Kurz vor der Operation hatte der Schlossmüller sein Testament gemacht; die Gerichtspersonen und Zeugen waren dem Doktor Bruck und dem Kommerzienrat noch auf der Treppe begegnet. Wenn er auch äußerlich bei guter Fassung war, musste es doch im Innern des Patienten heftig gestürmt haben; jedenfalls war seine Hand beim Wegräumen der benötigten Dokumente unstet und hastig gewesen, denn ein Papier war auf dem Tische liegen geblieben. Er hatte übrigens im letzten Augenblicke vor der Entscheidung das Versehen noch bemerkt und den Kommerzienrat gebeten, das Schriftstück schleunigst im Schranke zu verschließen. Aus dem Alkoven führte noch eine zweite Tür nach dem Vorsaal, und es verkehrten viele fremde Leute in der Mühle; erschreckt trat der Kommerzienrat in das schmale Stübchen; er war unverzeihlich leichtsinnig gewesen – die Schranktür stand offen; wenn das der Alte gesehen hätte, der seinen Geldschrank wie ein Drache hütete! Es konnte wohl niemand das Zimmer betreten haben, sagte sich der Kommerzienrat zu seiner Beruhigung; selbst das leiseste Geräusch wäre ihm ja nicht entgangen, aber überzeugen musste er sich dennoch, ob noch alles in Ordnung.
Er schlug den eisernen Türflügel möglichst lautlos zurück – sie standen sichtlich unberührt, die Geldsäcke, das silberschwere Piedestal des ehemaligen Müllerknechtes, und neben den Stößen von Wertpapieren türmten sich in blinkenden Säulchen die Goldstücke aufeinander. Sein bewundernder Blick flog hastig über das Schriftstück, das er vorhin in Folge leichtbegreiflicher Spannung und Erregtheit allzu flüchtig in eines der musterhaft geordneten Fächer geworfen hatte – es war das Verzeichnis des Gesamt-Besitztums. Welche imponierende Summen reihten sich da aneinander! Sorgsam schob er das Papier auf die anderen Dokumente; dabei aber geschah es, dass er eines der Goldröllchen umstieß – klirrend rollte eine Anzahl Napoleonsd’or auf die Dielen nieder. Wie abscheulich das klang! Es war fremdes Geld, das er berührt hatte! Schrecken und eine an sich ungerechtfertigte Scham trieben ihm das Blut in das Gesicht; unverzüglich bückte er sich, um das Geld aufzulesen. In diesem Moment warf sich ein schwerer, massiger Körper von rückwärts über ihn her, und harte, grobe Finger würgten ihn am Halse.
»Halunke, Spitzbube! Ich bin noch nicht tot«, zischte der Schlossmüller mit seltsam erloschener Stimme. Ein momentanes Ringen erfolgte; der schlanke junge Mann musste alle seine Kraft und Elastizität aufbieten, um den Alten abzuschütteln, der wie ein Panther auf ihm hockte, ihm die Kehle so furchtbar zusammenschnürend, dass ein feuriger Funkenregen vor seinen Augen aufstiebte – ein angstvoller Griff seiner eigenen beiden Hände, dann ein gewaltsamer Ruck und Stoß, und er stand befreit auf seinen Füßen, während der Schlossmüller an die Wand taumelte.
»Sind Sie toll, Papa?« keuchte er empört und atemlos. »Welche bodenlose Gemeinheit« – er verstummte entsetzt; der Verband unter dem erbleichenden Gesicht des Kranken erschien plötzlich scharlachrot, und diese entsetzliche Farbe kroch sickernd, mit unglaublicher Schnelligkeit auch als breites Band über die weiße Bettjacke – da war die Blutung, die um jeden Preis verhindert werden sollte.
Der Kommerzienrat fühlte seine Zähne wie im Fieber zusammenschlagen. War er schuld an diesem Unglück? »Nein, nein«, sagte er sich erleichtert und umschlang den Kranken, um ihn fürs Erste nach dem Bett zu schaffen, aber der Alte stieß erbittert nach ihm und zeigte schweigend auf die verstreuten Goldstücke; sie mussten Stück um Stück aufgelesen und an Ort und Stelle zurückgelegt werden; die furchtbare Gefahr, in der er schwebte, ahnte er entweder nicht oder er vergaß sie über der Angst um sein Gold. Erst, nachdem der Kommerzienrat vor seinen Augen den Schrank verschlossen und den Schlüssel in seine Hand gedrückt hatte, wankte er in die Stube zurück und sank taumelnd auf sein Lager, und als endlich zwei Müllerburschen und Jungfer Suse auf das wiederholte Hilferufen des Kommerzienrates herbeistürzten, da lag der Schlossmüller bereits lang hingestreckt und stierte mit gläsernen Augen wie entgeistert auf seine Brust, die der unaufhaltsam entfließende Lebensstrom immer breiter mit Purpur bedeckte.
Die Burschen eilten nach der Stadt, um Doktor Bruck zu suchen, während die Haushälterin Wasser und Leinen herbeischleppte – vergebliche Mühe! Es half nichts, dass der Kommerzienrat angstvoll Tuch um Tuch auf die Wunde presste, um den Quell zu verstopfen; der ließ sich nicht wieder zurückleiten. Es blieb kein Zweifel: die Schlagader war zerrissen. Wie war das gekommen? Trug die wahnsinnige innere und äußere Aufregung des alten Mannes allein die Schuld, oder – der Herzschlag stockte ihm – hatte er bei seiner verzweifelten Abwehr die Schnittwunde am Halse des Wütenden gepackt und tödlich erweitert? Für einen solchen Moment gab es kein Erinnern; wie kann einer wissen, ob er die Schulter oder den Hals eines heimtückischen Angreifers fasst, wenn ihm der Erstickungstod droht und das gewaltsam nach dem Gehirne gedrängte Blut Feuerräder vor seinen Augen kreisen lässt! Aber wozu auch eine so grässliche Möglichkeit aufstellen? Hatten nicht der Sprung aus dem Bette, die innere kochende Wut vollkommen genügt, das Unglück herbeizuführen, das ja der Arzt selbst schon von einer einzigen allzu heftigen Bewegung abhängig gemacht? Nein, nein, sein Gewissen war rein und unbelastet; er konnte sich nicht den geringsten Vorwurf machen, auch was die Grundursache dieses grauenhaften Vorfalles betraf. Er war an den Schrank getreten, einzig und allein aus Besorgnis für das Eigentum des alten Mannes; nicht einmal der Wunsch, diese Schätze zu besitzen, war ihm in jenem flüchtigen Momente gekommen – das wusste er genau. Was konnte er für die gemeinen Gesinnungen des erbärmlichen Kornwucherers, der bei jedem, auch dem anerkannt respektabelsten Manne, räuberische Gelüste voraussetzte? An die Stelle der Angst und des Entsetzens trat jetzt der Ingrimm. Das hatte er von seiner Liebenswürdigkeit, von jener Höflichkeit des Herzens, die seine Bekannten an ihm rühmten; sie hatte ihn wie schon so oft, hingerissen, Verpflichtungen auf sich zu nehmen, die ihn in Unannehmlichkeiten verwickelten. Wäre er doch zu Hause geblieben, zu Hause in seinem köstlich behaglichen Salon, am Whisttisch in unverkümmerter Gemütsruhe seine Zigarre rauchend! Sein böser Dämon musste ihm zugeflüstert haben, die Rolle des aufopfernden Pflegers zu spielen; nun stand er inmitten der haarsträubendsten Situation, und seine vor Ekel und Grauen immer wieder zurückschreckenden Hände netzten sich mit dem Blute des Elenden, der ihn eben um ein Haar erwürgt hätte.
Wie bleiern träge Minute um Minute hinschlich! Jetzt war sich der Schlossmüller augenscheinlich bewusst, in welche Gefahr er sich gebracht hatte; er rührte sich nicht, und nur seine Augen richteten sich in angstvoller Spannung auf die Tür, wenn draußen auf dem Vorsaale Schritte erklangen; er hoffte auf Rettung durch den Arzt, während der Kommerzienrat schaudernd die Veränderung in seinem Gesichte verfolgte. So aschfarben malt nur die Hand des Todes.
Jungfer Suse hatte die Lampe hereingebracht; sie war wiederholt vor das Tor gelaufen, um nach Doktor Bruck auszuschauen, und nun stand sie zu Häupten des Bettes und schüttelte sich stumm vor Entsetzen bei dem Anblicke, den das weiße Lampenlicht schreckhaft hervortreten ließ. wenige Minuten darauf sanken die Augen des Schlossmüllers zu, und der Schlüssel, den er bis dahin krampfhaft festgehalten, fiel auf die Bettdecke; eine Ohnmacht trat ein. Unwillkürlich griff der Kommerzienrat nach dem Schlüssel, um ihn wegzulegen, aber in den Moment, wo er das verhängnisvolle Stückchen Eisen mit den Fingern berührte, kam ihm ein Gedanke, der ihn traf, wie ein unvermuteter Schlag: welche Physiognomie erhielt wohl der unglückselige Vorfall in den Augen der Welt? Er kannte es nur zu gut, das zischelnde, flüsternde Weib, die Lästersucht; sie schlich ja auch durch seine Salons, und das starke Geschlecht am Spieltische amüsierte sich genau mit demselben Behagen bei ihren versteckten, boshaften Fingerzeigen, ihrem zweideutigen Lächeln, wie die teetrinkenden Damen. Und wenn nur ein Einziger achselzuckend mit bedenklichem Augenzwinkern sagte: »Ei, was hatte denn auch der Kommerzienrat Römer im Geldschranke des Schlossmüllers zu suchen?« so genügte das, um sein Blut sieden zu machen. Es blieb aber nicht bei diesem Einzigen; er hatte Feinde und Widersacher genug, wie alle, die das Glück bevorzugt; er wusste, dass man sich morgen in der Stadt erzählen werde, die Operation sei gelungen gewesen, aber die Aufregung darüber, dass der Pfleger heimlich über seinen Geldschrank gegangen, habe eine Verblutung des Patienten herbeigeführt. Und da war ein schmutziges Mal auf dem Namen des beneideten Römer, das selbst keine gerichtliche Untersuchung wegwaschen konnte; wo waren denn die entlastenden Zeugen? Etwa seine bisher anerkannte Ehrenhaftigkeit? Er lachte bitter in sich hinein, während er sich den Schweiß von der Stirn wischte. niemand wusste besser als er, dass sich die Mitwelt in nichts rascher findet, als eine anerkannte Ehrenhaftigkeit für Schein zu halten, sobald der Schein gegen sie auftritt. Er bückte sich über den Ohnmächtigen, dem Jungfer Susanne die Schläfe mit Essenzen wusch, und beobachtete ihn plötzlich mit verändertem Blicke; wenn dieser Mann da nicht selbst so viel Kraft wiedererlangte, um den Vorgang zu erzählen, dann wurde das Ereignis mit ihm begraben – über die Lippen des anderen kam kein Wort.
Endlich schlugen draußen die Hofhunde an, und rasche Schritte kamen über das Steinpflaster und die Treppe herauf. Doktor Bruck blieb einen Moment wie versteinert in der Stubentüre stehen, dann legte er schweigend seinen Hut auf den Tisch und trat an das Bett. Welche atemlose Stille bei einem solchen Erscheinen! Sie breitet gleichsam die Schwingen aus, um feierlich den Ausspruch über Leben und Tod zu empfangen.
»Wenn er doch nur erst wieder zu sich käme, Herr Doktor!« flüsterte endlich die Haushälterin beklommen.
»Das wird er schwerlich«, versetzte Doktor Bruck von seiner Untersuchung aufblickend – jede Spur von Farbe war aus seinem Gesicht gewichen. »Mäßigen Sie sich!« gebot er ernst, als Jungfer Suse in ein Klagelied ausbrechen wollte. »Sagen Sie mir lieber, weshalb der Kranke das Bett verlassen hat!« Er hatte die Lampe vom Tisch genommen und beleuchtete den Fußboden – die Dielen vor dem Bette waren mit Blut bespritzt.
»Das rührt von den vollgesogenen Tüchern her«, erklärte der Kommerzienrat mit blassem Gesicht, aber großer Bestimmtheit, während die Haushälterin heilig und teuer versicherte, dass der Schlossmüller bei ihrem Wiedereintreten noch genauso im Bett gelegen, wie es der Herr Doktor angeordnet habe.
Doktor Bruck schüttelte den Kopf. »Die Blutung ist nicht ohne alle äußere Veranlassung eingetreten; es muss eine heftige Erschütterung eingewirkt haben –«
»Dass ich nicht wüsste – ich versichere Dir, nein!« sagte der Kommerzienrat, ziemlich fest dem ausdrucksvollen Blick des Arztes begegnend. »Übrigens, was soll dieser Inquisitorenblick? Ich sehe nicht ein, weshalb ich es Dir verheimlichen sollte, wenn der Kranke wirklich in einem Fieberanfall aus dem Bette gesprungen wäre.« Er bliebe unbeirrt auf dem Wege, den er eingeschlagen. Fast wollte es ihm die Kehle zusammenschnüren bei seinen letzten Worten. Um den äußeren Ehrenschein zu retten, gab er die wahre innere Ehre hin – er leugnete mit eherner Stirne, aber er war ja auch in Wirklichkeit ohne alle Schuld; er war der an Leben und Gesundheit Schwerbedrohte gewesen. Nicht ein einziges Motiv lag nahe, welches das Bekennen des wahren Sachverhaltes zur Gewissenspflicht gemacht hätte.
Der Arzt wandte sich schweigend von ihm ab. Unter seinen Bemühungen schlug zwar der Schlossmüller die Augen wieder auf, aber er stierte mit wirrem, erloschenem Blick ins Leere, und der Versuch, zu sprechen, erstarb in einem schwachen Gurgeln und Lallen.
Mehrere Stunden später verließ der Kommerzienrat Römer die Schlossmühle – es war alles vorüber. Über die Türen des Sterbezimmers und des Alkovens spannten sich bereits breite Papierstreifen. Der Kommerzienrat hatte sofort nach dem letzten Atemzuge des Schlossmüllers bei den Gerichten Anzeige gemacht und als vorsichtiger und gewissenhafter Mann vor seinen Augen versiegeln lassen.
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