Flamme verabredet, sich in Atlantic City zu treffen. Er wollte heute Nachmittag los.“
„Aha“, nickte Kate. Es war ihr nicht regelrecht peinlich, aber ein bisschen bereute sie schon, sich so aggressiv auf Neilbolts Veranda verhalten zu haben.
„Ach ja, und noch etwas“, sagte Budd. „Sie müssen die Dinge von meinem Standpunkt aus betrachten. Ich hatte keine Wahl, als Ihren früheren Vorgesetzen beim FBI zu informieren. Das ist die korrekte Vorgehensweise. Sicherlich wissen Sie das.“
Natürlich wusste sie das, hatte aber tatsächlich nicht daran gedacht. In ihr breitete sich leichter Ärger aus.
„Ich weiß“, gab sie zurück.
„Ich habe mit Assistant Director Duran gesprochen. Er war nicht glücklich über diese Sache und will mit Ihnen sprechen.“
Kate rollte die Augen und nickte. „Gut. Ich rufe ihn an und lasse ihn wissen, dass die Instruktion von Ihnen kommt.“
„Nein, Sie das verstehen das nicht richtig“, sagte Budd. „Die wollen Sie sehen. In Washington DC.“
Und mit diesen Worten verwandelte sich der Ärger, den sie gerade noch verspürt hatte, in echte Sorge.
Nach ihrer Unterredung mit Chief Budd tätigte Kate ein paar Anrufe, um ihre früheren Vorgesetzten wissen zu lassen, dass sie über ihre Instruktionen informiert war. Übers Telefon bekam sie keine Informationen und sprach auch mit niemandem direkt, der etwas zu sagen hatte. Sie konnte nicht anders, als einige Rezeptionistinnen mit ziemlich unhöflichen Kommentaren zu bedenken, was tatsächlich half, den Stress etwas abzubauen.
Am folgenden Tag fuhr sie um acht Uhr morgens los. Interessanterweise war sie eher aufgeregt als nervös. Sie dachte bei sich, dass sich so ein Universitätsabgänger fühlen musste, der nach einer zeitweiligen Abwesenheit wieder seinen Campus aufsuchte. Das ganze letzte Jahr über hatte sie das FBI furchtbar vermisst und freute sich auf ihre alte Umgebung – selbst wenn der Grund dafür war, abgemahnt zu werden.
Sie lenkte sich mit einem Podcast über Kinofilme, den ihre Tochter ihr empfohlen hatte, ab. Schon nach fünf Minuten hörte sie dem Moderator nicht mehr zu und dachte stattdessen über die letzten Jahre nach. Sie war im Allgemeinen kein sentimentaler Mensch, aber aus irgendeinem Grund, der ihr selbst nicht ganz klar war, wurde sie beim Fahren wehmütig und fing an nachzudenken.
Anstatt dem Podcast zuzuhören, dachte sie an ihre Tochter – ihre schwangere Tochter, die in ungefähr fünf Wochen ihr Kind bekommen würde. Es wurde ein Mädchen und sollte Michelle heißen. Der Vater des Kindes war ein guter Mann, war aber in Kates Augen nie gut genug für Melissa Wise gewesen. Melissa, die von Kate seit ihrem Kindesalter Lissa genannt wurde, wohnte in Chesterfield, das technisch zu Richmond gehörte, von den Einwohnern aber als eigenständig betrachtet wurde. Obwohl sie es Melissa nie erzählt hatte, war dies der Grund, warum Kate wieder nach Richmond gezogen war. Nicht nur wegen ihrer Verbindung zur Stadt auf Grund ihrer Collegejahre, sondern weil dies der Ort war, an dem ihre Familie lebte – und wo ihre Enkel aufwachsen würden.
Eine Enkelin, dachte Kate oft. Wie ist Melissa so schnell groß geworden? Himmel, wie bin ich selbst so schnell alt geworden?
Und wenn sie an Melissa und die noch ungeborene Michelle dachte, wanderten ihre Gedanken unweigerlich zu ihrem verstorbenen Ehemann. Vor sechs Jahren war er ermordet worden, durch einem Schuss in den Hinterkopf, als er abends den Hund ausführte. Sein Handy und sein Portemonnaie waren verschwunden, und keine zwei Stunden, nachdem er mit dem Hund das Haus verlassen hatte, wurde sie gerufen, um den Leichnam zu identifizieren.
Ihre Wunden waren noch frisch, aber meistens gelang es ihr, diese zu verbergen. Sie war acht Monate vor dem offiziellen Zeitpunkt in Ruhestand gegangen. Denn es war ihr unmöglich gewesen, sich voll und ganz ihrer Arbeit zu widmen, nachdem sie die Asche ihres Mannes auf einem alten Baseballfeld nahe seines Heimatorts Falls Church verstreut hatte.
Vielleicht war sie deshalb das ganze letzte Jahr so down gewesen. Sie hatte Monate, bevor sie hätte gehen müssen, das Handtuch geworfen. Was hätte in diesen Monaten alles passieren können? Was hätte sie mit ihrer Karriere vielleicht noch anfangen können?
Sie hatte sich immer darüber Gedanken gemacht, ohne aber irgendetwas zu bereuen. Michael verdiente zumindest einige Monate ihrer ungeteilten Aufmerksamkeit. Natürlich hätte er sehr viel mehr als das verdient, aber sie war sicher, dass er niemals gewollt hätte, dass sie seinetwegen ihre Arbeit noch mehr vernachlässigte. Trauerarbeit in ihrem Fall bedeutete, so lange wie möglich nach seinem Tod beim FBI zu bleiben.
Als sie sich Washington DC näherte, war sie erleichtert festzustellen, dass sie nicht das Gefühl hatte, Michael zu betrügen. Sie persönlich glaubte daran, dass der Tod nicht das Ende bedeutete. Zwar wusste sie nicht, ob es einen Himmel gab oder Wiedergeburt möglich war, aber eigentlich musste sie dies auch nicht wissen. Was sie allerdings wusste, war, dass Michael glücklich gewesen wäre, sie wieder nach DC fahren zu sehen – und sei es, um abgemahnt zu werden.
Wenn überhaupt, lachte er sich wahrscheinlich gerade tot über sie.
Bei diesem Gedanken musste Kate lächeln. Sie schaltete den Podcast ab und konzentrierte sich auf die Straße, auf ihre eigenen Gedanken, und wie das Leben immer wieder zynisch erschien.
***
Sie wurde nicht von Emotionen übermannt, als sie durch die Eingangstür in das große Foyer des FBI Hauptquartiers trat. Wenn überhaupt, so war sie sich schmerzlich bewusst, dass sie nicht mehr hierher gehörte – wie eine Frau, die ihre alte High School besuchte und feststellte, dass die Flure sie eher traurig anstatt sentimental stimmten.
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