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Sigmund Freud
Über Psychoanalyse: Fünf Vorlesungen

I

Meine Damen und Herren! Es ist mir ein neuartiges und verwirrendes Gefühl, als Vortragender vor Wißbegierigen der Neuen Welt zu stehen. Ich nehme an, daß ich diese Ehre nur der Verknüpfung meines Namens mit dem Thema der Psychoanalyse verdanke, und beabsichtige daher, Ihnen von Psychoanalyse zu sprechen. Ich will es versuchen, Ihnen in gedrängtester Kürze einen Überblick über die Geschichte der Entstehung und weiteren Fortbildung dieser neuen Untersuchungs- und Heilmethode zu geben.

Wenn es ein Verdienst ist, die Psychoanalyse ins Leben gerufen zu haben, so ist es nicht mein Verdienst. Ich bin an den ersten Anfängen derselben nicht beteiligt gewesen. Ich war Student und mit der Ablegung meiner letzten Prüfungen beschäftigt, als ein anderer Wiener Arzt, Dr. Josef Breuer,1 dieses Verfahren zuerst an einem hysterisch erkrankten Mädchen anwendete (1880-1882). Mit dieser Kranken- und Behandlungsgeschichte wollen wir uns nun zunächst beschäftigen. Sie finden dieselbe ausführlich dargestellt in den später von Breuer und mir veröffentlichten »Studien über Hysterie«.2

Vorher nur noch eine Bemerkung. Ich habe nicht ohne Befriedigung erfahren, daß die Mehrzahl meiner Zuhörer nicht dem ärztlichen Stande angehört. Besorgen Sie nun nicht, daß es besonderer ärztlicher Vorbildung bedarf, um meinen Mitteilungen zu folgen. Wir werden allerdings ein Stück weit mit den Ärzten gehen, aber bald werden wir uns absondern und Dr. Breuer auf einen ganz eigenartigen Weg begleiten.

Dr. Breuers Patientin, ein 21jähriges, geistig hochbegabtes Mädchen, entwickelte im Verlaufe ihrer über zwei Jahre ausgedehnten Krankheit eine Reihe von körperlichen und seelischen Störungen, die es wohl verdienten, ernst genommen zu werden. Sie hatte eine steife Lähmung der beiden rechtsseitigen Extremitäten mit Unempfindlichkeit derselben, zeitweise dieselbe Affektion an den Gliedern der linken Körperseite, Störungen der Augenbewegungen und mannigfache Beeinträchtigungen des Sehvermögens, Schwierigkeiten der Kopfhaltung, eine intensive Tussis nervosa, Ekel vor Nahrungsaufnahme und einmal durch mehrere Wochen eine Unfähigkeit zu trinken trotz quälenden Durstes, eine Herabsetzung des Sprachvermögens, die bis zum Verlust der Fähigkeit fortschritt, ihre Muttersprache zu sprechen oder zu verstehen, endlich Zustände von Abwesenheit, Verworrenheit, Delirien, Alteration ihrer ganzen Persönlichkeit, denen wir unsere Aufmerksamkeit später werden zuwenden müssen.

Wenn Sie von einem solchen Krankheitsbilde hören, so werden Sie, auch ohne Ärzte zu sein, der Annahme zuneigen, daß es sich um ein schweres Leiden, wahrscheinlich des Gehirns, handle, welches wenig Aussicht auf Herstellung biete und zur baldigen Auflösung der Kranken führen dürfte. Lassen Sie sich indes von den Ärzten belehren, daß für eine Reihe von Fällen mit so schweren Erscheinungen eine andere und weitaus günstigere Auffassung berechtigter ist. Wenn ein solches Krankheitsbild bei einem jugendlichen weiblichen Individuum auftritt, dessen lebenswichtige innere Organe (Herz, Niere) sich der objektiven Untersuchung normal erweisen, das aber heftige gemütliche Erschütterungen erfahren hat, und wenn die einzelnen Symptome in gewissen feineren Charakteren von der Erwartung abweichen, dann nehmen die Ärzte einen solchen Fall nicht zu schwer. Sie behaupten, daß dann nicht ein organisches Leiden des Gehirns vorliegt, sondern jener rätselhafte, seit den Zeiten der griechischen Medizin Hysterie benannte Zustand, der eine ganze Anzahl von Bildern ernster Erkrankung vorzutäuschen vermöge. Sie halten dann das Leben für nicht bedroht und eine selbst vollkommene Herstellung der Gesundheit für wahrscheinlich. Die Unterscheidung einer solchen Hysterie von einem schweren organischen Leiden ist nicht immer sehr leicht. Wir brauchen aber nicht zu wissen, wie eine Differentialdiagnose dieser Art gemacht wird; uns mag die Versicherung genügen, daß gerade der Fall von Breuers Patientin ein solcher ist, bei dem kein kundiger Arzt die Diagnose der Hysterie verfehlen wird. Wir können auch an dieser Stelle aus dem Krankheitsbericht nachtragen, daß ihre Erkrankung auftrat, während sie ihren zärtlich geliebten Vater in seiner schweren, zum Tode führenden Krankheit pflegte, und daß sie infolge ihrer eigenen Erkrankung von der Pflege zurücktreten mußte.

Soweit hat es uns Vorteil gebracht, mit den Ärzten zu gehen, und nun werden wir uns bald von ihnen trennen. Sie dürfen nämlich nicht erwarten, daß die Aussicht eines Kranken auf ärztliche Hilfeleistung dadurch wesentlich gesteigert wird, daß die Diagnose der Hysterie an die Stelle des Urteils auf ernste organische Hirnaffektion tritt. Gegen die schweren Erkrankungen des Gehirns ist die ärztliche Kunst in den meisten Fällen ohnmächtig, aber auch gegen die hysterische Affektion weiß der Arzt nichts zu tun. Er muß es der gütigen Natur überlassen, wann und wie sie seine hoffnungsvolle Prognose verwirklichen will.3

Mit der Erkennung der Hysterie wird also für den Kranken wenig geändert; desto mehr ändert sich für den Arzt. Wir können beobachten, daß er sich gegen den hysterischen ganz anders einstellt als gegen den organisch Kranken. Er will dem ersteren nicht dieselbe Teilnahme entgegenbringen wie dem letzteren, da sein Leiden weit weniger ernsthaft ist und doch den Anspruch zu erheben scheint, für ebenso ernsthaft zu gelten. Aber es wirkt noch anderes mit. Der Arzt, der durch sein Studium so vieles kennen gelernt hat, was dem Laien verschlossen ist, hat sich von den Krankheitsursachen und Krankheitsveränderungen, z. B. im Gehirn eines an Apoplexie oder Neubildung Leidenden Vorstellungen bilden können, die bis zu einem gewissen Grade zutreffend sein müssen, da sie ihm das Verständnis der Einzelheiten des Krankheitsbildes gestatten. Vor den Details der hysterischen Phänomene läßt ihn aber all sein Wissen, seine anatomisch-physiologische und pathologische Vorbildung im Stiche. Er kann die Hysterie nicht verstehen, er steht ihr selbst wie ein Laie gegenüber. Und das ist nun niemandem recht, der sonst auf sein Wissen so große Stücke hält. Die Hysterischen gehen also seiner Sympathie verlustig; er betrachtet sie wie Personen, welche die Gesetze seiner Wissenschaft übertreten, wie die Rechtgläubigen die Ketzer ansehen; er traut ihnen alles mögliche Böse zu, beschuldigt sie der Übertreibung und der absichtlichen Täuschung, Simulation; und er bestraft sie durch die Entziehung seines Interesses.

Diesen Vorwurf hat nun Dr. Breuer bei seiner Patientin nicht verdient; er schenkte ihr Sympathie und Interesse, obwohl er ihr anfangs nicht zu helfen verstand. Wahrscheinlich erleichterte sie es ihm auch durch die vorzüglichen Geistes- und Charaktereigenschaften, für die er in der von ihm abgefaßten Krankengeschichte Zeugnis ablegt. Seine liebevolle Beobachtung fand auch bald den Weg, der die erste Hilfeleistung ermöglichte.

Es war bemerkt worden, daß die Kranke in ihren Zuständen von Absenz, psychischer Alteration mit Verworrenheit, einige Worte vor sich hin zu murmeln pflegte, welche den Eindruck machten, als stammten sie aus einem Zusammenhange, der ihr Denken beschäftige. Der Arzt, der sich diese Worte berichten ließ, versetzte sie nun in eine Art von Hypnose und sagte ihr jedesmal diese Worte wieder vor, um sie zu veranlassen, daß sie an dieselben anknüpfe. Die Kranke ging darauf ein und reproduzierte so vor dem Arzt die psychischen Schöpfungen, die sie während der Absenzen beherrscht und sich in jenen vereinzelt geäußerten Worten verraten hatten. Es waren tieftraurige, oft poetisch schöne Phantasien, Tagträume würden wir sagen, die gewöhnlich die Situation eines Mädchens am Krankenbett seines Vaters zum Ausgangspunkt nahmen. Hatte sie eine Anzahl solcher Phantasien erzählt, so war sie wie befreit und ins normale seelische Leben zurückgeführt. Das Wohlbefinden, das durch mehrere Stunden anhielt, wich dann am nächsten Tage einer neuerlichen Absenz, welche auf dieselbe Weise durch Aussprechen der neu gebildeten Phantasien aufgehoben wurde. Man konnte sich dem Eindrucke nicht entziehen, daß die psychische Veränderung, die sich in den Absenzen äußerte, eine Folge des Reizes sei, der von diesen höchst affektvollen Phantasiebildungen ausging. Die Patientin selbst, die um diese Zeit ihres Krankseins merkwürdigerweise nur Englisch sprach und verstand, gab dieser neuartigen Behandlung den Namen »talking cure« oder bezeichnete sie scherzhaft als »chimney sweeping«.

Es ergab sich bald wie zufällig, daß man durch solches Reinfegen der Seele noch mehr erreichen könne als vorübergehende Beseitigung der immer wiederkehrenden seelischen Trübungen. Es ließen sich auch Leidenssymptome zum Verschwinden bringen, wenn in der Hypnose unter Affektäußerung erinnert wurde, bei welchem Anlaß und kraft welches Zusammenhanges diese Symptome zuerst aufgetreten waren. »Es war im Sommer eine Zeit intensiver Hitze gewesen und Patientin hatte sehr arg durch Durst gelitten; denn, ohne einen Grund angeben zu können, war ihr plötzlich unmöglich geworden, zu trinken. Sie nahm das ersehnte Glas Wasser in die Hand, aber sowie es die Lippen berührte, stieß sie es weg wie ein Hydrophobischer. Dabei war sie offenbar für diese paar Sekunden in einer Absenz. Sie lebte nur von Obst, Melonen u. dgl., um den qualvollen Durst zu mildem. Als das etwa sechs Wochen gedauert hatte, räsonierte sie einmal in der Hypnose über ihre englische Gesellschafterin, die sie nicht liebte, und erzählte dann mit allen Zeichen des Abscheus, wie sie auf deren Zimmer gekommen sei, und da deren kleiner Hund, das ekelhafte Tier, aus einem Glas getrunken habe. Sie habe nichts gesagt, denn sie wollte höflich sein. Nachdem sie ihrem steckengebliebenen Ärger noch energisch Ausdruck gegeben, verlangte sie zu trinken, trank ohne Hemmung eine große Menge Wasser und erwachte aus der Hypnose mit dem Glas an den Lippen. Die Störung war damit für immer verschwunden.«4Gestatten Sie, daß ich Sie bei dieser Erfahrung einen Moment aufhalte! Niemand hatte noch ein hysterisches Symptom durch solche Mittel beseitigt und war dabei so tief in das Verständnis seiner Verursachung eingedrungen. Es mußte eine folgenschwere Entdeckung werden, wenn sich die Erwartung bestätigen ließ, daß noch andere, daß vielleicht die Mehrzahl der Symptome bei der Kranken auf solche Weise entstanden und auf solche Weise aufzuheben war. Breuer scheute die Mühe nicht, sich davon zu überzeugen, und forschte nun planmäßig der Pathogenese der anderen und ernsteren Leidenssymptome nach. Es war wirklich so; fast alle Symptome waren so entstanden als Reste, als Niederschläge, wenn Sie wollen, von affektvollen Erlebnissen, die wir darum später »psychische Traumen« genannt haben, und ihre Besonderheit klärte sich durch die Beziehung zu der sie verursachenden traumatischen Szene auf. Sie waren, wie das Kunstwort lautet, durch die Szenen, deren Gedächtnisreste sie darstellten, determiniert, brauchten nicht mehr als willkürliche oder rätselhafte Leistungen der Neurose beschrieben zu werden. Nur einer Abweichung von der Erwartung sei gedacht. Es war nicht immer ein einziges Erlebnis, welches das Symptom zurückließ, sondern meist waren zahlreiche, oft sehr viele ähnliche, wiederholte Traumen zu dieser Wirkung zusammengetreten. Diese ganze Kette von pathogenen Erinnerungen mußte dann in chronologischer Reihenfolge reproduziert werden, und zwar umgekehrt, die letzte zuerst und die erste zuletzt, und es war ganz unmöglich, zum ersten und oft wirksamsten Trauma mit Überspringung der später erfolgten vorzudringen.Sie werden nun gewiß noch andere Beispiele von Verursachung hysterischer Symptome als das der Wasserscheu durch den Ekel vor dem aus dem Glas trinkenden Hund von mir hören wollen. Ich muß mich aber, wenn ich mein Programm einhalten will, auf sehr wenige Proben beschränken. So erzählt Breuer, daß ihre Sehstörungen sich auf Anlässe zurückführten »in der Art, daß Patientin mit Tränen im Auge, am Krankenbett sitzend, plötzlich vom Vater gefragt wurde, wieviel Uhr es sei, undeutlich sah, sich anstrengte, die Uhr nahe ans Auge brachte und nun das Zifferblatt sehr groß erschien (Makropsie und Strabismus conv.); oder Anstrengungen machte, die Tränen zu unterdrücken, damit sie der Kranke nicht sehe«.5

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