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Da lag die Stadt in geräumigem Kesseltal, düster gegen das Schneefeld und den grauwolkigen Himmel abgehoben. Die dunklen Massen flossen ineinander über. Das Ganze sah Hermine aus wie ein großer Mantel, der über einen eckigen Gegenstand hingebreitet ist und durch den sich viele Messer steif in die Höhe gebohrt haben. Diese Erhebungen waren die durch die Gärten zahlreich zerstreuten Pappeln und der Kirchturm. Und der dunkle doppelte See starrte unten im Osten wie ein großer, bis an den Rand versenkter Paartopf voll geronnenem Blut. Hermine hatte bisher erst zwei, nach der entgegengesetzten Richtung gelegene Nachbarstädte ihres Geburtsdorfes kennen gelernt, die ihr gar wohl gefielen. Der Anblick dieser beklemmte. Sie konnte sich hier nur ein gedrücktes Leben erwarten unter Leuten nach dem Bilde und der Weise Dagotts.

In Wirklichkeit aber waren hier zum größten Teil frohe, gesunde und fleißige Menschen ansässig, manchmal ländlichen Sitten noch angenähert. Viele Behörden und Beamte gab es nicht; in jedem Jahre wurden nur wenige Gerichtstage von auswärtigen Richtern abgehalten. Am Ostrande, ein wenig außerhalb, hatten noch viele Ackerbürger ihre Scheunen und Stallungen, und in jenem schwarzen See gab es Sommers wohl auch heitere Spiele, wenn etwa Kahnfahrer von den in die Schwemme gerittenen Pferden angeprustet und von übermütigen Knechten bespritzt wurden.

Als die drei in die Stadt einfuhren, begann es zu schneien. Aber der Wind zerstörte allen Frieden rieselnder, schwebender Flocken. Es war auch schon dämmerig geworden, und Hermine konnte nur mit Anstrengung verfolgen, wie diese schneeigen Motten herumwirbelten und auf roten Dächern und an Mauern in schwarze Sterne versprangen. Einige Zeit darauf hafteten ihre Augen überall kälter, doch länger auf nassen, angedunkelten Flächen. Zwei gebukelte Fenster schoben sich wie große müde Glotzaugen durch den grauweißen, wehenden Schleier. Ein leiser Flor schien um alle Gegenstände gewickelt, selbst um die Leiber der langsam ausgreifenden Pferde. Die acht Beine spielten in zuckender Verwirrung durcheinander wie in einem Netze. Die Schellen klangen ungleichmäßiger, mindestens wesentlich lauter als auf dem freien Felde, und manchmal schien es, als weckten sie ein Echo. Hermine glaubte auf einem Schornstein, der, von halbkreisförmig gebogenem Blech wie von einer Nonnenkapuze überwölbt, seltsame Rauchkringel ausströmte, eine geduckte Gestalt zu sehen, die ebenfalls ein Geläut in Händen hielt, mit dem zahnlosen Kopfe wackelte und schließlich im Rauche dem Schlitten nachgeschwebt kam. Sie seufzte.

Die ersten Straßen waren leer, nur lief ein langhaariger Hund vor den Ankömmlingen über das Pflaster, sah sich beinahe scheu nach ihnen um und bellte nicht einmal. Manche Quergäßchen waren hügelig angelegt, ihre kleinen Häuser unregelmäßig gebaut. Ziemlich viele schattige Winkel ließen ein phantastisches Aussehen des Städtchens ahnen, wider alle Wirklichkeit. Hermine erquälte sich ein häßliches Bild, da ihr in der Ermüdung die alte Heimat nun schon verklärt aufstieg, die diesen neuen Ort durchstöbernden Flocken hingegen wie kleine eisige Hände über die Backen fuhren und das ungewisse Licht wirklich allen Reiz verdrängte. Bei vielen Häusern standen Bäume; deren Äste falteten sich manchmal wie lange, hagere, schwarze Finger über niederen Dächern. Und die vielen Pappeln in den Gärten starrten wie schlanke Riesen, die ihre Hände eng an die Beine drücken und unheimlich in den leise zischenden Wind hinaushorchen.

War aber auch das dort nur erfabelt? Auf dem Dache eines Hauses am Kirchhofe huschte eine dunkle, anscheinend männliche Gestalt mit einer Laterne in der Hand krumm dahin. Hermine erschrak. Dagott erklärte heiser: „Das ist der Totengräber Grelert. Er hat sich da oben einen Taubenschlag angelegt und geht nachsehen, ob alles zur Nachtruhe in Ordnung ist. – Der sonderbare Kauz ist ja beinahe unser Nachbar.“

Hermine war froh, daß sie wirklich gleich absteigen durfte. Mit welchen Menschen sollte sie doch zusammen wohnen! In der vorigen Gasse hatte sie aus einem dunklen Hausflur hadernde Kinderstimmen und das schrill ritzende Auskratzen einer Bratpfanne gehört, hinter einem matt erleuchteten Fenster einen unförmigen, schreienden und zappelnden Säugling in den Armen eines Greises, der mit schiefem, zitterndem Munde zu singen schien, gesehen. Sie strich sich mit der Hand über das Antlitz und fröstelte.

Da erschien Lehrer Karp in der Haustür. Er lächelte zwar, schien aber ebenfalls unter den Kleidern zu zittern, obgleich er wohl aus warmem Zimmer kam. Dieser Widerspruch erfüllte Hermine mit ungewisser Furcht.

Karp stellte sich der Frau Dagott, noch immer lächelnd, vor, wobei ihm die Stimme ausglitt und in die Höhe fuhr, begrüßte dann alle drei mit einem vorsichtigen Händedruck und schritt ihnen unter mehrmaligem Willkommenwunsch durch den Korridor nach, im Dunkeln recht unverhohlen zitternd. Er hatte nämlich die neu angekommenen Möbel in der abgelegensten winterkalten Stube etwas beiseite gerückt; dabei waren ihm einige Begrüßungsreime durch den Kopf gegangen; da nahm er die Tische fester vor den Bauch und schleppte, bis sie fertig waren. Mit verklammten Händen hatte er sie vor einigen Minuten auf kleine Blättchen geschrieben, in die Teller des in der Staatsstube gedeckten Tisches gelegt, wiederholt betrachtet und sauber der Mitte zugezupft, schließlich aber, als der Schlitten draußen vorfuhr, doch schnell in der Tasche verborgen. Sogar die Betten im Schlafzimmer aufzudecken, hatte er nicht unterlassen.

Im warmen Zimmer begann man sich lebhaft zu unterhalten. Dagott hob strahlend die linke Hand seiner Frau hoch, machte einige Walzerschritte, daß sein pelzgepolstertes breites Kreuz hin und her kippte wie ein ungeheurer Entenleib, und sang: „Nun sind wir da – jahaha!“ Karp erwärmte sich wieder und wurde einmal gesprächig, auch Frau Dagotts Stimme fiel oft ein.

Nur Hermine war still. Sie träumte und wollte träumen. Düstere Pappeln, strenge Häuser umgaben sie und ein kalter Himmel. Warum war es hier drinnen nicht ebenso? Warum hatte sie sich dies alles anders vorgestellt? Zwar traut war es so nicht, viel zu groß gähnte das Zimmer, sehr dämmerig leuchtete die Lampe. Diese Uhr schlug nicht wie andere, sondern fragte mit hartem Ton immerzu: ja? ja? ja? ja?

Hinter ihr stand Zitterlehrer Karp im Gespräch – mit trocken-feisten Backen und hellen Haaren. Er hatte weder Bart noch sinnende Augen und sprach mit dünner, gedehnter Mäuschenstimme. Nur selten wurde diese Stimme kräftiger, und den dann entstehenden Laut hatte Hermine beim Tischler gehört, wenn er mit seinem Hobel einen recht langen Schnörkelspan abschnitt. Was sollte sie bei Karp? Laufen, ganz schnell, ganz, ganz schnell bis zum Dorfe, wo die Hobelbank stand und Edwin Maßholder vielleicht davor!

Bei solchen Gedanken, mit den Tränen kämpfend, sah sie Karp an. Sie erschien ihm schüchtern, und er wollte ihr wohlwollend die Befangenheit nehmen. Er sagte, in den Kniekehlen freundlich wiegend: „Also du bist meine künftige Schülerin?“ Sie schüttelte erst mit dem Kopfe, nickte dann aber schnell und betroffen. Er schwieg ein Weilchen, während die beiden anderen Hermine zu ihrer Pein musterten, und fragte dann mit scharfer Betonung des ersten Wortes: „Lesen kannst du doch schon?“ Hermine hatte wieder die Vorstellung eines geschneckt emporfahrenden Hobelspans und antwortete nicht. „Wir wollen gleich einmal sehen,“ sagte Karp und hob das ,sehen‘ nachdrücklich hervor. Dabei faßte er die scheue Hermine bei der Hand. „Ich habe einen Einfall, Herr Dagott,“ lachte er. Hermine errötete über und über, als sie angerührt wurde. Ein ätzendes Brennen quälte sie irgendwo. Jedes Wort war ihr wie das Hineinrufen in einen süßen, wenn auch schaurigen Traum. Sie wollte doch träumen, warum ließ man sie nicht! Karp ging mit ihr schnell vor die Tür. Warum wurde sie herausgerissen, abgeführt? Ja, ja, sie mußte beinahe laufen und jeder Schritt verwundete sie mehr. Sie kniff die Lippen rund. O, da kamen die beiden anderen auch nachgeschritten, wie um ihre Schmach zu sehen. Sie wollte sich losreißen, aber wie war es draußen dunkel! Es schneite noch; es kraute ihr gespenstisch im Haar, an Ohr und Hals. Sie schüttelte sich. Nun überfiel es sie erst recht wie ein ödes Erwachen. Sie sah sich taumelnd den Flur, wo man vor Dunkel fast blind wurde, herablaufen, an dieser Hand, die sie hier so festhielt. Sie bedauerte sich. Karp fragte gelinde: „Nun, mein Kind, was steht dort?“ Von grünlicher Laterne schwach beleuchtet, hing wie ein klotziger Spiegel ein Firmenschild am Hause, schwarz gelackt und mit großen, dicken Goldbuchstaben bemalt. Hermine las willenlos rauh: „Benjamin Salomon Dagott. Christliches Tuchwarengeschäft.“ „Ja,“ lächelte Karp süß, und Hermine sah ihn lange schwer an, mochte auch eine Flocke an die Wimper fliegen und sie zudrücken wollen. Karp legte seine freie linke Hand in langsamem Bogen sanft auf die ihre und fuhr fort, sie wieder zurückführend, wobei die Eltern schlürfend vorangingen: „Weißt du, was du da vorgelesen hast? – Hier ist meine süße Heimat.“ Minutenlang lächelte er breit und dumm. Hermine hatte nur den Schall, nicht den Sinn der letzten Worte vernommen und dachte tief beleidigt: nun werde ich sterben! Dieses Gefühl und ein Seifengeruch am Lehrer erquickten sie etwas. Ihr Ohr klang.

„Da wir im Ansehen sind,“ lachte Dagott, beugte sich steif, die Fersen schließend, und kniff sie dabei in die Nase, „wollen wir schnell mit dir das ganze Haus durchgehen.“ Sie strauchelte nun (halb absichtlich) über mehrere Schwellen wie zum Tode und mußte in unheimlich stille Zimmer sehen. Die ganze Zeit fühlte sie ihre Hand noch gefaßt, die doch längst frei herabhing, und spürte Schnee in die Haare fallen, die sich stellenweise etwas juckend aufzurichten schienen. Auch die Treppe mußte sie hinaufgehen und wurde in einen großen Raum geführt, wo viele alte Waffen an den Wänden auf ihren Schatten schliefen. Dort sollte sie später hausen. O, wie sehr wollte sie dann weinen!

„Aber nun schnell essen!“ mahnte Dagott. Man setzte sich um den Abendbrottisch.

Hermine verwunderte sich über das Würzige und Schmackhafte in den Speisen. Sie wurde aber die Bilder der Schlittenfahrt nicht los. Da keine wirkliche Grundlage sie unterstützte, veränderten sie sich weiter ins Düstere und führten Hermine tiefer in wehes Staunen. Sie sah dabei ihre Nachbarn lange mit verlorenem Blicke der großen dunklen Augen an. Man kam eifrig ins Gespräch und scherzte viel. Sie konnte es nicht begreifen: sie war allein. Aber wenn man sie ansah, verzog sie auch den Mund zum Lachen. Selbst die Mutter war heute so gesprächig; warum nur? In ihr scholl plötzlich im grell leiernden Schulstubenton der Choral: Wenn ich einmal soll scheiden. Die Gesichter und Bewegungen der Anwesenden wurden ihr unverständlich, sie entbehrten jeden Sinnes, wie die großer Gelenkpuppen; das Lachen war das aufgemalte, irrsinnige Puppenlachen. Beschäftigt, etwas auseinanderzusetzen, heftete Dagott den Blick auf sie: nun mußte er doch wahrnehmen, daß sie sich fürchtete? Nein, er sah wieder weg und pfiff gar eine lustige Figur. O! – O! – Sie erhob sich leise und sagte mit so schwärmerischer, weltferner Versunkenheit und vor Tränen blinden Augen: „Mutter, ich möchte schlafen gehen,“ daß alle erschraken. Frau Katharina legte die Hände vor das gesenkte Gesicht, Dagott stand auf und fragte, wie mit dem Besen gescheucht, trocken: „Was ist denn?“ Karp flüsterte in die Lampe: „Das ist nicht Heimweh.“

Die Mutter führte Hermine in die Schlafstube, wo das Kind noch allerhand Haß, Verachtung und Schwermut wie Wackensteine in sich herumwälzte und oft gewaltsam keuchte, ehe sein Atmen friedlich tönend gleich dem letzten Echo erlösender Träume auf- und abstieg.

Die Tür anlehnend, sagte Frau Katharina: „Sie ist ein Maulwurf, der sich schwarze Gänge gräbt, wohl ab und zu ein Stückchen in der Sonne läuft, doch dann wieder ins Dunkle taucht. Ich habe sie drüben nicht ändern können. Hoffentlich ziehen wir drei sie hier für immer ins Licht.“

Sie redeten noch lange über Hermine, und ihre Schatten schlüpften durch die langsam aufknarrende Tür über das Bett der Schlummernden.

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