Die Kleine erschrak sehr und lief eiligst hinter der Mutter her. Sie wußte nicht mehr, was sie tun sollte; denn wenn Bubi jetzt erfroren war, dann war sie schuld daran. Wenn sie nicht gewesen wäre, würden Mutter und Bubi sicher umgekehrt und nach Hause zurückgegangen sein.
Sie waren indes in ein Haus gekommen, wo unglaublich gute Leute wohnten, die sogleich sagten, ehe der Sturm sich gelegt habe, dürften die Gäste nicht vors Haus hinaus, da könne gar keine Rede davon sein. Ja, und sie sagten auch, es sei ein wahres Glück, daß sie bei ihnen eingekehrt seien; wenn sie ihren Weg noch bis zur Propstei fortgesetzt hätten, wären sie sicher alle miteinander erfroren.
Es sah aus, als sei Mutter recht froh, daß sie nun unter Dach und Fach waren. Sie saß so befriedigt da, als wisse sie ganz und gar nichts davon, daß drunten auf dem Nyhof jetzt die Bratspieße gedreht und das Fett von den großen Fleischkesseln abgeschöpft wurde.
Nachdem die Hausbewohner ihnen so recht nach Herzenslust gesagt hatten, wie gut es sei, daß die Wanderer bei ihnen eingekehrt waren, fiel es ihnen ein, zu fragen, warum sie sich denn eigentlich in dem Sturm hinausgewagt hätten, und ob sie vielleicht auf dem Weg zur Kirche gewesen seien.
Da erzählte ihnen die Mutter, warum sie unterwegs waren. Sie sagte, sie hätten zu Per Jansa auf Nyhof gewollt; der sei ihr Schwager, obgleich er ebenso reich sei, wie ihr Mann arm gewesen sei. Am zweiten Weihnachtsfeiertag halte er immer einen großen Weihnachtsschmaus, und zu diesem sei sie als Schwägerin selbstverständlich eingeladen. Sie habe allerdings von Anfang an das Wetter für recht schlecht gehalten, aber es sei ja das einzige Festmahl im Jahre, bei dem sie dabeisein dürften.
Als die guten Hausbewohner das hörten, fingen sie wieder zu jammern an und sagten, die Mutter tue ihnen schrecklich leid, weil sie nun nicht zum Festmahl bei Per Jansa kommen könnte, denn dort gehe es sicher recht hoch her; aber in diesem Sturm noch einmal einen Versuch zu machen, das sei unmöglich, sie würde geradezu ihr Leben aufs Spiel setzen.
Die Mutter stimmte mit ihnen überein, und sie sah aus, als sei es gar keine Kunst für sie, hier bei diesen armen Leuten ganz ruhig sitzenzubleiben, während es doch soviel Gutes gab, das auf sie wartete.
»Wenn Ihr die Kinder nicht bei Euch hättet, könntet Ihr Euch vielleicht schon bis zum Nyhof durcharbeiten«, setzten die Hausbewohner hinzu.
Auch darin stimmte die Mutter mit den Leuten überein. Ja, sie könnte schon noch zum Festmahl kommen, sagte sie, wenn sie die Kinder nicht bei sich hätte; diese aber wage sie bei diesem Wetter nicht mehr mit hinauszunehmen.
Nein, nein, es war nichts zu machen; darin waren alle ganz einig, aber die Mutter tat den Leuten eben doch schrecklich leid. Man sah ihnen ordentlich an, wie bekümmert sie darüber waren.
Da kam der Frau plötzlich ein guter Gedanke, über den sie sehr froh wurde.
»Ei der Tausend!« sagte sie. »Wenn Ihr selbst Lust zum Gehen hättet, könntet Ihr ja die Kinder hier bei uns lassen.«
Alle beide, die Frau und der Mann, waren ganz beglückt über diesen Einfall, und sie konnten gar nicht begreifen, warum sie nicht früher darauf gekommen waren.
Die Mutter machte zuerst etwas Umstände, gab aber bald nach. Und dann wurde ausgemacht, die Kinder sollten den Tag über und auch die Nacht dableiben, wo sie waren, und die Mutter würde dann am nächsten Tage wiederkommen und sie abholen.
Darauf ging die Mutter, und da saß nun das kleine Mädchen.
Jetzt war also alle Hoffnung zu Ende, sie kam nicht zum Weihnachtsschmaus, das sah sie wohl ein. Aber was hätte es helfen können, wenn sie auch gesagt hätte, sie wollte mit der Mutter gehen? Diese herzensguten Leute, bei denen sie Unterkunft gefunden hatten, hätten sie doch nicht fortgelassen, auch hätte man ja Bubi nicht ganz allein zurücklassen können.
Die Hausbewohner versuchten, die Kleine zu unterhalten und sie ein bißchen aufzumuntern; aber sie brachte kein Wort heraus, ja, sie drehte ihnen den Rücken, stellte sich ans Fenster und richtete ihren Blick auf zwei große Birken, die da draußen im Sturme hin und her schwankten.
Gar viele Wünsche stiegen in ihrem Herzen auf, während sie da am Fenster stand. Unter anderem wünschte sie, der Sturm sollte mit aller Gewalt auf das Haus losfahren, damit es einfiele und sie herauskommen könnte.
Aber, aber – das sah doch merkwürdig aus! Während sie so dastand und die Birken betrachtete, schienen diese mit jedem Augenblick weniger heftig hin und her zu schwanken, und zugleich war es auch, als nehme der Lärm und das Getöse ab, das mit dem Sturm daherkam, und als fliege jetzt nichts mehr, weder Stecken noch Stroh, in der Luft umher.
Die Kleine wußte kaum, ob sie ihren Augen trauen dürfte; aber jetzt war es wahrhaftig draußen so ruhig, daß die langherabhängenden Birkenzweige nur gerade noch ein wenig bebten.
Die Hausbewohner schäkerten mit Bubi und merkten nichts, bis die Kleine zu ihnen sagte, jetzt sei der Sturm vorüber.
Sie waren über die Maßen erstaunt und sagten sogleich, es sei schade, daß er sich nicht ein wenig früher gelegt hätte, dann hätten die Kinder ja auch noch zum Weihnachtsschmause kommen können. Wenn sie den ganzen Tag hier bei ihnen sitzen müßten, so sei das kein Vergnügen, das wüßten sie wohl.
Da sagte die Kleine, wenn man es ihr erlaubte, könnte sie sich jetzt gut mit Bubi auf den Weg nach Nyhof machen. Es gehe ja immer auf der Landstraße geradeaus, da könne sie durchaus nicht fehlgehen, und so mitten am Tag werde ihnen ja sicher auch nichts Böses zustoßen.
Diese Leute waren doch wirklich von Herzen gut. Sie wollten keinem Menschen die Freude verderben, und so ließen sie die beiden Kinder miteinander abziehen.
Jetzt war alles gut. Das Wetter war still und schön; es ging sich gar leicht, und es war niemand da, der der Kleinen befohlen hätte, im Zimmer zu sitzen oder umzukehren, wenn sie weiter wollte.
Aber etwas beunruhigte die Kleine doch. Es kam ihr vor, als sinke die Sonne gar so schnell dort auf der Südseite gegen den Himmelsrand herunter. Sie wußte nicht, wieviel Uhr es war; aber wie, wenn es nun schon so spät wäre, daß man auf dem Nyhof schon bei Tische saß! Und sie hatten noch eine ganze Meile zu gehen. Wie, wenn sie nun nicht früher hinkam, als bis es nur noch leere Schüsseln und abgenagte Knochen gab?
Bubi war erst sieben Jahre alt und konnte nicht sehr schnell marschieren. Auch war er nach allem, was er an diesem Tag schon durchgemacht hatte, mutlos und verzagt.
Als die Kinder in der Talmulde am Fuße des Hedebyhügels standen, hielt die Kleine an und sah nach dem Lövsee hin, der, frisch gefroren, mit hellem blanken Eis bedeckt vor ihr lag.
Sie fragte Bubi, an welchem Abend es doch gewesen sei, wo Mutter heimgekommen war und gesagt hatte, der Lövsee sei zugefroren. Mutter sei sehr überrascht gewesen, daß der See schon vor Weihnachten zugefroren war, und sie habe den ganzen Abend davon gesprochen.
»Ja, das ist am Tag vor dem heiligen Abend gewesen«, sagte Bubi. »Ich weiß es ganz gewiß.«
»Dann ist der See ja schon seit vier Tagen gefroren,« entgegnete die Kleine, »da ist das Eis gewiß stark genug, uns zu tragen.«
Ha, nun kam neues Leben in den Jungen, sobald er begriffen hatte, daß die Schwester den Weg über den See nehmen wollte!
»Ja, ja, komm, wir schlittern bis zum Nyhof über den See!« rief er vergnügt.
»Ja, es ist am einfachsten, wenn wir diesen Weg nehmen, da der Nyhof am See liegt«, sagte die Kleine.
Sie war indes doch etwas bedenklich; aber jetzt war Bubi der, der darauf drang. Vom Weitergehen auf der Landstraße wollte er gar nichts mehr wissen. Nein, nein, die Schwester sollte sofort mit an den See hinunter!
»Dann mußt du zu Mutter sagen, du habest es gewollt, denn über dich wird sie nicht böse«, sagte die Kleine.
Es war nicht weit zum See, und die beiden Kinder standen bald draußen auf dem Eis, das glatt wie ein Aal und spiegelblank war, es hätte gar nicht blanker sein können. Die Kinder faßten einander bei der Hand und schlitterten nun quer über den See.
Ei, das war besser als das Gehen auf der Landstraße! Auf diese Weise kamen sie sicher nach Nyhof, ehe das Festmahl zu Ende war.
Aber dann hörte die Kleine plötzlich ein Brausen und ein Donnern hinter sich, das sie nur zu leicht wiedererkannte. Sie brauchte sich gar nicht erst umzudrehen, um zu sehen, was es war, sie fühlte es schon im Nacken. Der Sturm war es, der sich wieder aufgemacht hatte.
Es war gerade, als hätte er sich ruhig verhalten, nur um die Kinder aufs Eis hinauszulocken; jetzt aber brauste er daher, fuhr auf sie los und warf sie um.
Nein, es war unmöglich, sie konnten auf dem Eise nicht weiter; seit der Sturm wieder losgebrochen war, konnten sie sich nicht mehr aufrecht auf den Füßen halten, und so blieb ihnen nichts anderes übrig, als ans Ufer zurückzukriechen.
Jetzt hätte man eigentlich glauben sollen, der Kleinen wäre aller Mut vergangen; sie war ja mit dem Brüderchen in einer verzweifelten Lage. Wie sollten sie nur wieder zu Menschen gelangen? Auf dem See konnten sie nicht weiter, und da, wo sie jetzt an Land kamen, fand sich nur ein steiler Berg und dichter Wald, aber kein Weg.
Ach! und Bubi war so müde und verdrießlich über alles, er weinte nur noch.
Die Kleine blieb eine Weile am Ufer stehen und sah ganz ratlos aus.
Aber plötzlich fiel ihr ein, wie sie und Bubi daheim oben von ihrem Berge herunterzufahren pflegten, wenn er ganz mit Eis bedeckt war, und sofort begann sie Tannenzweige abzubrechen und sie auf zwei Haufen zu schichten. Dann setzte sie Bubi auf den einen, ließ sich selbst auf die Knie nieder und schob nun Bubi mitsamt den beiden Haufen aufs Eis hinaus.
Als sie da draußen so recht im stärksten Blasewind drinnen waren, setzte sie sich auf den anderen Tannenzweighaufen, jedes von den Kindern nahm einen großen Tannenzweig in die Hand und hielt ihn gegen den Wind.
Und hui! sagte der Sturm, und hei! sagte der Sturm. Er schüttelte sie und stieß sie auf die Seite, wie wenn er probieren wollte, was er mit ihnen anfangen könnte.
Dann faßte er hart zu, und sie fuhren davon. Und es ging, es ging! Ja, hurtig wie der Wind ging es, und nun fühlten die Kinder den Sturm gar nicht mehr. Wenn nicht die Ufer an ihnen vorbeigeflogen wären, hätten sie fast glauben können, sie säßen ganz stille.
Bubi schrie aus vollem Halse vor lauter Vergnügen; aber die Kleine saß auf ihrem Haufen mit fest zusammengepreßten Lippen und spähte eifrig umher, ob nicht ein neues Hindernis daherkomme, das sich zwischen sie und den Weihnachtsschmaus stellen wollte.
Das war die schnellste Fahrt, die die Kinder je in ihrem Leben gemacht hatten. Es dauerte nicht viele Minuten, da hatten sie die Landspitze vor sich, wo die großen Gebäude des Nyhofs aufragten.
Auf dem Hofe wollte man sich eben zu Tische setzen, als die Kinder auf dem Eise draußen auftauchten. Da liefen alle eiligst hinaus, um zu sehen, was denn da Merkwürdiges über den gefrorenen See dahergefahren kam.
Und man kann sich wohl denken, wie sehr sich alle verwunderten, als sie die Kinder erkannten. Ja, alle miteinander, Per Jansa und Per Jansas Frau und der Pfarrer und alle anderen Gäste verwunderten sich über die Maßen.
Die einzige, die nicht gar sosehr überrascht aussah, war die Mutter.
»Dieses Mädchen gibt nicht nach, bis es so geht, wie sie es haben will«, sagte sie. »Ich hatte eigentlich schon die ganze Zeit erwartet, sie auf einem Besenstiel durch die Luft daherreiten zu sehen.«
Aber von wem die Leute den ganzen Abend sprachen, und wen sie lobten, und zu wem sie sagten, es werde einmal eine tüchtige Hausfrau aus ihr werden, das war die Kleine.
Die Mutter mußte sich eine ganze Weile neben die Pfarrfrau aufs Sofa setzen und ihr von der Kleinen erzählen.
Und die Mutter berichtete, so klein sie auch noch sei, so könne sie doch schon ganz nett spinnen, und Wolle karden könne sie auch, und den ganzen letzten Sommer hindurch habe sie Beeren gesammelt und nach Helgesäter verkauft. Und der Kapitän habe ihr ein Abc-Buch geschenkt, eines von den Fräulein auf Helgesäter habe ihr dann etwas nachgeholfen, und nun könne sie lesen und auch schreiben.
Der Pfarrer von Svartsjö war viele Jahre lang Witwer gewesen, aber im vergangenen Sommer hatte er wieder geheiratet. Die neue Pfarrfrau war klein von Gestalt und hatte schlohweißes Haar; aber ihr Gesicht war von zarter Farbe und ganz ohne Runzeln, niemand hätte ihr Alter festzustellen gewagt. Sie stand in dem Ruf, eine unglaublich tüchtige Hausfrau zu sein; die Leute sagten auch von ihr, wenn sie einen Menschen nur einmal sehe, wisse sie gleich, was er wert sei.
Diese neue Pfarrfrau sagte zu der Mutter, sie habe schon länger die Absicht, ein junges Mädchen ins Haus zu nehmen, die ihre Stieftochter bedienen sollte, damit das Zimmermädchen mehr ans Weben komme, und dann fragte sie, ob die Mutter etwas dagegen hätte, wenn die Kleine im nächsten Herbst ins Pfarrhaus käme.
Ob die Mutter etwas dagegen hätte? War das eine Frage! Sie konnte sich kein größeres Glück für ihre Kleine wünschen, als auf Lövdala in Dienst zu kommen.
Den ganzen Abend hindurch folgte die Pfarrfrau der Kleinen mit den Augen; es war, als könne sie an niemand anders mehr denken.
Und nach einer Weile rief sie die Mutter wieder zu sich.
»Ist es wahr, daß das Mädchen schreiben und lesen kann?« fragte sie.
Und die Mutter versicherte hoch und teuer, ja, es sei ganz wahr.
»Nun, dann machen wir aus, daß sie gleich mit nach Lövdala kommt«, sagte die Pfarrfrau. »Ihr könnt ja den Weg über Lövdala nehmen, wenn ihr von hier wieder heimgeht, und dann kann sie gleich dableiben.«
Und so wurde es auch beschlossen.
Aber auch nachher beobachtete die Pfarrfrau die Kleine noch immer gerade wie zuvor, wie wenn sie sich nicht satt an ihr sehen könnte. Und wieder nach einer Weile wollte sie abermals mit Marit von Koltorp sprechen.
»Wie heißt denn deine Kleine?« fragte sie.
»Sie heißt Eleonora, aber wir nennen sie nur Nora.«
»Und es ist wirklich wahr und nicht nur Großtuerei, daß sie lesen und schreiben kann?« fragte die Pfarrfrau wieder.
»Nein, nein,« versicherte die Mutter, »es ist die reine Wahrheit.«
»Ich habe mir überlegt, daß sie gleich heute abend in unserem Schlitten mit uns nach Lövdala fahren könnte«, sagte nun die Pfarrfrau. »Es fehlt uns jetzt eben an einem kleinen Mägdlein, deshalb könnte sie ihren Dienst ebensogut gleich antreten.«
Und wie die Pfarrfrau es wünschte, so geschah’s natürlich. Sie gehörte zu den Menschen, denen man nicht gerne widerspricht.
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