– Ich weiß, daß Ihr Euch Beide lieb habt; aber Ihr wißt auch, daß ich als Vater immer gegen Eure Verbindung gewesen bin. Deine Mutter jedoch, mein Kind, sagte er zu seiner Tochter, hat mein Herz zu dringend bestürmt, und darum will ich denn allenfalls in Eure Heirath willigen, aber nur unter einer Bedingung, die sich auch in meiner Ehe bewährt hat. Es besteht nämlich in unserer Familie folgende Sitte. Wenn sich zwei junge Personen lieb haben, so gehen sie am Johannisabend ins Feld und suchen drei neben einander stehende, junge und gleich große Grashalme. Um den einen derselben binden sie einen rothen, um den andern einen grünen und um den dritten einen schwarzen seidenen Faden. Wächst nun in der Johannisnacht der Halm, an welchem der rothe Faden sitzt, so werden sie glücklich, wächst der grüne, so bekommen sie viele Kinder, wächst aber der schwarze, so werden sie sehr unglücklich in der Ehe und es wäre eine Sünde, wenn sie sich dennoch heirathen wollten. Da wir nun heute Johannisabend haben, so geht hin und thut nach der Vorschrift. Prophezeit Euch der Grashalm eine glückliche Ehe, so sollt Ihr Euch haben; wo nicht, so bleibt Ihr von einander.
Und die beiden Kinder gingen hin und fanden am Grabenrand neben einander drei gleiche, junge Grashalme. Um den einen banden sie einen rothen, um den andern einen grünen und um den dritten einen schwarzen seidenen Faden; und dann gingen sie nach Hause und konnten die ganze Nacht hindurch vor Angst und banger Erwartung nicht schlafen.
Am andern Morgen ganz früh aber hüpften die Eltern und die Kinder und alle Verwandte in feierlicher Procession nach dem Grabenrand, um die Grashalme zu besehen.
Und siehe da: der Halm, an welchem der schwarze Faden saß, war wohl um einen Zoll über die beiden andern in die Höhe geschossen!
– Ich hab' es ja immer gesagt; jetzt seht Ihr, daß ich Recht hatte! sprach der alte Heuschreck, und dann gingen sie wieder nach Hause.
Am selbigen Abend saß das Heuschreckfräulein unter einem wilden Rosenstrauch, wo sie immer mit dem jungen Heuschreck zu plaudern pflegte, und weinte. Bald darauf kam der Geliebte auch und hatte ebenfalls ganz nasse Augen.
– Ich kann's nicht aushalten, wenn wir uns trennen sollen! sagte er traurig.
– Ich nun vollends nicht! antwortete sie schluchzend.
– Ich mag nicht mehr leben, denn ohne Dich ertrage ich mein Dasein nicht! fuhr er fort.
– Ich auch nicht! schluchzte sie wieder.
– Weißt Du was? sagte der Heuschreck, wie wenn er einen großen Entschluß gefaßt hätte. Wir wollen unserm Leben ein Ende machen!
– Ja, das wollen wir thun! Aber wie sollen wir es nur anfangen? meinte sie.
– Du weißt, sagte er, daß hier, etwa tausend Sprünge hinter diesem Rosenstrauch, ein großer See liegt; in den wollen wir hineinspringen, und dann ist es aus mit uns und unsern Leiden.
– So soll es geschehen! Es bleibt uns nichts Anderes übrig, rief das unglückliche Heuschreckfräulein, denn so geht es nimmermehr!
– Nein, so geht es nimmermehr!
Und so hüpften sie melancholisch fort, und als sie Beide am Ufer des Sees standen, da faßten sie sich ein Herz, umarmten sich zärtlich, sprangen zusammen in die Tiefe und die Wellen schlugen über ihnen zusammen.
– Hättest Du das Wasser für so trocken gehalten? fragte der Heuschreck die Geliebte nach einer Pause, während welcher er vergebens den Tod erwartet hatte.
– Ich glaube fast, es ist gar kein Wasser, in das wir uns gestürzt haben. Eher riecht es hier wie in einem Flachsfelde, das in voller blauer Blüthe steht. Vor Entsetzen zitterten sie aber noch alle Beide.
– Wahrhaftig, es ist eine Flachssaat. Ich erkenne die Stengel ganz deutlich und die blauen Blumen darüber und noch höher den blauen Himmel.
– Ein Wunder hat uns gerettet und Thorheit wär's, das Wunder nicht mit Dank anzunehmen. Aber wie siehst Du aus, mein Lieber? fuhr das Fräulein mit Erstaunen fort. Das ist nicht der Widerschein, das ist die leibhaftige Farbe Deiner Haut. Du bist grasgrün geworden.
– Ich? rief der Jüngling und richtete sich stolz empor. Wahrlich, so hellgrün, daß mich ein Laubfrosch beneiden könnte.
– Mein Gott und ich dagegen – ich bin über und über in Grau gekleidet. Nicht ein Streifen mehr von meiner früheren Farbe! Es muß die Angst, es muß der furchtbare Schrecken gewesen sein, der unsere Farben vertauscht hat.
– Ich kann mir die neue Tracht wohl gefallen lassen, sagte der Jüngling, sich immer wohlgefälliger betrachtend. Da brach jedoch das verwandelte Fräulein in heiße Thränen aus… Wenn wir nun nach Hause kommen, so wird am Ende Dein Vater den Vornehmen spielen, mich als Schwiegertochter zurückweisen oder der meinige mich enterben. Höchstens daß wir wieder ein dummes Orakel befragen dürfen – und es ist doch nur einmal im Jahr Johannisnacht.
– Weißt Du was? entgegnete der männliche Grashüpfer. Wir kehren gar nicht nach Hause zurück. Was sollen wir uns schikaniren, in Tod und Verzweiflung jagen lassen durch den Farbeneigensinn und das Vorurtheil unserer Familien? Laß uns durch diese rettenden Fluthen ans jenseitige Ufer waten und dort ein neues Leben beginnen. Grau ist grün und grün ist grau geworden durch die Liebe – Du glaubst gar nicht, wie schön Dir Dein veränderter Teint steht, meine Holde, – und derselbe Irrthum, der uns hier den Tod suchen ließ, schützt uns jenseits vor Verfolgung. Brechen wir auf zur Fahrt in ein freies, in ein glückliches Land.
Sie willigte ein, und während ihre Eltern um sie weinten und sie vergebens in alle Zeitungen setzen ließen, zogen Beide durch die Wogen des Flachsoceans hinüber an die andere Küste. Diese fanden sie trotz ihrer Fruchtbarkeit ziemlich heuschreckenleer, nur mit einigen wilden kupferfarbenen Stämmen besetzt, denen sie durch Bildung, Sitte und künstliche Hülfsmittel weit überlegen waren. Seit jener Zeit sind dem ersten Paare viele Tausende in die neue Welt nachgefolgt, so graue als grüne Grashüpfer, und sie sind die Patriarchen eines gesprenkelten Volkes geworden, das immer mächtiger selbst in die alte Welt hinüberragt: Yankee-Heuschrecken genannt. Die Wanderlust und den kühnen Unternehmungsgeist ihrer Voreltern haben sie treu bis auf unsere Tage bewahrt und von den unzähligen Vorurtheilen der Heimath nur ein einziges behalten, aber ein sehr verstärktes, das gegen die schwarze Farbe, die sie bis heute nicht blos als eine unglückliche, sondern auch als eine verächtliche betrachten.
Sterbenskrank lag der kleine Carl auf dem Bettchen. Die Nachtlampe brannte auf dem Tische, viel heißer aber brannte das Fieber in den Adern des Knaben. Dunkelrothe Rosen hatte es auf seine Stirn und auf seine Wangen gesäet, seine Lippen bewegten sich dürstend und das treue Auge war so todesmatt.
Die zitternden Händchen faltend saß er im Bett und flehte: »Abba, lieber Vater, laß mich noch nicht sterben!« Denn Carl war ein frommes Kind und der Arzt hatte ja zu seiner Mutter gesagt, er werde in dieser Nacht sein Auge für immer zumachen und sie nicht mehr sehen.
In der Ecke des Zimmers kniete die Mutter mit verweinten Augen, sie hatte drei Tage und drei Nächte hindurch für ihn geweint und jetzt war der Schlummer tröstend in ihr Auge getreten und hatte ihre müde Stirn auf den Sessel gebettet, an dem sie niedergekniet war.
Die Nachtlampe flackerte zuweilen so matt auf, als wollte sie sagen: »Lieber Carl, wollen wir nicht zusammen einschlafen?« Carl aber faltete noch immer seine Hände und betete sein frommes Abba. Das hatte die Nachtlampe ihn alle Abende beten gesehen und wenn er dann eingeschlafen war, pflegte auch sie bald ihr helles Auge zu schließen. Freilich wußte sie nicht, daß der Arzt gesagt hatte, sie würden sich heute zum letzten Male gemeinschaftlich zur Ruhe begeben.
Auf Carls Bette lag ein Bild, das hatte ihm einst die sterbende Großmutter geschenkt. Es war das betende Kind, das Ihr wohl kennt, und unter das Bild hatte die Großmutter zum Andenken geschrieben:
»Abba, lieber Vater,
Mach mich gut, mach mich fromm,
Daß ich in den Himmel komm'!«
Ueber dem betenden Kinde in der schönen Randverzierung aber saßen ein paar liebliche Engel, die sah Carl immer so gern und die Großmutter hatte ihm versprechen müssen, daß er auch ein solcher Engel werden solle.
Auf diesen beiden Engeln ruhte heute Carls mattes Auge, während er betete, er hatte sie ja so gern, und es wäre ihm schon recht gewesen, zu sterben, wenn er nur die beiden Engel und die gute Mutter hätte mitnehmen können. Da erlosch die Nachtlampe, denn sie glaubte, Carl sei schon eingeschlafen, weil er so still war.
Aber das Bild auf Carls Bette verklärte sich jetzt mit einem Male in wunderbarem Glanz, es leuchtete wie tausendfacher sanfter Lampenschimmer und aus der Randverzierung traten leibhaftig die beiden Engel heraus. Die wuchsen vor seinem Blick, ihre Flügel wurden größer, ihr Gewand wurde zum Sternenkleide, ihre Augen nahmen einen überirdischen Glanz an.
So stellten sich die Engel zu beiden Seiten von Carls Bette, legten ihre Hände auf seinen fieberheißen Arm und schauten ihn so freundlich an, wie es nur die Engel thun können.
Carl erschrak anfangs, aber er erkannte ja seine Engel und streichelte ihnen mit den Händchen die Wangen.
– Ist es wohl wahr, daß ich sterben soll? fragte er. Wollt Ihr mich zur Großmutter in den Himmel holen?… Ach ja! Laßt mich mit Euch gehen, aber laßt mich mein Mütterchen mitnehmen, denn sonst kann ich nicht froh sein in Eurem Himmel!
– Nein, Du sollst noch nicht mit uns kommen, antwortete der eine Engel; aber dereinst werden wir uns wieder sehen, und dann gehst Du mit uns.
Hierauf erhoben sich Beide und bestiegen eine goldene Leiter, die wie ein großer Sonnenstrahl in die Luft führte. Carl sah, wie sie immer höher stiegen, bis die Wolken sich hinter ihnen schlossen.
Trauernd sah Carl sie droben verschwinden; eine heiße Thräne trat in sein Auge. Plötzlich aber klatschte er sich freudig in die Hände, denn die Wolken theilten sich wieder und die Engel kehrten zurück. Sie trugen auch Etwas in den Händen, das sah aus wie ein wunderschönes Schreibebuch, so schön wie er noch nie eins gesehen.
Und die Engel kehrten auf der Sonnenstrahl-Leiter zurück und traten wieder an sein Bett. Und der Eine von ihnen zeigte ihm ein Buch, dessen Deckel so purpurroth war, wie der schönste Sammet, und der ein großes goldenes Kreuz trug.
Und der Engel legte das Buch auf Carls Bett und sagte zu ihm:
– Dieses Buch sendet Dir Dein Vater im Himmel; es stehen schöne Worte und eine große Lehre darin, die sollst Du verkünden weit und breit, diesseits und jenseits der Meere, und deshalb sollst Du leben.
– Ach, das schöne, schöne Buch! rief Carl und drückte es an das kleine Herz.
Die Engel aber küßten ihn Beide auf die Stirn.
– Dereinst sehen wir uns wieder! sagten sie und verschwanden.
Viele Jahre waren verstrichen, da lag weit, weit fort in China ein Mann auf dem Sterbebette.
Sein Haar war noch nicht ergraut, seine Kraft war groß, sein Wort mächtig gewesen. Tausend und abertausend Meilen war er gewandert und hatte das Wort Gottes unter den Heiden verkündet. Er hatte viel Ungemach und Leiden ertragen, aber viele Tausende hatte er zum Christenthume bekehrt, die glaubten jetzt an den Gekreuzigten und zerschlugen die Götzen, zu denen sie in ihrer Blindheit gebetet.
Er selbst aber lag auf dem Sterbebette; keine Verwandte, kein Vater, keine Mutter, keine Gattin, keine Kinder standen an seinem Schmerzenslager; er aber war getrost, denn er sollte ja zu seinem Vater zurückkehren.
Und seine Hand ruhte auf einem rothen Buche mit einem goldenen Kreuz, darin stand mit vielen Millionen Buchstaben ein einziges Wort geschrieben: das Wort Gottes.
Und als es Abend wurde, da betete er noch einmal, denn sein Auge wollte brechen.
Plötzlich ward es hell im Zimmer wie vom Schein der untergehenden Sonne. Noch einmal schlug er das Auge auf und sah an seinem Bette zwei Engel stehen.
– Als wir Dich vor mehr denn vierzig Jahren sahen, begann der Eine, da versprachen wir Dir, Du sollest uns wiedersehen. Wir sind gekommen, um Dich mit uns zu nehmen, denn Du hast genug gethan. Du sollst ausruhen und vor das Antlitz Dessen treten, den Du verkündet hast.
Die Engel legten ihre Hand auf sein Auge und das Buch auf seine Brust. Sie ließen seinen Leib ruhen und führten seine Seele hinüber auf derselben Leiter, auf welcher sie ihm einst erschienen waren.
Die Welt hieß ihn Carl Gützlaff, der Vater im Himmel aber nannte ihn seinen treuesten Sohn.
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