Читать бесплатно книгу «Die Schlucht» Ивана Гончарова полностью онлайн — MyBook
 





»Hier gibt es kein Tantchen, sondern nur eine Tatjana Markowna Bereschkowa. Ssawelij soll einmal herkommen!« rief sie in das Mädchenzimmer hinein. Wenige Minuten darauf trat ein untersetzter Bauer von etwa fünfundvierzig Jahren ins Zimmer. Die ganze Gestalt war so breit und gedrungen, daß sie fast dick erschien, wiewohl kein Lot Fett an ihr saß. Ssawelij hatte ein finsteres Gesicht mit überhängenden Brauen und breiten Lidern, die er nur langsam emporhob, als ob er keinen Blick umsonst verschwenden wollte. Auch mit Worten war er recht karg; seine Haltung war unbeweglich, und nur mühsam ging die Unterhaltung mit ihm vorwärts. Die Denkarbeit fiel ihm nicht leicht: ließen die Worte ihn im Stich, so nahm er die Augenbrauen, die Stirnfalten und zuweilen auch den Zeigefinger zu Hilfe, um seine Gedanken auszudrücken. Sein Haar war vom Scheitel nach vorn und nach hinten gekämmt und rundherum beschnitten; den Bart rasierte er nur selten, so daß seine Backen und sein Kinn immer wie eine Bürste aussahen.

»Der Gutsherr ist angekommen!« sagte die Großtante und zeigte auf Raiski. Dieser saß da und beobachtete, wie Ssawelij ins Zimmer trat, wie er sich langsam verneigte, wie er ebenso langsam die Augen auf die Tante richtete und, als diese nach ihm hinwies, sie ihm zukehrte, wie er sich dann wieder herumdrehte und nachdenklich verneigte.

»Jetzt hast du immer nur ihm Bericht zu erstatten,« sagte die Großtante – »er wird sein Gut selbst verwalten.«

Ssawelij wandte sich wieder halb nach Raiski um und sah ihn von der Seite, doch schon ein wenig neugieriger, an.

»Sehr wohl!« kam es wie ein Knurren aus ihm hervor, und die buschigen Brauen gingen langsam in die Höhe.

»Tantchen!« suchte Raiski der Großtante halb im Scherz, halb im Ernst Einhalt zu tun.

»Herr Neffe?« versetzte Tatjana Markowna kühl.

Raiski ließ einen Seufzer hören.

»Was geruhen Sie zu befehlen?« fragte Ssawelij leise, ohne aufzublicken. Raiski schwieg und dachte nach, was er ihm wohl befehlen könnte.

»Vortrefflich!« rief er dann plötzlich lebhaft. »Hör’ mal – kennst du irgendeinen Gerichtsbeamten, der ein Schriftstück über die Gutsübergabe aufsetzen könnte?«

»Gawrila Iwanowitsch Mjeschetschnikow schreibt für uns alles, was nötig ist,« sagte Ssawelij nach einigem Überlegen.

»Nun, dann bitte ihn hierher!«

»Sehr wohl!« antwortete Ssawelij, nahm wieder den düsteren Gesichtsausdruck an, machte nachdenklich kehrt und ging langsam aus dem Zimmer.

»Was für ein melancholisches Gesicht dieser Ssawelij hat!« sagte Raiski, dem Davonschreitenden nachblickend.

»Da kann wohl einer melancholisch werden, wenn er ein Weib hat wie diese Marina Antipowna! Erinnerst du dich noch des alten Antip? Nun, also dessen Tochter ist seine Frau! Ein goldener Mensch, dieser Ssawelij – verkauft Getreide, nimmt Geld in Empfang – so ehrlich, so umsichtig: und da muß ihm das Schicksal so mitspielen! Jeder hat sein Kreuz in dieser Welt . . . Und nun sag’: was hast du eigentlich vor? Bist du denn ganz von Sinnen?« fragte sie nach kurzem Schweigen.

»Das gehört also wirklich alles mir?« sagte er und beschrieb mit dem ausgestreckten Arm einen Bogen. »Sie wollen es nicht behalten und verbieten auch den Schwestern, es anzunehmen . . .«

»So laß es doch schon dein eigen bleiben!« versetzte sie.

»Warum willst du es denn verschenken, warum die Bauern freilassen?«

»Ich muß doch irgend etwas damit anfangen! Ich reise wieder ab, Sie wollen sich nicht weiter darum kümmern, also muß ich doch irgendwie verfügen . . .«

»Warum willst du wieder abreisen? Ich dachte, du würdest für immer hier bleiben. Bist du des Herumtreibens noch nicht müde? Heirate, gründe dir einen Hausstand! Das nenne ich doch nicht verfügen, so an die dreißigtausend Silberrubel oder mehr ohne weiteres wegzugeben!«

Sie versank in Nachsinnen und schien in einem schweren inneren Kampfe begriffen. Nie war sie auf den Gedanken gekommen, die Verwaltung des Gutes aufzugeben, nie war das ihre Absicht gewesen. Sie hätte ja nicht gewußt, was sie mit sich anfangen sollte! Nur einen Schreck wollte sie Raiski einjagen – und nun hatte er die Sache plötzlich ernst genommen!

»Was soll denn aus ihm werden, wenn man ihn sich selbst überläßt? Dieser Sonderling!« dachte sie voll Angst und Unruhe.

»Wohlan denn, so lassen wir es beim alten,« sagte sie – »so will ich’s schon weiter verwalten, solange meine Kräfte zureichen. Denn dein Vormund wird’s mit dem andern Gut doch noch so weit bringen, daß du unter Vormundschaft kommst. Wovon sollst du dann leben, du sonderbarer Mensch?«

»Ich bekomme von dem anderen Gute Geld geschickt – zweitausend Silberrubel, das genügt mir. Und dann werde ich auch arbeiten: werde zeichnen, malen, schriftstellern . . .

Jetzt möchte ich ins Ausland reisen: zu diesem Zwecke verpfände oder verkaufe ich das andere Gut . . .«

»Gott sei dir gnädig, Borjuschka! Das ist der sicherste Weg, um an den Bettelstab zu kommen! Zeichnen, malen, das Gut verkaufen! Du wirst doch nicht etwa Stunden geben, die kleinen Jungen unterrichten? Ach, du! Hast den Offiziersrock ausgezogen, läufst im einfachen Kittel herum! Statt vierspännig in der Kalesche vorzufahren, kommst du in einer elenden Fuhre, ohne Diener, womöglich zu Fuß! Und du willst ein Raiski sein? Guck’ einmal in das alte Haus, wo deine Ahnen an den Wänden hängen, und schäme dich vor ihnen! Wirklich eine Schmach ist’s, Borjuschka! Wie ganz anders wär’s doch, wenn du mit stolzen Epauletts angekommen wärst, wie seinerzeit Onkel Sergiej Iwanowitsch! . . . Dreitausend Seelen hättest du als Mitgift bekommen! . . .«

Raiski lachte hell auf.

»Warum lachst du? Was ich sage, ist doch sehr vernünftig. Wie würde sich deine alte Tante freuen! Dann würdest du die Spitzen und das Silberzeug nicht verschenken: würdest sie selbst brauchen können . . .«

»Und wenn ich nun nicht heirate und die Spitzen nicht brauche, dann darf ich sie doch an Wjerotschka und Marsinka verschenken, nicht wahr? Ja oder nein?«

»Du fängst schon wieder damit an!« versetzte die Großtante.

»Ja, und wenn Sie dagegen sind, verschenk’ ich sie an Fremde: das ist jetzt abgemacht, darauf gebe ich Ihnen mein Wort . . .«

»Hört doch – sogar sein Wort gibt er darauf!« sagte die Großtante unruhig, immer noch in ihren Entschließungen schwankend. »Sein Eigentum wegzugeben! Ein Sonderling, ein ganz merkwürdiger Mensch! An dir scheint wirklich Hopfen und Malz verloren! Was hast du eigentlich getrieben in all den Jahren? Wie hast du gelebt? Wer bist du eigentlich, um Gottes willen? Alle anderen sind Menschen – und du? Jetzt hat er sich gar noch den Vollbart stehen lassen! Mach’, daß er herunterkommt, ich kann dich so nicht sehen!«

»Wer ich bin, Tantchen?« wiederholte er laut. »Ich bin der unglücklichste aller Sterblichen!«

Er versank in Nachdenken und lehnte den Kopf gegen das Diwankissen zurück.

»Sag’ das niemals!« unterbrach ihn die Großtante ängstlich. »Das Schicksal könnte es hören und dich strafen: du könntest wirklich unglücklich werden! Sei stets zufrieden, oder stell’ dich wenigstens so!«

Sie sah sich ängstlich um, als stände das Schicksal hinter ihrem Rücken.

»Unglücklich!« wiederholte sie. »Und worin besteht denn dein Unglück? Du bist gesund, bist begabt, hast dein eigenes Besitztum – da, sieh nur hinaus, Gott sei Dank!« – sie wies mit dem Kopfe durchs Fenster. »Was willst du eigentlich noch: willst du erst eins mit dem Pfahl übern Schädel haben?«

Marsinka lachte, und Raiski lachte mit ihr.

»Was heißt das: mit dem Pfahl?«

»Das heißt, daß der Mensch sein Glück nicht fühlt, bis er den Pfahl zu spüren bekommt,« sagte sie und sah ihn scharf durch ihre Brille an. »Ordentlich muß er eins über den Schädel haben, dann weiß er, daß er im Glück ist, und daß das bescheidenste Glück immer noch besser ist, als solch ein Hieb über den Schädel.«

»Praktische Bauernweisheit,« dachte Raiski im stillen.

»Sie haben recht, Tantchen, so mag’s im Leben sein!« sagte er. »Sie sind eine Philosophin.«

»Nun, siehst du – und du bist klug und gelehrt und hast das nicht gewußt!«

»Wollen wir uns also wieder vertragen?« sagte er und stand vom Diwan auf. »Sie übernehmen wieder dieses Fleckchen hier . . .«

»Kein Fleckchen ist’s, sondern ein Gut, dein Stammgut!« unterbrach sie ihn fast heftig.

»Sie willigen ein, daß all der alte Kram und Plunder diesen lieben kleinen Mädchen gehören soll . . . Ich bin ein Proletarier, ich brauche nichts, und sie werden einmal ihr eigenes Haus haben. Wenn Sie Ihre Zustimmung nicht geben, mache ich eine Stiftung zum besten unserer Schulen . . .«

»Was? Den Schuljungen willst du es geben? Niemals! Diese frechen Bengel sollen es bekommen? Wieviel Äpfel haben die uns schon aus dem Garten gestohlen!«

»Greifen Sie rasch zu, Tantchen! Sie werden doch auf die alten Tage dieses Nest nicht verlassen? . . .«

»Alter Kram! Plunder! Allein für zehntausend Rubel Silberzeug, Wäsche und Kristall – und das nennt er Plunder!« knurrte die Großtante.

»Tantchen,« bat nun Marsinka – »ich möchte den Blumengarten und mein grünes Zimmer, und dann noch diese sächsischen Tassen mit dem Hirtenknaben, und das Tischzeug mit der Diana . . .«

»Wirst du wohl schweigen, unverschämtes Ding! Dann wird man noch sagen, wir sind Bettelweiber, haben eine arme Waise ausgeplündert!«

»Wer wird das sagen?« fragte Raiski.

»Alle werden es sagen! Vor allem Nil Andreitsch – der wird uns schön den Kopf waschen!«

»Was für ein Nil Andreitsch?«

»Na, der Gerichtspräsident! Weißt du noch, wie wir ihn damals, als du das letzte Mal hier warst, besuchten und nicht antrafen? Und nachher war er aufs Land gefahren, du hast ihn überhaupt nicht kennengelernt. Jetzt mußt du ihn aber unbedingt besuchen: alle Welt achtet ihn und fürchtet sich vor ihm, obschon er bereits verabschiedet ist . . .«

»Der Teufel soll ihn holen! Was geht er mich an?« sagte Raiski.

»Ach, Boris, Boris – wie kannst du nur so reden!« sprach die Großtante fast andächtig. »Ein so geachteter Mann . . .«

»Warum ist er denn so geachtet?«

»Er ist ein so ehrwürdiger, ernster Greis, und er hat einen Stern!«

Raiski mußte lachen.

»Warum lachst du?«

»Was verstehen Sie unter ›ernst‹?« fragte er.

»Er spricht so verständig, so lebensklug, er singt nicht: ti ti ti oder ta ta ta. Und so streng ist er: alles Unrecht verurteilt er! Das nenne ich ernst.«

»Alle diese ernsten Leute sind entweder große Esel oder Heuchler,« versetzte Raiski. »Lebensklug soll er sein – war er denn selbst so klug im Leben?«

»Und ob! Ein Vermögen hat er erworben, ist etwas geworden, ein Mensch . . .«

»Manch einer denkt bei uns, er sei ein Mensch geworden, und in Wirklichkeit ist er nur ein Schwein geworden . . .«

Marsinka lachte laut auf.

»Ich liebe das nicht, ich liebe das nicht, wenn du so keck von jemandem redest!« versetzte die Großtante ärgerlich. »Was bist du denn geworden – sag’ mal, mein Lieber! Nicht Fisch noch Fleisch bist du! Und Nil Andreitsch ist doch ein Mensch, den alle Welt respektiert, was man auch sagen mag! Wenn er hört, daß du mit deinem Eigentum so leichtsinnig umgehst, wird er dich schön abkanzeln! Und auch mir wird er gehörig den Kopf waschen, wenn ich zu deinen Einfällen ja sage: du bist doch eine Waise . . .«

»Sagten Sie mir nicht einmal, er hätte seine Nichte betrogen und die Staatskasse bestohlen? Und der wird mich abkanzeln?«

»Schweig davon, schweig!« fiel ihm die Großtante ängstlich ins Wort. »Denk an das Sprichwort: Meine Zunge ist mein Feind, sie wurde vor meinem Verstande geboren!«

»Bin ich ein kleiner Junge, daß ich mein Eigentum nicht geben darf, wem ich will? Und nun gar meinen Verwandten? Ich selbst brauche es nicht,« fuhr er fort, »folglich ist es doch nur recht und verständig, wenn ich es anderen gebe, die es besser brauchen können!«

»Und wenn du heiratest?«

»Ich heirate nicht!«

»Wie kannst du das wissen? Wenn du die Richtige triffst. . . Hier ist zum Beispiel ein reiches Mädchen . . . ich schrieb dir davon . . .«

»Ich brauche keinen Reichtum!«

»Er braucht keinen Reichtum: was für Unsinn! Aber eine Frau brauchst du doch?«

»Auch eine Frau brauche ich nicht.«

»Wieso denn nicht? Wie willst du denn leben – so, ohne Frau?« fragte sie ungläubig.

Er lachte, erwiderte jedoch nichts auf ihre Frage.

»Es ist höchste Zeit, Boris Pawlowitsch,« sagte sie. »Da, an den Schläfen, schimmert es schon ziemlich stark! Willst du, daß ich dir eine Braut verschaffe? Ein hübsches Mädchen, und so wohl erzogen!«

»Ich will sie aber nicht, Tantchen!«

»Ich scherze nicht,« versetzte sie. »Die Sache geht mir schon lange im Kopfe herum.«

»Auch ich scherze nicht – es ist mir nie in den Sinn gekommen, zu heiraten.«

»Du mußt sie wenigstens kennenlernen.«

»Auch das mag ich nicht.«

»Heiraten Sie doch, lieber Bruder!« warf Marsinka ein.

»Ich würde Ihre Kinder warten . . . ich habe Kinder so gern!«

»Und du, Marsinka, willst du nicht heiraten?«

Sie errötete.

»Sag’ mir die Wahrheit – ins Ohr sag’ sie mir!« flüsterte er.

»Ja . . . manchmal denk’ ich daran.«

»Manchmal? Wann ist denn das?«

»Wenn ich Kinder sehe: ich liebe sie so . . .«

Raiski lachte, nahm ihre beiden Hände und sah ihr gerade in die Augen. Sie wurde rot und wandte sich bald nach der einen, bald nach der anderen Seite, um seinem Blicke nicht zu begegnen.

»Ja, hör’ nur auf sie: sie wird dir schon recht etwas vorschwatzen!« bemerkte die Großtante, die auf das Geplauder der beiden lauschte, während sie ihre Hefte samt der Rechenmaschine wegräumte. »Das reine Kind: was sie im Sinne hat, muß auch gleich auf die Zunge!«

»Ich habe Kinder sehr lieb,« begann Marsinka, ein wenig verwirrt, sich zu verteidigen. »Ich beneide Nadeschda Nikitischna: sie hat sieben Stück! Wohin man sich wendet, überall Kinder. Ist das eine Lust! Ich möchte recht viel solche Brüderchen und Schwesterchen haben, oder wenigstens fremde Kinder. Dann würde ich meine Vögel, meine Blumen, meine Musik – alles würde ich lassen und mich nur um die kleinen Kerlchen kümmern. Der eine tobt herum – der muß in die Ecke gestellt werden! Der will sein Süppchen, jener schreit, noch einer prügelt sich mit den anderen; heute muß einer geimpft werden, morgen müssen seinem Schwesterchen die Ohren durchstochen werden, und dort ist ein ganz Kleines, das erst gehen lernen soll . . . Kann’s etwas Lustigeres geben? Kinder sind so lieb, so graziös von Natur, so drollig, so reizend und gut.«

»Es gibt doch auch häßliche Kinder,« sagte Raiski – »hast du auch die lieb?«

»Kranke Kinder gibt’s wohl,« sagte Marsinka ernst – »aber häßliche Kinder gibt es nicht! Ein Kind kann nicht häßlich sein, es ist noch nicht verdorben.«

Alles das sagte sie mit so viel Eifer, fast leidenschaftlich, und ihre wohlgebildete, volle Brust wogte dabei unter dem Musselin.

»Das Ideal einer Gattin und Mutter! Marsinka, liebes Schwesterchen! Wie glücklich wird dein Mann einmal sein!«

Sie setzte sich verschämt in eine Ecke.

»Immer muß sie mit Kindern zusammen sein – nicht wegzubringen ist sie, wenn sie einmal hier sind,« bemerkte die Großtante. »Das ist dann ein Lärm, ein Spektakel, daß man Reißaus nehmen muß!«

»Hast du denn auch schon auf jemanden ein Auge?« fuhr Raiski fort. »Hast du schon einen Bräutigam?«

»Was fällt dir ein, mein Lieber? Was redest du da? Wie kann sie ohne meine Erlaubnis ans Heiraten denken?«

»Was – nicht einmal daran denken darf sie, ohne daß Sie es erlauben?«

»Natürlich nicht!«

»Aber das ist doch ihre Sache!«

»Nein, nein, nicht ihre Sache ist es, sondern Sache der Tante,« versetzte Tatjana Markowna. »Solange ich am Leben bin, bedarf sie meiner Erlaubnis.«

»Aber warum denn das?«

»Was?«

»Nun, diese Abhängigkeit – daß Marsinka nicht einmal jemanden liebgewinnen darf, ohne Sie zu fragen!«

»Wenn sie heiratet, darf sie ihren Mann liebhaben.«

»Wie denn? Heiraten – und dann lieb gewinnen? Umgekehrt, wollten Sie sagen: erst liebgewinnen und dann heiraten!«

»So! So! Das mag bei euch dort so sein,« sagte die Großtante geringschätzig. »Wir sehen uns hier den Mann erst an, prüfen ihn gehörig, essen erst einen Scheffel Salz mit ihm – dann bekommt er das Mädchen!«

»Die Mädchen dürfen also hier bei Ihnen noch immer nicht selbst heiraten, sondern werden verheiratet! Ach, Tantchen, hat denn das Sinn?«

»Bring ihr nur deine Ideen nicht bei, Borjuschka, wenn ich dich bitten darf! . . . Deine verstorbene Mutter hat auch so gedacht . . . und ist vorzeitig ins Grab gestiegen!«

Sie seufzte und versank in Nachsinnen.

»Nein, das muß alles anders werden!« dachte Raiski für sich. »Nicht einmal in der Liebe geben sie Freiheit! Welche Rückständigkeit! Und dabei sind es doch gute, liebe Menschen! Aber wieviel Nebel, wieviel Finsternis ist noch in ihren Köpfen!« – Und dann wandte er sich an Marsinka und sagte: »Ich werde dich schon aufklären, Schwesterchen! . . . Sehen Sie doch, Tantchen,« fuhr er, zu Tatjana Markowna gewandt, fort – »dieses Häuschen hier, mit allem, was drum und dran ist, scheint wie für Marsinka eingerichtet! Nur für die Kinder wären noch Räume zu beschaffen. Hab’ keine Angst vor der Tante, Marsinka, immer liebe du! Und Sie, Tantchen, wollen ihr verbieten, das hier als Geschenk anzunehmen!«

»Nun, schon gut, schon gut – wir werden ja sehen!« sagte die Großtante. »Wenn du selbst nicht heiratest, dann kannst du ja tun, was du willst, gib ihr meinetwegen auch die Spitzen als Hochzeitsgeschenk. Nur, daß niemand etwas davon erfährt, am wenigsten Nil Andreitsch . . . Ganz in aller Stille . . .«

»Wie denn? Eine anständige, vernünftige Handlung darf hier nur in aller Stille vor sich gehen? Wie lange sollen wir denn noch so leben wie die Eulen, uns vor dem Tageslicht fürchten und auf die Eulenweisheit eines Nil Andrejewitsch hören? . . .«

»Pst! Pst! Pst!« machte die Großtante. »Wenn er das hören würde! Er ist doch ein alter, wohlverdienter und vor allem so ernster Mann! Wir beide kommen nicht zusammen, seh’ ich – sprich dich mit Tit Nikonytsch aus! Er wird heut’ bei uns zu Mittag essen,« fügte Tatjana Markowna hinzu. Im stillen aber dachte sie: »Wirklich ein Sonderling, ein ganz merkwürdiger Mensch! Vor nichts hat er Respekt, kein Mensch imponiert ihm! Sein Gut verschenkt er, ernsthafte Leute nennt er Dummköpfe und sich selbst einen Unglücklichen! Ich bin neugierig, wie das weiter wird!«

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