Wie vorausgesehen, so kam es. Bei der Bureauwahl entstanden bereits die stürmischsten Szenen. Wir hatten, da die Beleuchtung eine elende war, am Bureautisch ein halbes Dutzend Flaschen, in deren Hälse wir Stearinlichter gesteckt, aufgestellt. Diese waren in beständiger Gefahr, umzufallen, und mußten mit den Händen gehalten werden. Schließlich nahm der Tumult so zu, daß Geib den Kongreß schloß und anzeigte, daß er einen neuen Kongreß für nächsten Vormittag 10 Uhr in den „Mohren“ berufe, an dem nur Delegierte mit gelben Legitimationskarten teilnehmen könnten.
Unser Coup war gelungen. Während der Nacht sichteten wir (Bracke, Geib und ich) die Mandate, suchten die der Schweitzerianer heraus, und Geib übersandte sie am frühen Morgen an Tölcke mit dem Ersuchen, er möge sie den betreffenden Delegierten aushändigen. Der Kongreß verlief alsdann ohne jede Störung.
Zu Berichterstattern über Programm und Organisation waren ich und Bracke bestimmt. J.Ph. Becker hatte es sich trotz all meiner Gegengründe nicht nehmen lassen, einen langen Antrag einzubringen, wonach die Partei sich „Allgemeiner deutscher sozialistisch-demokratischer Arbeiterverein, Bestandteil der internationalen Arbeiterassoziation“ nennen solle. Der Antrag fand keine Zustimmung. Programm und Organisation wurden mit geringen Aenderungen in der von den Einberufern vorgeschlagenen Fassung angenommen. Die neue Partei erhielt den Namen „Sozialdemokratische Arbeiterpartei“. Das angenommene Programm lautete:
Programm der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei.
I. Die sozialdemokratische Arbeiterpartei erstrebt die Errichtung des freien Volksstaats.
II. Jedes Mitglied der sozialdemokratischen Arbeiterpartei verpflichtet sich, mit ganzer Kraft einzutreten für folgende Grundsätze:
1. Die heutigen politischen und sozialen Zustände sind im höchsten Grade ungerecht und daher mit der größten Energie zu bekämpfen.
2. Der Kampf für die Befreiung der arbeitenden Klassen ist nicht ein Kampf für Klassenprivilegien und Vorrechte, sondern für gleiche Rechte und gleiche Pflichten und für die Abschaffung aller Klassenherrschaft.
3. Die ökonomische Abhängigkeit des Arbeiters von dem Kapitalisten bildet die Grundlage der Knechtschaft in jeder Form, und es erstrebt deshalb die sozialdemokratische Partei unter Abschaffung der jetzigen Produktionsweise (Lohnsystem) durch genossenschaftliche Arbeit den vollen Arbeitsertrag für jeden Arbeiter.
4. Die politische Freiheit ist die unentbehrliche Vorbedingung zur ökonomischen Befreiung der arbeitenden Klassen. Die soziale Frage ist mithin untrennbar von der politischen, ihre Lösung durch diese bedingt und nur möglich im demokratischen Staat.
5. In Erwägung, daß die politische und ökonomische Befreiung der Arbeiterklasse nur möglich ist, wenn diese gemeinsam und einheitlich den Kampf führt, gibt sich die sozialdemokratische Arbeiterpartei eine einheitliche Organisation, welche es aber auch jedem einzelnen ermöglicht, seinen Einfluß für das Wohl der Gesamtheit geltend zu machen.
6. In Erwägung, daß die Befreiung der Arbeit weder eine lokale noch nationale, sondern eine soziale Aufgabe ist, welche alle Länder, in denen es moderne Gesellschaft gibt, umfaßt, betrachtet sich die sozialdemokratische Arbeiterpartei, soweit es die Vereinsgesetze gestatten, als Zweig der Internationalen Arbeiterassoziation, sich deren Bestrebungen anschließend.
III. Als die nächsten Forderungen in der Agitation der sozialdemokratischen Arbeiterpartei sind geltend zu machen:
1. Erteilung des allgemeinen, gleichen, direkten und geheimen Wahlrechtes an alle Männer vom 20. Lebensjahr an zur Wahl für das Parlament, die Landtage der Einzelstaaten, die Provinzial- und Gemeindevertretungen wie alle übrigen Vertretungskörper. Den gewählten Vertretern sind genügende Diäten zu gewähren.
2. Einführung der direkten Gesetzgebung (das heißt Vorschlags- und Verwerfungsrecht) durch das Volk.
3. Aufhebung aller Vorrechte des Standes, des Besitzes, der Geburt und Konfession.
4. Errichtung der Volkswehr an Stelle der stehenden Heere.
5. Trennung der Kirche vom Staat und Trennung der Schule von der Kirche.
6. Obligatorischer Unterricht in Volksschulen und unentgeltlicher Unterricht in allen öffentlichen Bildungsanstalten.
7. Unabhängigkeit der Gerichte, Einführung der Geschworenen- und Fachgewerbegerichte, Einführung des öffentlichen und mündlichen Gerichtsverfahrens und unentgeltliche Rechtspflege.
8. Abschaffung aller Preß-, Vereins- und Koalitionsgesetze; Einführung des Normalarbeitstags; Einschränkung der Frauen- und Verbot der Kinderarbeit.
9. Abschaffung aller indirekten Steuern und Einführung einer einzigen direkten progressiven Einkommensteuer und Erbschaftssteuer.
10. Staatliche Förderung des Genossenschaftswesens und Staatskredit für freie Produktivgenossenschaften unter demokratischen Garantien.
IV. Jedes Mitglied der Partei hat einen monatlichen Beitrag von 1 Groschen (3-1/2 Kreuzer süddeutsch, 5 Kreuzer österreichisch, 12 Centimes) für Parteizwecke zu entrichten. Die Parteigenossen, welche auf das Parteiorgan abonnieren und dies glaubhaft nachweisen, sind während der Dauer des Abonnements ihrer Beitragspflicht enthoben. Sache des Ausschusses ist es, einzelnen Orten den Beitrag zu ermäßigen.
V. Der Beitrag ist monatlich franko an den Parteiausschuß abzuliefern.
VI. Wer drei Monate lang seine Pflichten gegen die Partei nicht erfüllt, wird als Parteimitglied nicht mehr betrachtet.
VII. Mindestens einmal im Jahre findet ein Parteikongreß statt, auf dem über alle die Partei berührende Fragen beraten und beschlossen, der Vorort der Partei sowie der Sitz der Kontrollkommission und der Ort für den nächsten Parteikongreß bestimmt wird. – Die Entschädigung für den Ausschuß respektive einzelne seiner Mitglieder setzt der Kongreß fest.
VIII. Außerordentliche Kongresse finden statt, wenn der Ausschuß oder die Kontrollkommission mit absoluter Majorität dies beschließt oder wenn ein Sechstel sämtlicher Parteimitglieder darauf anträgt.
IX. Zu jedem Kongreß ist die vorläufige Tagesordnung mindestens sechs Wochen vorher durch den Ausschuß im Parteiorgan bekanntzumachen. Die innerhalb der nächsten zehn Tage nach erfolgter Bekanntmachung von seiten der Parteigenossen einlaufenden Anträge sind alsdann mindestens vierzehn Tage vor dem Kongreß als definitive Tagesordnung zu veröffentlichen. Auf dem Kongreß gestellte selbständige Anträge kommen nur dann zur Verhandlung, wenn sich mindestens ein Drittel der Delegierten dafür erklärt.
X. Jeder Delegierte hat eine Stimme. Die Parteimitglieder, welche sich an einem Orte an den Wahlen der Delegierten beteiligen, dürfen nicht mehr als fünf stimmberechtigte Abgeordnete zum Kongreß senden. Parteimitglieder, welche nicht Delegierte sind, haben nur beratende Stimme.
XI. Spätestens drei Wochen nach dem Kongreß muß das Kongreßprotokoll allen Mitgliedern zum Kostenpreise zugänglich gemacht werden. Alle Kongreßbeschlüsse, welche eine Abänderung des Statuts, die Grundsätze und die politische Stellung der Partei oder die Besteuerung derselben betreffen, müssen innerhalb sechs Wochen nach dem Kongreß der Urabstimmung aller Parteimitglieder unterbreitet werden. Einfache Majorität der Abstimmenden entscheidet. Das Resultat der Abstimmung wird im Parteiorgan veröffentlicht.
XII. Die Leitung der Parteigeschäfte ist einem Ausschuß von fünf Personen, als einem Vorsitzenden und dessen Stellvertreter, einem Schriftführer, einem Kassierer, der eine entsprechende Kaution zu leisten hat, und einem Beisitzer übertragen. Sämtliche Ausschußmitglieder müssen an einem Orte oder in dessen einmeiligem Umkreis wohnhaft sein und werden von den am Vorort der Partei wohnhaften Parteimitgliedern in besonderen Wahlgängen durch Stimmzettel mit absoluter Majorität gewählt. Weder ein Mitglied der Redaktion noch der Expedition des Parteiorgans darf im Ausschuß sein.
Treten im Laufe des Jahres im Ausschuß Vakanzen ein, so hat der Vorort – mit Ausnahme des in § VII erwähnten Falles – nach demselben Wahlmodus die Ergänzungswahlen vorzunehmen.
XIII. Der Ausschuß muß innerhalb vierzehn Tagen nach stattgehabtem Kongreß gewählt sein; bis zu dieser Wahl verbleibt dem bisherigen Ausschuß, falls der Kongreß nicht anders verfügt, die Geschäftsführung.
XIV. Der Ausschuß faßt alle Beschlüsse gemeinsam und ist nur dann beschlußfähig, wenn in einer ordentlich einberufenen Sitzung wenigstens drei Mitglieder anwesend sind; derselbe gibt sich, soweit nicht der Kongreß darüber bestimmt, selbst eine Geschäftsordnung.
Der Ausschuß ist dem Parteikongreß für alle seine Handlungen verantwortlich.
XV. Um Eigenmächtigkeiten des Ausschusses möglichst zu vermeiden, konstituiert die Partei eine Kontrollkommission von elf Personen, an die alle von dem Ausschuß unberücksichtigt gelassenen Beschwerden zu richten sind, und die zugleich die Geschäftsführung des Ausschusses zu kontrollieren hat.
XVI. Die Kontrollkommission wählen die Parteimitglieder desjenigen Ortes und seines einmeiligen Umkreises, welcher von dem Parteikongreß als Sitz der Kontrollkommission bestimmt worden ist. Die Wahl erfolgt durch Stimmzettel und hat spätestens vierzehn Tage nach dem Kongreß stattzufinden.
XVII. Die Kontrollkommission ist verpflichtet, die Geschäftsführung, Akten, Bücher, Kasse usw. des Ausschusses mindestens einmal vierteljährlich zu prüfen und zu untersuchen, und ist berechtigt, falls sie begründete Ursache hat und der Ausschuß die Abhilfe der Unregelmäßigkeiten verweigert, einzelne Mitglieder wie den gesamten Ausschuß zu suspendieren sowie die nötigen Schritte für provisorische Weiterführung der Geschäfte zu tun. Es müssen solche Beschlüsse mit Zweidrittelmajorität der Kontrollkommission gefaßt werden und ist, wenn mehr als die Hälfte der Ausschußmitglieder suspendiert wird, innerhalb vier Wochen ein Parteikongreß einzuberufen, der endgültig in der Sache entscheidet.
XVIII. Die Partei gründet eine Zeitung als Organ unter dem Namen „Der Volksstaat“, Organ der sozialdemokratischen Arbeiterpartei. Das Organ erscheint in Leipzig und ist Eigentum der Partei. Personen und Gehalt des Redaktions- und Expeditionspersonals, des Druckers, Preis des Blattes wird durch den Ausschuß bestimmt. Streitigkeiten hierüber entscheidet die Kontrollkommission, in letzter Instanz der Parteikongreß. Die Haltung des Blattes ist streng dem Parteiprogramm anzupassen. Einsendungen von Parteigenossen, welche demselben entsprechen, sind – soweit der Raum des Blattes ausreicht – unentgeltlich aufzunehmen. Beschwerden über Nichtaufnahme oder tendenziöse Färbung der Einsendungen sind bei dem Ausschuß, in zweiter Instanz bei der Kontrollkommission anzubringen, welcher die endgültige Entscheidung zusteht.
XIX. Die Parteimitglieder verpflichten sich, überall auf Grund des Parteiprogramms die Gründung sozialdemokratischer Arbeitervereine in die Hand zu nehmen.
Im Laufe der Verhandlungen teilte ich mit, daß mir aus dem Revolutionsfonds in Zürich von den Verwaltern desselben, Dr. Ladendorf und Genossen, 900 Taler zur Agitation bewilligt worden seien. Das sei die Geldquelle, die Tölcke und Genossen soviel Schmerzen verursachte, und die sie dem Hitzinger, dem König von Hannover, zuschrieben.
Zum Parteiorgan wurde das „Demokratische Wochenblatt“ bestimmt, das nunmehr vom 1. Oktober ab wöchentlich zweimal unter dem Titel „Der Volksstaat“, Organ der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei und der internationalen Gewerkschaftsgenossenschaften, erschien. Als Sitz des Ausschusses wurde Braunschweig-Wolfenbüttel, als Sitz der Kontrollkommission Wien gewählt. Man hatte anfangs die Absicht, Leipzig zum Sitze des Ausschusses zu bestimmen. Ich riet entschieden ab. Unsere Propaganda im Allgemeinen Deutschen Arbeiterverein sei weit leichter, wenn ein Ort wie Braunschweig Sitz der Parteileitung werde, woselbst ausschließlich frühere Mitglieder des Allgemeinen Deutschen Arbeitervereins in Frage kämen. Unser Einfluß in der neuen Partei bleibe uns gesichert, wir würden uns mit dem Ausschuß zu stellen wissen. So geschah es. Als nächster Kongreßort wurde Stuttgart bestimmt. Die Vertretung auf dem Kongreß der Internationale, der Anfang September in Basel stattfand, wurde Liebknecht übertragen, dem sich später Spier-Wolfenbüttel als Delegierter des Ausschusses anschloß.
Der glänzende Verlauf des Kongresses hatte im Schweitzerschen Lager einen sehr unangenehmen Eindruck erzeugt. Nachdem wir die nach Eisenach entsandten Delegierten Schweitzers von unserem Kongreß ausgeschlossen hatten, tagten diese im „Schiff“, woselbst sie eine Reihe Resolutionen gegen uns faßten. So lautete eine derselben, die sich gegen Liebknecht und mich persönlich richtete: „In Erwägung der gehörten Tatsachen beschließt der Kongreß, daß die Herren Liebknecht und Bebel unwürdig sind, daß der Kongreß sich weiter mit ihnen befaßt.“ Tölcke veröffentlichte im „Sozialdemokrat“ vom 15. August einen „Aufruf an die Parteigenossen“, der mit den Worten begann: „Der Kongreß zu Eisenach ist vorüber. Mit Stolz und mit voller Zuversicht auf die Zukunft der Partei können wir auf den Verlauf und das Resultat desselben zurückblicken.“
Nach dem Schlusse des Kongresses hielt der Verband der deutschen Arbeitervereine seinen Vereinstag ab. Zum Vorsitzenden wurde ich, Bürger-Göppingen zum Stellvertreter, Motteler zum Schriftführer gewählt. Crimmitschau erhielt den Auftrag, die Geschäftsführung des Vorortes zu prüfen und im Parteiorgan Bericht zu erstatten. Aus dem von mir erstatteten Bericht ging hervor, daß infolge der Spaltung in Nürnberg der Verband auf 72 Vereine gesunken war, daß im Laufe des Jahres weitere 5 ausschieden, aber 42 Vereine sich neu anschlossen, so daß schließlich zum Verband 109 Vereine mit rund 10000 Mitgliedern gehörten. Die Einnahmen betrugen 470 Taler, die Ausgaben 457 Taler, der Revolutionsfonds hatte 934 Taler gesteuert, von denen 800 Taler für Unterstützung des „Demokratischen Wochenblatts“ und für Agitation ausgegeben worden waren. Alsdann beschloß die Versammlung einstimmig die Auslösung des Verbandes nach sechsjährigem Bestehen und Anschluß an die Sozialdemokratische Arbeiterpartei. Der vorhandene Kassenbestand wurde der letzteren überwiesen, das vorhandene Inventar (Akten, Briefe, Protokolle) wurde mir zur Aufbewahrung überlassen. Nach einem warmen Danke an den Vorortsvorstand für dessen Mühewaltung trennte man sich mit dem Wunsche auf Wiedersehen in Stuttgart.
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