Ovid achtete nicht auf die Plakate am Eingange zu der Concerthalle und sah deshalb nicht, daß das Concert von dem Musiklehrer seiner beiden Halbschwestern gegeben wurde und dasselbe war, zu welchem er auf das Drängen seiner Mutter vor einigen Tagen bereits ein Billet genommen hatte. Ohne etwas zu sehen, nur von der Furcht besessen, die beiden Fremden aus den Augen zu verlieren, wenn das Concert stark besucht sein sollte, löste er sich voll Ungeduld ein zweites Billet an der Kasse.
Der Saal war nur klein und kaum hallvoll aber mit so ungenügenden Ventilationsvorrichtungen versehen, daß trotzdem eine drückende Atmosphäre in demselben herrschte. Leicht entdeckte er die Gesuchte mit ihrer Begleiterin auf zwei Sitzen in der Mittelreihe Ihnen nahe, am Ende der ihnen gegenüber befindlichen Reihe, waren noch mehrere Stühle leer, und auf einen derselben setzte er sich. Sie zu sehen, ohne entdeckt zu werden, weiter wünschte er nichts.
Das Concert hatte bereits begonnen, und da sie ihre Aufmerksamkeit den Sängern und Spielern auf der Plattform zuwandte, konnte er sich ungestraft ihres Anblicks freuen; in einer Pause aber blickte sie in den Zuschauerraum – und entdeckte ihn.
Hatte er sie verletzt?
Dem Anscheine nach hatte er überhaupt keinen Eindruck auf sie gemacht, denn sie sah ruhig von ihm weg nach der anderen Seite des Saales. In diesem bloßen Abwenden des Kopfes aber glaubte Ovid einen Verweis lesen zu können, deshalb begab er sich in die Sitzreihe hinter ihr; so war sie ihm ja auch näher, und er war wieder zufrieden – mehr als zufrieden.
Das nächste Stück war ein Claviersolo und der Spieler wurde durch allgemeinen Applaus bewillkommt. Als Ovid infolge dessen zum ersten Mal nach der Plattform sah, erkannte er in dem sich Verbeugenden mit der für sein Alter frühzeitigen Glatze und dem servilen Lächeln den Musiklehrer seiner Mutter, und sofort schoß ihm der Gedanke durch den Kopf, daß seine Mutter unter den Zuhörern sein könne. Wenn er sie nun auch bei einer sorgfältigen Musterung der Anwesenden nicht entdeckte, so wußte er doch, daß sie kommen würde, denn es war einer ihrer Hauptgrundsätze, für ihr Geld auch etwas zu haben.
Seufzend blickte er nach dem Eingange; sein neues Glück hatte nicht lange gedauert. Hatte er sich doch neulich, als seine Mutter ihn veranlaßte, ein Billet zu diesem Concerte zu nehmen, offen gegen Concerte ausgesprochen. Was mochte dieselbe nun, wenn sie ihn unter den Zuhörern sah, mit ihrer schnellen Fassungsgabe nicht Alles vermuthen?
Mochte indeß kommen, was wollte, er blieb auf seinem Platze und weidete seine Augen an der schlanken Gestalt des jungen Mädchens mit der milden und doch so entschiedenen Haltung des Kopfes. Das Vergnügen aber hatte jetzt einen Beigeschmack; der Gedanke an seine Mutter war dazwischen gekommen.
Als er in der auf das Solo folgenden Pause wieder nach dem Eingange gesehen hatte und sich eben wieder abwenden wollte, hörte er Mrs. Gallilee’s, seiner Mutter, laute Stimme, wie sie ihrem einen Töchterchen eine mütterliche Ermahnung ertheilte: »Sei hier artiger als im Wagen, sonst schicke ich Dich fort.«
Wenn sie ihn an diesem Platze sah und dann ihre geschickten Schlußfolgerungen zog, würde sie ihre Meinung ganz gewiß auf irgend eine Weise zum Ausdruck bringen; und sie war eine von den Frauen, die eine andere durch einen fragenden Blick, den sie versteckt anzubringen wissen, auf das empfindlichste beleidigen können. Des Mädchens halber entfernte sich Ovid deshalb sofort von demselben und setzte sich auf einen Platz an der Rückwand des Saales.
In tadelloser Toilette, auf das Vollkommenste gepudert und gemalt, mit Grazie ihre Töchter führend, und in gehörigem Abstande von der Gouvernante derselben gefolgt, trat Mrs. Gallilee imponierend ein. Den Billeteur, der ihr höflich Plätze in der Nähe der Plattform anwies, setzte sie durch eine mit der holdesten Herablassung gehaltene kleine Vorlesung über Akustik in Erstaunen. »Alle Töne, Sir«, – und sie begleitete das Wort »Sir« mit einem Lächeln, – »hört man stets am besten in der Mitte des Auditoriums.« Sie übernahm also die Führung nach der Mitte des Saales, wo in der Reihe, in welcher Carmina und Teresa saßen, leere Sitze zum Platznehmen einluden; und die nicht gekannte Tante setzte sich dicht neben die nicht gekannte Nichte.
Beide sahen einander an. War es nun infolge der im Saale herrschenden Hitze, oder hatte sich Carmina vielleicht noch nicht vollständig von der vorhergegangenen Nervenerschütterung erholt? – ihr Kopf sank auf die Schulter der alten Teresa; sie war ohnmächtig geworden.
Darf ich um eine Tasse Thee bitten, Miß Minerva?«
»Mit Vergnügen, Mr. Le Frank.«
»War denn Mrs. Gallilee von dem Concerte befriedigt?«
»Ganz entzückt. Es war vollkommen.«
»Nein, Miß Minerva – vollkommen war es nicht. Sie vergessen den Zwischenfall mit der Dame, die ohnmächtig wurde, was ebenso aufregend für das Publikum als unangenehm für die Künstler war.«
»Vorsichtig, Mr. Le Frank! Diese neuen Häuser haben so dünne Wände und Decken, und man könnte Sie vielleicht oben hören. Die ohnmächtig Gewordene ist dort und mit ihr alle Elemente zu einem Roman. Ist Ihnen der Thee so recht?«
In dieser scherzhaft reizenden Weise spielte Miß Minerva, die Gouvernante Mrs. Gallilee’s, mit der Neugier des Musiklehrers, der ein höfliches Interesse an der bevorstehenden Enthüllung bekundete, die tiefliegenden Augen aufriß und die zart gezeichneten Brauen in die Höhe zog. Derselbe war nach dem Concerte im Gallilee’schen Hause vorgesprochen, um eine Tasse Thee (mit möglichst viel Lob versüßet) im Schulzimmer einzunehmen, und befand sich nun einem auffallenden persönlichen Contrast im Gesicht der Gouvernante gegenüber, die, an der andern Seite des Tisches sitzend, zuvorkommend die Wirthin machte.
Mr. Le Franks volle Wangen strotzten von Farbe, die Ueberreste gelben Haares, die noch die Seiten seines Hauptes zierten, erschienen so seidenartig gebrechlich wie gesponnenes Glas, und die edle Fülle des von zartem Parfüm duftenden wohlgepflegten Bartes, in dem auch das schärfste Auge nicht ein Härchen hätte entdecken können, das nicht an seinem Platze gewesen wäre, wogen die vorzeitige Glatze gewissermaßen auf. Miß Minerva’s bleiches Gesicht, so mager, herb und lang, nahm sich dem gegenüber aus, als ob es danach verlangte, stellenweise von einer discreten Hülle Verdeckt zu werden. Ihr grobes schwarzes Haar überragte wie ein Schutzdach die buschigen schwarzen Brauen und harten schwarzen Augen. »Die bekommt nie einen Mann«, so hieß es in den Domestikenräumen – »sie ist viel zu gelb und gelehrt, viel zu häßlich und arm.« Und doch, wenn das Geheimnißvolle wirklich interessant ist, so war sie ein interessantes Wesen. Die Leute, die mit ihr zu thun hatten, hatten die Empfindung von etwas Geheimnisvollem – etwas unheilverkündendem Geheimnißvollen in ihrer Natur, das jeder Entdeckung trotzte. Wäre die Wissenschaft im Stande, moralische Verderbtheit durch Analyse des Blutes zu entdecken oder die Willensfestigkeit zu seciren, so hätte Miß Minerva’s innere Natur vielleicht offenbart werden mögen; so aber enthüllte sich dem prüfenden Blicke nichts Auffälligeres als ein eigenthümlich reizbares Temperament, das möglichenfalls einer explosiven Kraft als Sicherheitsventil diente, die unter Umständen – wenn die Versuchung stark genug und die Gelegenheit günstig sein sollte – dennoch hervorbrechen mochte.
»Sachte, Mr. Le Frank! Der Thee ist heiß und Sie möchten sich den Mund verbrennen. Wie soll ich Ihnen berichten, was geschehen ist?« Mit unendlichem Takte ließ Miß Minerva gerade im richtigen Momente den scherzhaft herausfordernden Ton fallen. »Denken Sie sich eben«, begann sie wieder, »eine Szene von der Bühne im Privatleben vorgehen. Die in Ihrem Concerte ohnmächtig Gewordene entpuppt sich als keine Geringere denn Mrs. Gallilee’s Nichte!«
Der allgemeinen Thorheit, die nur einen günstigen Prospekt zu lesen braucht, um blindlings in Actien zu spekulieren, paart sich gleichförmig vertheilt die Beschränktheit, die nicht im Stande ist zu entdecken, daß zwischen Fiction und Wahrheit, sei es auf der Bühne oder draußen, irgend eine mögliche Beziehung existieren könne. Wie man ein Narr sein müßte, wenn man das, was in einer Zeitung steht, bezweifeln würde, so müßte man gleichfalls ein Narr sein, wenn man das, was in einer Novelle steht, glauben wollte. Mr. Le Frank folgte bei dieser Gelegenheit dem allgemeinen Beispiele etwas zu rückhaltlos, indem er wegen des eben Berichteten Zweifel aussprach, obgleich es sich dabei um etwas handelte, das nach dem Zeugnisse einer Dame ein Vorfall des wirklichen Lebens war. Weit entfernt indeß, dadurch verletzt zu sein, sympathisierte Miß Minerva herzlich mit ihm.
»Ja, es ist wirklich zu theatralisch, um es zu glauben«, gab sie zu; »aber die junge iu Ohnmacht Gefallene ist thatsächlich mit der interessanten, aus Italien erwarteten Fremden eine und dieselbe Person. Sie kennen Mrs. Gallilee und wissen, wie sie ist – immer sympathetisch, für alle Nothfälle bereit. Sie hatte das erste Riechfläschchen zur Hand; sie war es, die die Geistesgegenwart besaß, die Ohnmächtige in eine horizontale Lage bringen zu lassen. »Man muß dem Herzen Luft machen«. sagte sie, damit die ganze Theorie der Ohnmachtsanfälle in sechs Worte zusammenfassend. Im nächsten Augenblicke, fuhr die Gouvernante fort, einen theatralischen Coup machend, ohne es zu wissen, »im nächsten Augenblicke bedurfte Mrs. Gallilee selbst des Riechfläschchens.«
»Sie wollen doch nicht sagen, daß sie ohnmächtig geworden sei!« bemerkte Mr. Le Frank, der noch. immer nicht recht gläubig war.
Miß Minerva hob den Zeigefinger, mit dem sie, wenn ihre Schülerinnen einer Aufmunterung bedurften, ihren Lectionen Nachdruck zu geben pflegte. »Mrs. Gallilee’s Seelenstärke widerstand dem Anfall wie ich Ihnen sagen wollte, als Sie mich unterbrachen, und Sie werden sofort verstehen, was sie das gekostet haben muß. Unsere interessante junge Dame war von einer abscheulichen alten Ausländerin begleitet, die vollständig den Kopf verlor, wie wahnsinnig die Hände rang und alle Heiligen anrief, was freilich nicht die geringste Wirkung hatte – dieselbe brachte aber einen Namen dazwischen, der selbst in Italien bemerkenswerth ist; und das war das Ernste bei der Sache. Versetzen Sie sich in Mrs. Gallilee’s Stelle —«
»Wie vermöchte ich das!« unterbrach sie Mr. Le Frank bescheiden.
Miß Minerva sah ihn mit einem momentanen Durchleuchten von Argwohn in den schwarzen Augen an. Es bestand das stillschweigende, keinerseits je offen anerkannte Uebereinkommen unter diesen beiden Unterweisern der Jugend, jedes mal, wenn sich das Gespräch um Mrs. Gallilee drehte, dieselbe ergebene Bewunderung zu bekunden, einerlei was sie in ihrer Privatmeinung wirklich von ihr halten mochten. Mit der Heiterkeit der Unschuld hielt Mr. Le Frank den forschen Blick Miß Minerva’s aus, die dann fortfuhr:
Бесплатно
Установите приложение, чтобы читать эту книгу бесплатно
О проекте
О подписке