Trotz der regelmäßig eingesauten Fußabtreter, die er aus Resten der beim Renovieren übriggebliebenen Auslegware zuschnitt, vertrieb er die Obdachlosen nie.
Anfangs hatte er sie stillschweigend Nailja Iossifowna überlassen. Doch die konnte sich nicht dazu durchringen, etwas zu unternehmen. Dann wartete er darauf, dass jemand anders im Haus gegen die Obdachlosen zu Felde ziehen würde[9]. Aber die übrigen Bewohner des zweiten und dritten Stocks gingen entweder früh zu Bett und standen spät auf, oder sie verließen die Wohnung monatelang überhaupt nicht und interessierten sich daher nicht für den Zustand des Treppenhauses.
Ein Stockwerk höher stand eine Wohnung leer, Makler führten ihre verängstigten Kunden hinauf. Daneben war eine Prostituierte eingezogen, die aussah wie eine Schauspielerin aus einem italienischen 50er-Jahre-Film über ein Fischerdorf. Koroljow hatte den Film als Kind mehrmals gesehen – im Internat wurden samstags immer irgendwelche alten Filme angeschleppt. Gezeigt wurden sie im Speisesaal. Der Filmvorführer knutschte auf der Fensterbank mit der Krankenschwester und reagierte nicht gleich, wenn es pfiff und tönte: »He, du Depp! Weiter!« In den quälenden Pausen zwischen den knisternden Küssen war zu hören, wie der Film surrte und ruckartig an den Spulen zerrte, wie eine Maus herumtrippelte und ein Stück Brotrinde die Scheuerleiste entlangjagte.
Auf der geflickten Leinwand zog ein Mädchen von unendlicher Schönheit, das Haar vom Wind zerzaust, im engen Matrosenhemd, unter dem sich die Brüste drängten, bis zum Knie in schäumender Brandung, ein Fischerboot ins tiefe Wasser, kletterte hinein, entrollte das Segel, und Koroljow stockte der Atem[10].
Zwei Puffmütter mit zerknittertem, aber professionellem Gesichtsausdruck und klimperndem Schlüsselbund brachten der Nachbarin reiche Kunden ins Haus. Diese agilen, wachsamen Brünetten hatten gepflegte, sonnengebräunte Haut, kauten nervös Kaugummi, quietschten weich in ihren Krokodilmokassins, ließen ihre Uhren unter den Aufschlägen hervorblitzen und die Schnallen ihrer Aktentaschen aufblinken und hinterließen in der Luft ein feines Duftornament. Haut und Kleidung entstammten einer anders begüterten Welt – einer Welt voller Massageglanz, Lackfältchen und Gesichtspflege.
Abends kam die junge Frau herunter. In einen kurzen Pelz gehüllt, die Schuhe an den bloßen Füßen, trottete sie zerstreut durch den Matsch zur Krasnaja Presnja. Die Passanten drehten sich nach ihr um und verlangsamten den Schritt. Koroljow war ihr einige Male nachgegangen, er hatte dann lange auf dem Gehweg gestanden und durch das Fenster eines japanischen Restaurants ihr Profil betrachtet, während sie die Speisekarte studierte, Sushi kaute, sich zerstreut die wirren Haare richtete, die vollen, zarten Lippen ein wenig öffnete und mal den Raum, mal das unter der Theke angebrachte Aquarium mit den beiden streitenden Buntbarschen betrachtete.
In der dritten Wohnung lebte zusammen mit seinem betagten Vater ein stiller, drahtiger junger Mann mit Downsyndrom. Sie kannten sich eigentlich nicht, doch wenn sie sich begegneten, rief er munter »Hallöchen, wie geht’s?« und streckte Koroljow die kräftige Hand hin. Der junge Nachbar schleppte ständig irgendetwas die Treppen rauf und runter, mal Kartoffelsäcke, mal Zwiebelnetze, mal Hanteln, mal Kugellager verschiedener Kaliber, die auf einem Draht aufgefädelt waren wie Gebäckkringel. Einmal war ihm ein solches Bund gerissen und die Kugellager mit schrecklichem Radau die Stufen hinuntergerollt. Der Junge bekam einen Schreck und lief weg. Koroljow sammelte die Ringe im ganzen Treppenhaus ein und legte sie aufs Fensterbrett. Seither lagen sie dort, mittlerweile verrostet und mit Zigarettenstummeln gespickt.
Auf seiner Etage wohnten Angestellte des Gartenbaugeschäfts auf dem Gelände des Timirjasew-Museums – schwermütige, unablässig fluchende Wießrussen, die sich freitagabends auf der Bank vor dem Haus volllaufen ließen. Sie wurden von der Geschäftsleitung immer wieder zwischen den Filialen hin und her geschoben, und so traf er heute die einen, morgen die anderen und übermorgen die dritten, und es kam ihm vor, als würden in der Einzimmerwohnung an die zwanzig Leute leben.
In der Wohnung direkt gegenüber wohnte eine sonderbare Familie. Die Frau war gläubig und erzog ihre zwei heranwachsenden Mädchen streng. Sonntags ging sie mit ihnen in die Kirche, von wo sie – alle drei mit Kopftuch und Rucksack, in grauen und lila Jäckchen sowie langen schwarzen Röcken, einander ausgesprochen ähnlich – im Gänsemarsch[11] zurückkamen. Die noch junge Frau blickte stets finster drein und grüßte nie. Ihren Mann, der ebenfalls keinen Gruß erwiderte[12], verdrosch sie wortlos oder ließ ihn nicht in die Wohnung, wenn er gelegentlich volltrunken nach Hause kam, die Tasche über der Schulter, eine Flasche Starkbier in der Hand und nicht gleich in der Lage, die ihm entgegenstürzenden Stufen zu bewältigen. Der Mann war schmächtig, hatte aber gewaltige, steife Finger mit dicken schwarzen Nägeln an kräftigen Phalangen, mit denen er seine Flasche wie einen Stift umklammerte, wenn er auf den Stufen neben der Wohnungstür friedlich wegdöste. Solche Hände hatte Koroljow als Kind bei den Arbeitern der Maschinenfabrik Roter Bauarbeiter gesehen, die sich an der Station Zement-Gigant in den verqualmten Einstiegsbereich des Fünf-Uhr-Vorortszuges drängten: Abends waren er und die anderen Jungs gerne aus dem Internat abgehauen und nach Kolomna gefahren, um in der Zoohandlung die Schwertträger oder Segelflosser zu beäugen.
Einmal setzte er sich zu dem dösenden Nachbarn auf die Treppe, nahm einen Schluck von dessen Bier und betrachtete lange wie gebannt diese Finger. Der Zug hatte stets vor der Brücke abgebremst, an der die Moskwa in die Oka mündet, unten krauchte winzig ein Häuschen mit einem Wachtposten vorbei, riesig ragten die Brückenträger empor, die Räder klopften und hallten plötzlich bedeutsam, ringsum ergoss sich frei der weite Fluss, darin die Tropfen der Kuppeln, die Kremlmauern, Gärten, Gemüsebeete, Feuerwachtürme … Da plötzlich ging die Wohnungstür auf, die Nachbarin schob Koroljow zur Seite, zog ihrem Mann das Portemonnaie und die Schlüssel aus der Tasche, zerrte ihm die Schuhe von den Füßen und verschwand wieder in der Wohnung. Im Sommer reichte sie die Scheidung ein, wechselte das Schloss, ihr Exgatte versuchte die Tür aufzubrechen, woraufhin sie mit einer Unterschriftenliste die Nachbarn abklapperte und Geld für den Einbau einer Gegensprechanlage sammelte. Im Herbst wohnte der Mann wieder bei ihr, die Mädchen hatten jetzt modische Haarschnitte, trugen keine tristen Kopftücher mehr und grüßten, doch die Haustür bekam immer noch jeder auf, der es wollte, denn die nötige Summe für die Gegensprechanlage war am Ende doch nicht zusammengekommen.
Nadja und Wadja waren vorbildliche »Beiwohner«, so nannte Nailja Iossifowna die auf dem Treppenabsatz nächtigenden Obdachlosen. Sie hinterließen keinen Dreck, wenngleich in den Morgenstunden ein ordentlicher Mief im Treppenhaus hing, bis er von Tabakschwaden abgelöst wurde, die aus den Nasenlöchern der merkwürdigerweise ständig ein- und ausgehenden Weißrussen strömten. Die beiden hatten, wenn auch nicht ohne Kampf, die anderen Obdachlosen nach und nach vertrieben. Mittlerweile stand in einer Ecke des Treppenabsatzes ein abgenutzter Reisigbesen, den sie auf dem Müllplatz hinter der Banja an der Krasnaja Presnja aufgetrieben hatten. Damit fegte Nadja vor und nach dem Nachtlager sorgfältig den Treppenabsatz und morgens auch noch zwei Treppen abwärts und eine hinauf.
Nadja redete nicht viel, sie schämte sich für ihre Unfähigkeit. Dafür hörte sie für ihr Leben gern zu. Wadja hingegen ließ keine Gelegenheit aus, mit Worten nach dem Leben zu greifen, es zumindest ans Tageslicht zu lassen – als würde er dieser seiner Gabe Dankbarkeit zollen, indem er ihm seine Geschichten darbrachte und zugleich seine Kunstfertigkeit hegte und pflegte, die ihm so oft aus der Patsche geholfen hatte[13]. In schwierigen Situationen konnte er sich über die Sprache einen Zugang zu den Menschen ertasten, Vertrauen gewinnen[14] oder erschmeicheln: wenn er bettelte, wenn man ihn rausschmiss, wenn man im Ismailowski-Park Kampfhunde auf ihn hetzte, ihn mit Knüppeln zur Sammelstelle für Obdachlose jagte, wenn man ihn schier zu Tode prügelte; er wusste genau, dass man auf keinen Fall schweigen darf, wenn sie einen totschlagen wollen, man muss reden, zetern, ächzen, jammern, flehen, beschämen, weinen … Und je flüssiger und müheloser du das hinkriegst, desto größer die Chance, dass du überlebst.
Wadja bezeichnete Nailja Iossifowna, wenn er mit Nadja redete, als alte Hexe, er war überzeugt, sie köchle in ihrer Küche besondere Wurzeln, die gegen den Kropf halfen, sonst wären ihre Augen schon längst geplatzt. Koroljow traute er nicht über den Weg[15], im Gespräch mit Nadja nannte er ihn misstrauisch den Schecken. Der Spitzname kam wohl daher, weil Koroljow am Scheitel eine graue Haarsträhne hatte und sein Auto ein Jahr nach einem Unfall immer noch nicht neu lackiert war: Mit der Grundierung des neuen Kotflügels und den Flecken verschiedenfarbiger Spachtelmasse war es buntgefleckt wie eine politische Landkarte.
Nadja hatte zwar keine Angst vor Koroljow, aber seine strenge Stimme, sein Blick, die Tatsache, dass er sie mit seiner Aufpasserei nicht in Ruhe ließ, sie aber auch nicht vertrieb, und die Art und Weise, wie er sie heimlich beobachtete, plötzlich lautlos die Tür einen Spalt breit öffnete, wie er sie morgens anspornte, von wegen: Prima, dass ihr hier euren Dreck wegmacht, weiter so – all das trug ihm keine Sympathie ein. Sie wusste, wenn sie so einen auf der Straße sehen würde, den würde sie im Leben nicht anschnorren: Der gibt nichts.
Koroljows penetrante Nachbarschaft nötigte ihnen dennoch zaghaften Respekt ab. Sie hielt Nadja und Wadja durch fordernde Duldsamkeit sogar auf Trab[16], die beiden reagierten mit Eifer wie in einem Rollenspiel, ähnlich begeistert wie Kinder, die beim Krankenhausspielen auf Hygiene achten: Sie waschen sich die Hände auf jeden Fall bis hinauf zu den Ellenbogen, sie kochen Plastikspritzen aus, reiben Puppen mit Watte ab usw. Nadja halbierte mit einem Blick auf Koroljows Wohnungstür Wadjas abendliche Ration – auch wenn der anfangs um sich schlug.
»Vergiss es. Nein, kriegst du nicht. Ist doch peinlich vor den Leuten. Nein!«, zischte Nadja, wehrte die Prügel ab, stieß ihn mit dem Fuß weg und versteckte im Ausschnitt die Faust mit dem Fläschchen Apothekenalkohol, 100 ml zu siebzehn Rubel, zur äußerlichen Anwendung.
Nachdem Wadja sich einmal mit dieser Art von Symbolik abgefunden hatte, befolgte er sie mit Begeisterung: Das Eingebläute ging ihm in Fleisch und Blut über. Fast wäre er im Feuereifer verbrannt bei dem Versuch, Koroljows Nachbarn ins Gewissen zu reden[17], als der betrunken nach Hause kam und auf der Treppe hinfiel.
Wadja hinkte zu ihm hinunter. Der Mann lag auf dem Rücken.
»Was denn, Kumpel. Solltest mal ein bisschen kürzertreten. Komm, hoch mit dir …« Wadja beugte sich über ihn.
Der Mann stöhnte und reckte seinen Oberkörper der zu Hilfe geeilten Nadja entgegen; die Beine wollten ihm nicht gehorchen.
»Sachte, sachte, Kumpel. Immer mit der Ruhe!«, sagte Wadja beruhigend und zog ihn ein wenig vom Geländer weg.
Blut tropfte aus der Nase auf die Stufen, die Tropfen hüllten sich ringsum in Staub. Wadja brachte ihn zur Wohnungstür, die Frau ließ ihn rein – und dann ging’s los: Die Tür flog wieder auf, der zu sich gekommene Nachbar, die Lippe blutig, schüttete Azeton auf die Treppe und die dort liegenden Obdachlosen.
»Drecksgesindel!«, brüllte er, lehnte sich gegen die Wand und ratschte mit durchnässten Streichhölzern. »Ich fackel euch alle ab!«
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