Es vergingen noch zwei Tage. Es fügte sich so, daß Niemand im Hause die Uhr vermißte. Mein Vater hatte eine große Unannehmlichkeit mit einem von denen, die ihm ihre Sachen anvertraut ; er hatte keine Zeit, an mich und an meine Uhr zu denken. Dafür aber dachte ich unaufhörlich an dieselbe. Selbst die Billigung, David’s vorausgesetzte Billigung, vermochte mich nicht sehr zu trösten. Er aber sprach dieselbe in keiner besonderen Weise aus, er hatte überhaupt nur einmal – und das im Vorübergehen gesagt, daß er von mir eine solche Kühnheit nicht erwartet habe. Mein Opfer gereichte mir entschieden zum Nachtheile; es wurde durch die Befriedigung, die mir meine Eigenliebe gewährte, nicht aufgewogen.
Und nun mußte noch, mir zum Trotz, ein anderer, uns bekannter Gymnasiast, der Sohn des Stadtarztes kommen und sich mit seiner neuen – nicht einmal silbernen, sondern tombakenen Uhr brüsten, die ihm seine Großmutter geschenkt . . .
Endlich hielt ich es nicht länger aus – schlich mich aus dem Hause und suchte den Bettelknaben auf, dem ich meine Uhr gegeben.
Ich fand ihn bald auf; er spielte mit einigen anderen Knaben an der Vorhalle der Kirche mit Knöchelchen. Ich rief ihn bei Seite und sagte ihm mit stockendem Athem in verworrener Rede, daß meine Verwandten böse auf mich seien, weil ich die Uhr weggegeben und daß ich ihm gerne Geld für dieselbe zahlen würde, wenn er einwilligte, sie mir zurückzugeben. . . Ich hatte für alle Fälle einen alten Silberrubel aus den Zeiten Elisabeth’s, mein ganzes baares Capital, mitgenommen.
»Ich habe ja Ihre Uhr gar nicht,« antwortete der Knabe mit zorniger, weinerlicher Stimme. »Der Vater sah sie bei mir und nahm sie mir fort; er wollte mich noch durchpeitschen. – Du hast sie wohl gestohlen, sagte er – welcher Narr wird Dir wohl eine Uhr schenken ?«
»Wer ist Dein Vater?«
»Mein Vater? Der Trofimitsch.«
»Aber wer ist er? Was treibt er?«
»Er ist verabschiedeter Soldat – Szashant. Beschäftigung hat er keine. Er bessert alte Schuhe aus und versohlt Stiefel. – Das ist seine ganze Beschäftigung. Davon leben wir.«
»Wo ist Eure Wohnung Führe mich zu ihm.«
»Das will ich. Und sagen Sie ihm, meinem Vater, daß Sie mir die Uhr geschenkt. Er wirst es mir immer vor und nennt mich Dieb . . .Dieb! Und die Mutter ebenso. Nach wem schlägst Du ein, Du Dieb?«
Ich ging mit dem Knaben in seine Wohnung. Sie befand sich in einem Hühnerhäuschen, ans dem Hinterhof einer, vor langer Zeit abgebrannten und nicht wieder aufgebauten Fabrik. Wir fanden sowohl Trofimitsch als seine Frau zu Hause. Der verabschiedete »Szashant« war ein hochgewachsener, gerader und sehniger Greis mit einem gelbgrauen Backenbarte, unrasirtem Kinn und einem ganzen Netze von Runzeln auf Stirne und Wangen. Seine Frau schien älter zu sein als er; ihre rothen Aeuglein zwinkerten und blinzelten in ihrem krankhaft gedrungenen Gesichte. Beide deckten statt der Kleidung irgend welche dunkle Lumpen.
Ich erklärte Trofimitsch, warum es sich handelte und weshalb ich gekommen sei. Er hörte mich schweigend an, ohne auch nur ein einziges Mal mit den Augen zu blinzeln oder den stampfen, unverwandten, ganz soldatischen Blick von mir zu wenden.
»Unart!« sprach er endlich mit einem heiseren, zahnlosen Baß. – »Ist das die Handlungsweise eines – Edelmannes? – Nun, wenn Petka die Uhr wirklich nicht gestohlen hat, nun – so verdient er eins . . . treibe keine Unarten mit Herrensöhnen! Wenn er sie aber gestohlen hatte, dann – eins!i zwei! drei! – mit Fuchteln kalugwardisch! – Was siehst Du mich an? Was ist das für eine Geschichte? Was? Mit Syontonne sollte man . . . Ist das eine Geschichte?! Tfu!« —
Den letzten Ausruf brachte Trofimitsch im Falsett hervor. Er begriff offenbar Nichts.
»Wenn Sie mir die Uhr zurückgeben wollen« – erklärte ich ihm . . . ich wagte nicht zu ihm »Du« zu sagen, obgleich er gemeiner Soldat war – »so will ich Ihnen mit Vergnügen diesen Rubel für dieselbe geben. Mehr ist sie, glaube ich, nicht werth.«
»Nanu!« – brummte Trofimitsch, immer noch ganz verwirrt, und mich aus alter Gewohnheit immer noch mit den Augen verschlingend, als wenn ich einer seiner Vorgesetzten wäre. – »Ist das eine Geschichte! oh? – Die begreife einer! – Uljana, schweige!« schrie er seine Frau an, welche den Mund aufmachen wollte. »Hier ist die Uhr,« fügte er hinzu, indem er die Schieblade des Tisches öffnete; – »wenn sie wirklich Jhnen gehört – so nehmen Sie dieselbe in Empfang; und wozu dann der Rubel? Wie?«
»Nimm den Rubel, Trofimitsch, Du Taugenichts,« – wehklagte die Frau. – »Bist Du ganz von Sinnen, Alter? Wir haben keine drei Kopeken hinter Leib und Seele, und der thut noch wichtig! Unnütz, daß man Dir den Zopf abgehauen, sonst – ganz wie ein Weib! Wie denn – ohne zu wissen . . . Nimm das Geld, wenn Du Dir einfallen läßt, die Uhr zurückzugeben!«
»Uljana, schweige, Langweilige!« – wiederholte Trofimitsch. – »Wo ist das jemals geschehen – Du sprichst? Wie? Der Mann ist das Haupt und – sie spricht? . . . Petka, rühre Dich nicht, ich schlage Dich todt!. . . Hier ist die Uhr!
Trofimitsch reichte mir die Uhr hin, ohne sie jedoch ans den Fingern zu lassen.
Er besann sich, senkte den Kopf, sah mich dann mit demselben stumpfen, unverwandten Blicke au und kreischte dann aus vollem Halse:
»Aber wo ist er denn? Wo ist der Rubel?«
»Hier ist er, hier,« rief ich hastig und zog das Geldstück aus der Tasche.
Er nahm es jedoch nicht und sah mich immer an. Ich that den Rubel auf den Tisch. Auf einmal schob er ihn in die Schieblade, schleuderte mir die Uhr hin, indem er sich nach links umdrehte und zischte der Frau und dein Sohne zu:
Hinaus, Gesindel!«
Uljana stotterte etwas – ich war aber schon auf den Hof und auf die Straße hinausgesprungen. Die Uhr in die tiefste Tiefe meiner Tasche versenkend und sie mit der Hand recht fest haltend, lief ich nach Hause.
Ich war wieder in den Besitz meiner Uhr getreten, allein es machte mir nicht die geringste Freude. Ich konnte mich nicht, entschließen sie zu tragen; es war nothwendig, besonders vor David, zu verbergen, was ich gethan. Was würde er von mir, von meiner Charakterlosigkeit denken? Ich konnte die unglückliche Uhr nicht einmal in meine Schieblade einschließen; wir hatten alle Schiebladen gemeinschaftlich. Ich war genöthigt, sie bald oben auf meinem Schranke, bald unter der Matratze, bald hinter dein Ofen zu verstecken. . . Und es gelang mir dennoch nicht, David zu betrügen!
Eines Tages hatte ich die Uhr unter der Diele unseres Zimmers hervorgeholt und wollte die silberne Rückseite derselben mit meinem alten semisch-ledernen Handschuh abreiben. David war in die Stadt, ich weiß nicht wohin gegangen; ich erwartete durchaus nicht, daß er bald zurückkehren würde . . . da trat er plötzlich zur Thüre hinein. Ich war so bestürzt, daß ich die Uhr beinahe hätte fallen lassen; ganz verwirrt und mit schmerzhaft geröthetem Gesichte fuhr ich mit der Uhr an der Weste umher – ich konnte die Tasche gar nicht finden.
David sah mich an und lächelte seiner Gewohnheit nach schweigend.
»Was ist Dir,« sprach er endlich. – »Du denkst, ich wußte nicht, daß die Uhr wieder bei Dir ist? Ich habe sie am ersten Tage, wo Du sie brachtest, gesehen.«
»Ich versichere Dich,« begann ich fast mit Thränen.
David zuckte die Achseln.
»Die Uhr ist Dein; Du kannst ja mit ihr thun, was Du willst.«
Nachdem er diese harten Worte gesprochen, ging er hinaus.
Verzweiflung erfaßte mich. Diesmal war schon kein Zweifel mehr; David verachtete mich wirklich.
Das konnte nicht so bleiben.
»Ich will es ihm beweisen,« dachte ich, die Zähne zusammenpressend. Ich begab mich sofort festen Schrittes in’s Vorzimmer, suchte unsern kleinen «Kosaken Juschka auf und schenkte ihm die Uhr! Juschka wollte sie zuerst nicht nehmen, aber ich erklärte ihm, wenn er sie nicht von mir annähme, würde ich sie den Augenblick zerdrücken, mit den Füßen zerstampfen in tausend Stücke zerbrechen und in die Kehrichtgrube werfen! Er bedachte sich, kicherte und nahm die Uhr. Ich kehrte in unser Zimmer zurück, und als ich David in einem Buche lesend fand, theilte ich ihm meine Handlung mit.
Ohne die Augen von der Seite abzuheben, auf welcher er las, sagte David, wieder mit den Achseln guckend und vor sich hin lächelnd, daß die Uhr ja mir gehöre und ich mit ihr schalten und walten könne, wie ich wolle.
Aber es schien mir doch, daß er mich schon etwas weniger verachtete.
Ich war vollkommen überzeugt, daß ich mich nie mehr einem neuen Vorwurfe der Charakterlosigkeit aussetzen würde, denn die Uhr, dieses Geschenk meines garstigen Taufvaters war mir plötzlich so widerwärtig geworden, daß sich durchaus nicht im Stande war, zu begreifen, wie ich die Uhr bedauern, wie ich sie irgend einem Trofimitsch abdringen konnte, der überdies noch im Rechte war zu denken, daß er sehr großmüthig an mir gehandelt habe.
Es vergingen einige Tage . . . Ich erinnere mich dessen, wie an einem derselben auch in unsere Stadt die große Nachricht drang: Der Kaiser Paul sei verschieden und sein Sohn Alexander, dessen Seelengröße und Menschenliebe so bekannt waren, habe den Thron bestiegen. Diese Nachricht regte David schrecklich auf; es stellte sich ihm sogleich die Möglichkeit eines Wiedersehens, eines nahen Wiedersehens mit seinem Vater dar. Auch mein Vater freute sich.
»Jetzt werden alle Verbannten ans Sibirien zurückberufen werden und auch Bruder Jegor wird wohl nicht vergessen werden,« wiederholte er, sich die Hände reibend, hüstelnd und dennoch etwas verzagt.
David und ich, wir gaben das Arbeiten und den Besuch des Gymnasiums sogleich auf; wir gingen nicht einmal spazieren, wir saßen nur immer in irgend einem Winkel und berechneten und erwogen, in wie vielen Monaten, Wochen und Tagen »Bruder Jegor« zurückkehren müsse, wohin man ihm schreiben, wohin ihm entgegengehen könne, und auf welche Weise wir dann unser Leben einrichten wollten? »Bruder Jegor« war Architekt; wir beschlossen mit David, daß er nach Moskau übersiedeln und dort große Schulen für arme Leute aufbauen müsse, wo dann wir seine Gehilfen sein wollten. Die Uhr hatten wir darüber natürlich ganz vergessen, zudem stellten sich für David neue Sorgen ein . . . davon jedoch später; der Uhr aber war es bestimmt, sich noch in Erinnerung zu bringen.
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