Die beiden Männer wirkten bedrohlich. Sie sahen außerdem ein wenig lächerlich aus – der kleinere von beiden trug eine Wächteruniform, sein sehr viel breiterer Partner trug seinen ultraformellen Butleranzug.
Wie ein paar Zirkusclowns, dachte sie.
Aber sie wusste, dass sie nicht versuchten lustig zu sein.
Riley hielt direkt vor ihnen. Sie rollte ihr Fenster nach unten, lehnte sich nach draußen und rief ihnen zu:
"Gibt es ein Problem, Gentlemen?"
Der Wächter kam näher, direkt auf ihren Wagen zu.
Der kolossale Butler stapfte auf das Beifahrerfenster zu.
Er sprach in einem donnernden Bass.
"Abgeordnete Webber würde gerne ein Missverständnis aufklären."
"Und das wäre?"
"Sie möchte, dass Sie verstehen, dass Schnüffler hier nicht erwünscht sind."
Jetzt verstand Riley.
Webber und ihre Assistentin waren offenbar zu dem Schluss gekommen, dass Riley eine Betrügerin und keine wirklich FBI Agentin war. Sie schienen zu vermuten, dass sie eine Reporterin war, die eine Art Exposé über die Abgeordnete schreiben wollte.
Ohne Zweifel waren diese beiden Typen es gewohnt, mit neugierigen Reportern umzugehen.
Riley zog wieder ihre Marke aus der Tasche.
"Ich denke, es hat tatsächlich ein Missverständnis gegeben", sagte sie. "Ich bin wirklich eine Spezialagentin des FBI."
Der große Mann grinste abfällig. Er glaubte scheinbar, ihre Marke sei eine Fälschung.
"Steigen Sie bitte aus dem Wagen", sagte er.
"Lieber nicht, danke", erwiderte Riley. "Ich würde es wirklich zu schätzen wissen, wenn Sie das Tor öffnen würden."
Riley hatte ihre Tür unverschlossen gelassen. Der große Mann öffnete sie.
"Steigen Sie bitte aus dem Wagen", wiederholte er.
Riley stöhnte leise auf.
Das wird nicht gut enden, dachte sie.
Riley stieg aus dem Wagen und schloss die Tür. Die beiden Männer stellten sich in kurzem Abstand nebeneinander vor sie.
Riley fragte sich, welcher von ihnen sich zuerst bewegen würde.
Dann ließ der große Mann seine Knöchel knacken und kam auf sie zu.
Riley trat ihm entgegen.
Als er nach ihr griff, packte sie ihn am Kragen und dem Ärmel seines linken Arms und brachte ihn aus dem Gleichgewicht. Dann drehte sie sich auf ihrem linken Fuß schnell um die eigene Achse und duckte sich. Sie spürte das massive Gewicht des Mannes kaum, als sein gesamter Körper über ihren Rücken flog. Er landete mit einem lauten Knall kopfüber vor ihrer Autotür und schlug mit dem Kopf auf dem Boden auf.
Das Auto hat am meisten abbekommen, dachte sie in einem Anflug von Unmut.
Der andere Mann bewegte sich bereits auf sie zu und sie wirbelte herum.
Sie landete einen Tritt in seine Weichteile. Er klappte stöhnend zusammen und Riley konnte sehen, dass dieser kleine Kampf vorbei war.
Sie nahm die Pistole des Mannes aus seinem Hüftholster.
Dann betrachtete sie ihr Werk.
Der große Mann lag noch immer in einem Haufen neben dem Auto und starrte sie verängstigt an. Die Tür des Wagens war verbeult, aber nicht so schlimm, wie Riley befürchtet hatte. Der uniformierte Mann war auf Händen und Knien und schnappte nach Luft.
Sie hielt die Pistole, mit dem Griff zuerst, dem Wächter entgegen.
"Das scheinen Sie verloren zu haben", sagte sie mit süßlicher Stimme.
Mit zitternden Händen streckte er sich nach der Waffe aus.
Riley zog sie wieder weg.
"Nicht so schnell", sagte sie. "Nicht bevor Sie das Tor geöffnet haben."
Sie nahm den Mann bei der Hand und half ihm auf die Beine. Er stolperte zurück zur Hütte und öffnete das Tor. Riley ging zu ihrem Wagen.
"Entschuldigen Sie bitte", sagte sie zu dem enormen Mann.
Immer noch verängstigt dreinblickend, kroch der Mann wie ein gigantischer Krebs beiseite, um Riley aus dem Weg zu gehen. Sie stieg in ihr Auto und fuhr durch das Tor. Die Waffe warf sie durch das Fenster auf den Boden, während sie wegfuhr.
Die denken nicht mehr, dass ich ein Reporter bin, dachte sie.
Sie war sich außerdem sicher, dass die Abgeordnete es ebenfalls sehr schnell wissen würde.
*
Einige Stunden später fuhr Riley auf den Parkplatz vor dem BAU Gebäude. Dort saß sie für einige Minuten. Sie war nicht einmal während dem letzten Monat hier gewesen. Sie hatte nicht erwartet, so schnell zurück zu sein. Es fühlte sich seltsam an.
Sie stellte den Motor aus, zog den Schlüssel ab, stieg aus dem Wagen, und ging in das Gebäude. Auf dem Weg zu ihrem Büro wurde sie von Freunden und Kollegen in variierenden Stufen von Willkommen, Überraschung, oder Zurückhaltung begrüßt.
Sie hielt am Büro ihres Partners, Bill Jeffreys, aber er war nicht da. Vermutlich war er an einem Fall, diesmal mit einem anderen Partner.
Sie spürte einen kleinen Stich der Einsamkeit – sogar der Eifersucht.
In vielerlei Hinsicht war Bill ihr bester Freund.
Trotzdem, vielleicht war es gerade gut so. Bill wusste nicht, dass sie und Ryan wieder zusammen waren, und er würde es nicht gutheißen. Er hatte zu oft ihre Hand gehalten, während der schmerzhaften Trennung und Scheidung. Er würde nur schwer glauben, dass Ryan sich geändert hatte.
Als sie die Tür zu ihrem Büro öffnete, musste sie ein zweites Mal hinsehen, um sicherzugehen, dass sie im richtigen Raum stand. Es sah alles viel zu ordentlich und organisiert aus. Hatten sie ihr Büro einem anderen Agenten gegeben? Arbeitet gerade jemand anderes hier?
Riley öffnete eine Schublade und fand vertraute Unterlagen, wenn auch besser geordnet.
Wer würde hier alles für sie aufräumen?
Sicherlich nicht Bill. Er würde es besser wissen.
Vielleicht Lucy Vargas, dachte sie.
Lucy war eine junge Agentin, mit der sowohl sie, als auch Bill gearbeitet hatten, eine, die sie beide mochten. Falls Lucy hinter all dieser Ordnung steckte, dann hatte sie wenigstens nur versucht hilfreich zu sein.
Riley saß an ihrem Schreibtisch.
Bilder und Erinnerungen trafen sie – der Sarg des Mädchens, ihre am Boden zerstörten Eltern, und Rileys schrecklicher Traum von dem hängenden Mädchen, umgeben von Erinnerungsstücken. Sie erinnerte sich auch, wie Dekan Autrey ihren Fragen ausgewichen war und Hazel Webber regelrecht gelogen hatte.
Sie erinnerte sich an das, was sie zu Hazel Webber gesagt hatte. Sie hatte versprochen, eine offizielle Untersuchung einzuleiten. Es war an der Zeit dieses Versprechen einzuhalten.
Sie nahm ihr Telefon und klingelte Brent Meredith, ihren Boss, an.
Als der Teamchef abnahm, sagte sie, "Sir, hier ist Riley Paige. Ich habe mich gefragt, ob––"
Sie wollte ihn um ein paar Minuten seiner Zeit bitten, als seine Stimme durch den Hörer donnerte.
"Agentin Paige, kommen Sie sofort in mein Büro."
Riley schauderte.
Meredith war definitiv wütend auf sie.
Als Riley ins Büro von Brent Meredith eilte, fand sie ihn neben seinem Schreibtisch stehend auf sie wartend wieder.
"Schließen Sie die Tür", sagte er. "Setzen Sie sich."
Riley tat, wie ihr geheißen wurde.
Immer noch stehend, schwieg Meredith für einen Augenblick. Er starrte Riley einfach nur finster an. Er war ein großer Mann – breit gebaut mit kantigen Zügen. Und er war selbst in seiner besten Laune einschüchternd.
Gerade jetzt, war er nicht bester Laune.
"Gibt es etwas, das Sie mir sagen wollen, Agentin Paige?", fragte er.
Riley schluckte. Sie nahm an, dass ihre Aktivitäten des Tages bereits bei ihm angekommen waren.
"Vielleicht fangen Sie besser an, Sir", sagte sie schwach.
Er trat auf sie zu.
"Ich habe zwei Beschwerden über Sie von höherer Stelle bekommen", sagte er.
Rileys Mut sank. Sie wusste, wen Meredith mit 'höherer Stelle' meinte. Die Beschwerden waren vom leitenden Spezialagent Carl Walder selbst gekommen – einem verachtenswerten kleinen Mann, der Riley mehr als einmal wegen Ungehorsam suspendiert hatte.
Meredith knurrte, "Walder sagt mir, dass er einen Anruf von einem Dekan eines kleinen Colleges bekommen hat."
"Ja, Byars College. Aber wenn Sie mir erlauben zu erklären––"
Meredith unterbrach sie wieder.
"Der Dekan sagt, Sie seien in sein Büro gekommen und hätten absurde Anschuldigen erhoben."
"Das ist nicht, was passiert ist, Sir", versuchte Riley einzuwerfen.
Aber Meredith beachtete sie gar nicht.
"Walder hat außerdem einen Anruf von der Abgeordneten Hazel Webber bekommen. Sie sagt, Sie haben sich Zugang zu ihrem Haus verschafft und sie belästigt. Sie haben sogar über einen nicht existierenden Fall gelogen. Und dann haben Sie zwei ihrer Mitarbeiter angegriffen. Sie haben Sie mit ihrer Waffe bedroht."
Riley stellten sich bei dieser Anschuldigung die Nackenhaare auf.
"Das ist wirklich nicht, was passiert ist, Sir."
"Was ist dann passiert?"
"Es war die Waffe des Wächters", platzte sie heraus.
Sobald die Worte aus dem Mund waren, wurde Riley klar:
Das ist nicht richtig herausgekommen.
"Ich habe versucht, sie zurückzugeben!", sagte sie.
Aber sie wusste sofort, das hat nicht geholfen.
Ein langes Schweigen fiel.
Meredith atmete tief ein. Schließlich sagte er, "Sie sollten besser eine gute Erklärung für Ihr Verhalten haben, Agentin Paige."
Riley seufzt.
"Sir, es hat alleine in diesem Schuljahr drei verdächtige Todesfälle am Byars College gegeben. Alles angebliche Selbstmorde. Ich glaube nicht, dass sie das waren."
"Das ist das Erste, was ich davon höre", sagte Meredith.
"Ich verstehe, Sir. Und ich bin hergekommen, um mit Ihnen darüber zu reden."
Meredith wartete auf weitere Erklärungen.
"Eine Freundin meiner Tochter hatte eine Schwester am Byars College – Lois Pennington, Erstsemester. Ihre Familie hat sie letzten Sonntag in der Garage hängend gefunden. Ihre Schwester glaubt nicht, dass es Selbstmord war. Ich habe die Eltern befragt, und––"
Meredith rief laut genug, dass er auch auf dem Flur zu hören war:
"Sie haben die Eltern befragt?"
"Ja, Sir", sagte Riley leise.
Meredith brauchte einen Moment, um sich zu beruhigen.
"Muss ich Ihnen sagen, dass das kein BAU Fall ist?"
"Nein, Sir", sagte Riley.
"Tatsächlich, soweit ich weiß, ist es überhaupt kein Fall."
Riley wusste nicht, was sie als Nächstes sagen sollte.
"Also, was haben die Eltern gesagt?", fragte Meredith. "Denken sie, dass es Selbstmord war?"
"Ja", gab Riley mit leiser Stimme zu.
Jetzt war es an Meredith sprachlos zu sein. Er schüttelte konsterniert den Kopf.
"Sir, ich weiß, wie das klingt", sagte Riley. "Aber der Dekan am Byars hat etwas verheimlicht. Und Hazel Webber hat mich über den Tod ihrer Tochter belogen."
"Woher wissen Sie das?"
"Ich weiß es einfach!"
Riley sah Meredith beschwörend an.
"Sir, nach all den Jahren wissen Sie sicherlich, dass meine Instinkte gut sind. Wenn ich ein bestimmtes Bauchgefühl habe, dann liege ich fast immer richtig. Sie müssen mir vertrauen. Da stimmt etwas nicht, an den Toden dieser Mädchen."
"Riley, Sie wissen, dass das so nicht funktioniert."
Riley war aus dem Konzept gebracht. Meredith nannte sie nur selten beim Vornamen – nur, wenn er ernsthaft besorgt um sie war. Sie wusste, dass er sie schätzte, mochte, und respektierte und sie fühlte ebenso.
Er lehnte sich gegen seinen Schreibtisch und zuckte unzufrieden mit den Schultern.
"Vielleicht haben Sie recht, vielleicht auch nicht", sagte er mit einem Seufzen. "Wie auch immer, ich kann keinen BAU Fall daraus machen, nur weil Ihr Bauchgefühl sich meldet. Dafür braucht es eine Menge mehr."
Meredith sah sie nun besorgt an.
"Agentin Paige, Sie haben eine Menge durchgemacht. Sie haben viele gefährliche Fälle übernommen und beim letzten ist ihr Partner beinahe durch eine Vergiftung umgekommen. Und Sie haben ein neues Familienmitglied, um das sie sich kümmern müssen, und …"
"Und was?", fragte Riley.
Meredith hielt inne und sagte dann, "Ich habe Sie vor einem Monat beurlaubt. Sie schienen das für eine gute Idee zu halten. Das letzte Mal, als wir gesprochen haben, wollten Sie sogar mehr Zeit. Ich denke, das ist das Beste. Nehmen Sie sich so viel Zeit, wie Sie brauchen. Sie haben die Ruhe nötig."
Riley fühlte sich entmutigt und geschlagen. Aber sie wusste auch, dass es keinen Sinn hatte zu diskutieren. Meredith hatte recht. Er konnte keinen Fall daraus machen, nur aufgrund dessen, was Sie ihm erzählt hatte. Vor allem nicht mit einem bürokratischen Albtraum wie Walder, der ihnen im Nacken saß.
"Es tut mir leid, Sir", sagte sie. "Ich gehe jetzt nach Hause."
Sie fühlte sich unendlich alleine, als sie Merediths Büro verließ und aus dem Gebäude ging. Aber sie war noch nicht bereit, ihren Verdacht beiseite zu schieben. Ihr Bauchgefühl war dafür zu stark. Sie wusste, dass sie etwas tun musste.
Das Wichtigste zuerst, dachte sie.
Sie musste mehr Informationen bekommen. Sie musste beweisen, dass etwas nicht stimmte.
Aber wie sollte sie das alleine tun?
*
Riley kam eine halbe Stunde vor dem Abendessen nach Hause. Sie ging in die Küche und fand Gabriela, die eine weitere ihrer leckeren Spezialitäten aus Guatemala, gallo en perro, einen scharfen Eintopf, zubereitete.
"Sind die Mädchen zu Hause?", fragte Riley.
"Sí. Sie sind in Aprils Zimmer und machen zusammen Hausaufgaben."
Riley war ein wenig erleichtert. Zumindest zu Hause schien alles gut zu laufen.
"Was ist mit Ryan?", fragte Riley.
"Er hat angerufen. Er kommt später."
Riley spürte ein leichtes Unbehagen. Es erinnerte sie an die schlechten Zeiten mit Ryan. Aber sie sagte sich selbst, dass sie sich keine Sorgen machen musste. Ryans Job war einfach anstrengend. Und außerdem sorgte Rileys eigener Job dafür, dass sie häufiger von Zuhause weg war, als sie wollte.
Sie ging nach oben und warf ihren Computer an. Sie suchte nach Informationen zu Deanna Webbers Tod, konnte aber nichts finden, was sie nicht bereits wusste. Dann suchte sie nach Cory Linz, dem anderen Mädchen, das gestorben war. Wieder fand sie nur dürftige Informationen.
Sie suchte nach Todesanzeigen, die das Byars College erwähnten, und fand insgesamt sechs. Einer war im Krankenhaus gestorben, nach einem langen Kampf mit Krebs. Von den anderen erkannte sie die Fotos von drei jungen Frauen. Es waren Deanna Webber, Lois Pennington, und Cory Linz. Aber sie erkannte weder den jungen Mann, noch die junge Frau in den anderen beiden Todesanzeigen. Ihre Namen waren Kirk Farrell und Constance Yoh, beides Studenten.
Natürlich erwähnte keine der Todesanzeigen, dass der oder die Verstorbene Selbstmord begangen hatte. Die meisten waren sehr vage, was die Todesursache anging.
Riley lehnte sich in ihrem Stuhl zurück und seufzte.
Sie brauchte Hilfe. Aber an wen konnte sie sich wenden? Sie hatte noch immer keinen Zugang zu den Techies in Quantico.
Sie schauderte bei einer anderen Möglichkeit.
Nein, nicht Shane Hatcher, dachte sie.
Das kriminelle Genie, das von Sing Sing geflohen war und ihr bei mehr als einem Fall geholfen hatte. Ihr Versagen – oder war es ihr Widerwillen – ihn zu fassen, hatte deutlichen Unmut bei Rileys Vorgesetzten des BAUs ausgelöst.
Sie wusste sehr wohl, wie sie ihn kontaktieren konnte.
Tatsächlich könnte sie es sofort, hier an ihrem Computer.
Nein, dachte Riley mit einem weiteren Schaudern. Absolut nicht.
Aber an wen sollte sie sich sonst wenden?
Da erinnerte sie sich an etwas, das ihr Hatcher in einer ähnlichen Situation gesagt hatte.
"Ich denke du weißt, mit wem du im FBI reden musst, wenn du Persona Non Grata geworden bist. Noch jemand, der sich nicht um die Regeln schert."
Riley spürte leichte Aufregung.
Sie wusste genau, wessen Hilfe sie brauchte.
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