Wir setzten uns in die Runde, und unser alter Freund Alexander Wassiliewitsch Riedel (trotz seines deutschen Familiennamens ein echter Russe) begann:
»Ich will Ihnen, meine Herren, etwas erzählen, was mir in den dreißiger Jahren begegnet ist . . . es sind, wie Sie sehen, bereits vierzig Jahre seitdem verflossen. – Ich werde kurz sein; unterbrechen Sie mich aber nicht.«
Ich wohnte damals in Petersburg und hatte eben die Universität verlassen. Mein Bruder diente als Seconde-Lieutenant bei der reitenden Garde-Artillerie. Seine Batterie war jenen Sommer in Krasnoe Selo einquartirt. Mein Bruder war eigentlich nicht in Krasnoe selbst, sondern in einem der benachbarten Dörfchen in Quartier; ich besuchte ihn häufig und wurde mit seinen sämmtlichen Cameraden bekannt. Er wohnte in einem ziemlich reinlichen Bauernhause mit einem anderen Officier seiner Batterie. Dieser Officier hieß Tegleff Ilia Stepanitsch. – Mit diesem namentlich wurde ich befreundet.
Marlinski ist veraltet – Niemand liest ihn – man zieht selbst über seinen Namen her; aber in den dreißiger Jahren war er berühmt wie kein Anderer, und Puschkin selbst konnte nach dem Urtheil der damaligen Jugend sich nicht mit ihm vergleichen. Er genoß nicht bloß den Ruhm, der erste russische Schriftsteller zu sein, sondern er hatte selbst – was viel schwieriger und seltener ist – bis zu einem gewissen Grade der Jugend seiner Zeit seinen Stempel aufgedrückt. Helden à la Marlinski begegnete man überall, namentlich in der Provinz und unter Linien- und Artillerie–Officieren besonders; sie sprachen, sie schrieben seine Sprache; sie waren in der Gesellschaft düster, zurückhaltend – »mit dem Sturm in der Seele und dem Feuer im Blute«, wie der Lieutenant Belosor der Fregatte Nadesda.1 Frauenherzen wurden von ihnen »verschlungen«. Man nannte sie die »Fatalisten«.
Dieser Typus hielt sich lange, bis ihn Petschorin von Lermontoff verdrängte. Was war nicht Alles in diesem Typus enthalten? Byronismus, Romantik, Erinnerungen an die französische Revolution, an unsere December-Revolution2 – und Napoleoncultus; der Glaube an das Schicksal, an den Stern, an die Macht des Charakters, Poesie und Phrase – und das schmerzhafte Bewußtsein der eigenen Leere; wirkliche Kraft und Kühnheit – und unruhige Aufregungen der kleinlichen Eigenliebe; edle Bestrebungen – und mangelhafte Erziehung, Unwissenheit; aristokratische Ansprüche – und zur Schautragen von Kindereien . . . Doch genug kritisirt, ich habe zu erzählen versprochen.
Der Seconde-Lieutenant Tegleff gehörte zu diesen »Fatalisten«, obgleich er nicht die Aeußerlichkeit besaß, die man solchen Persönlichkeiten zuzuschreiben gewohnt ist. Er war von Mittelwuchs, ziemlich stark; etwas gebeugt, blond, hatte noch hellere Augenwimpern, ein rundes, frisches, rothwangiges Gesicht, eine aufgestülpte Nase, eine niedrige, an den Schläfen behaarte Stirn, und starke, regelmäßige, stets unbewegte Lippen; er lachte weder, noch lächelte er je. Nur selten, wenn er müde und außer Athem war, ließ er viereckige Zähne, weiß wie Zucker, sehen. Eine erkünstelte Unbeweglichkeit lag auf allen seinen Gesichtszügen: wenn man jene wegdachte, so würden sie selbst gutmüthig ausgesehen haben. Außergewöhnlich in seinem ganzen Gesicht waren nur die Augen; sie waren klein, mit grünen Augensternen und gelben Augenwimpern; das rechte Auge lag ein wenig höher als das linke, und das Augenlid des linken Auges hob sich weniger als das des rechten; so blickte jedes Auge anders als das andere, und sie erhielten dadurch einen schläfrigen und wunderlichen Ausdruck. Die Physiognomie Tegleffs, die übrigens nicht jeder Anmuth entbehrte, drückte beständig Unzufriedenheit vereint mit Unentschlossenheit aus; es war, als ob er stets bei sich selbst einen Gedanken verfolgte, den zu fassen ihm nie gelingen wollte. Bei diesen Eigenschaften machte er doch nicht den Eindruck eines stolzen Menschen: man konnte ihn eher für einen gekränkten halten. Er sprach nur wenig und das abgebrochen, mit rauher Stimme, ohne Nothwendigkeit die Worte wiederholend. Im Gegensatze zu den meisten Fatalisten gebrauchte er im Gespräche keine besonders geschraubten Ausdrücke – und wandte dieselben nur beim Schreiben an; er hatte eine gänzlich kindische Handschrift. Die Vorgesetzten hielten ihn für einen Officier – »so – so«, weder besonders fähig, noch besonders diensteifrig. »Pünktlichkeit zeigt er, aber keine Accuratesse,« sagte von ihm sein Brigade-General von dentschem Ursprung. Auch für die Soldaten war Tegleff . . . »so- so«, weder Fisch noch Fleisch. Er lebte, nach Maßgabe seiner Mittel, eingeschränkt. Neun Jahre alt wurde er eine Waise; seine Eltern erkranken in einem Frühjahr, als sie während des Hochwassers der Oka3 in einer Fähre übersetzten.– Seine Erziehung erhielt er in einer Privatschule, wo er zu den dickköpfigsten und stillsten Schülern gehörte; dann trat er nach seinem eigenen theuersten Wunsch, und auf die Empfehlung eines Onkels, der eines gewissen Ansehens genoß, als Junker in die Garde-Artillerie zu Pferd ein und bestand, wenn auch mit Mühe, erst das Fähnrich- dann das Lieutenant-Examen. Mit den andern Officieren stand er auf gespannten Fuße. Man liebte ihn nicht, besuchte ihn nur selten – er selbst ging auch zu Niemandem. Die Gegenwart von Menschen beengte ihn, er wurde sofort unnatürlich, ungeschickt . . . er hatte nichts Cameradschaftliches – er dutzte sich mit Niemandem. Man achtete ihn auch – nicht etwa wegen – seines Charakters oder seines Verstandes und Bildung – sondern nur deshalb, weil man in ihm jenen besonderen Stempel, durch den die »Fatalisten« gezeichnet waren, anerkannte. Daß Tegleff Carrière machen, sich in irgend Etwas auszeichnen werde – das erwartete Niemand von ihm – aber daß Tegleff einen Ungewöhnlichen Streich spielen, oder gar »mit einem Male ein Napoleon werden könne« – das hielt man nicht für unmöglich. Denn im Letzteren wirkt »der Stern« – er aber ist ein Mensch mit »Vorbestimmung« – wie es ja damals auch Leute »wir dem Seufzer« Und »mit der Thräne« gab.
Zwei Vorfälle, die den ersten Anfang seines Officiersdienstes bezeichneten, trugen viel dazu bei, seinen fatalistischen Ruf zu erhöhen. Am Tage seiner Beförderung selbst ging er in Gesellschaft anderer neugeschaffener Officiere in voller Parade-Uniform den Granitquai der Newa entlang. Es war Mitte März und in Petersburg früher als gewöhnlich Frühling geworden, die Newa offen; die großen Eisblöcke waren bereits vorbei, doch der ganze Fluß noch mit kleinen, dicht an einander gedrängten, schon wässerigen Eisschollen bedeckt, die man Schlammeis nennt. Die jungen Leute sprachen mit einander, lachten . . . plötzlich blieb Einer von ihnen stehen: er erblickte auf der sich langsam bewegenden Oberfläche des Flusses, etwa dreißig Schritte vom Ufer entfernt, einen kleinen Hund. Auf einer herausragenden Eisscholle sitzend, zitterte er mit dem ganzen Körper und winselte. »Er geht unter,« sagte der Officier gleichgültig. Der Hund wurde an einer der zum Wasser führenden Treppen am Quai langsam vorbeigetrieben. Plötzlich lief Tegleff, ohne ein Wort zu sprechen, die Treppe hinunter – und auf dem dünnen Schlammeis herumspringend, durchbrechend und sich wieder hervorarbeitend, erreichte er endlich den Hund, ergriff ihn beim Genick und warf ihn, als er glücklich das Ufer wiedererreicht, auf das Pflaster. Die Gefahr, der Tegleff sich ausgesetzt, war so groß, seine Handlung so unerwartet, daß seine Cameraden wie versteinert dastanden – und erst dann gleichzeitig wieder zu Worte kamen, als Tegleff eine Droschke gerufen hatte, um nach Hause zu fahren; seine ganze Uniform war durch und durch naß. Auf ihre Ausrufe antwortete Tegleff kalt, daß man seiner Bestimmung nicht entrinnen könne – und hieß den Kutscher fahren.
»Nimm doch wenigstens den Hund zum Andenken mit,« rief einer der Officiere; aber Tegleff machte nur eine abwehrende Bewegung mit der Hand – seine Canceraden blickten einander an in schweigendem Erstaunen.
Der andere Vorfall ereignete sich einige Tage darauf, bei einer Spielpartie, die der Bauern-Chef arrangirt hatte. Tegleff saß in einer Ecke und nahm keinen Antheil am Spiele.
»Hätte mir doch meine Großmutter, wie in Puschkins Roman Pickdame, gesagt, welche Karten gewinnen müssen!« rief ein Fähndrich, der bereits das dritte Tausend verlor. Tegleff kam langsam an den Tisch heran, nahm ein Spiel Karten; hob ab, und wandte, nachdem er »Carreau sechs« gesagt, das Spiel um: unten lag Carreau sechs. – »Treff Aß!« rief er wieder, hob ab – — unten lag Treff Aß . . . »Carreau König!« rief er zum dritten Male, die Worte leidenschaftlich durch die Zähne drängend – und er hatte zum dritten Mal gerathen . . . er wurde plötzlich roth. Wahrscheinlich war er selbst überrascht.
»Ein prachtvolles Kunststück! Machen Sie es noch ein Mal, bitte!« bemerkte der Batterie-Chef.
»Ich beschäftige mich nicht mit Kunststücken,« antwortete trocken Tegleff – und ging in das andere Zimmer. Wie es gekommen, daß er die abgehobene Karte errathen . . . will ich nicht zu erklären unternehmen: doch habe ich es mit eigenen Augen gesehen. Nach ihm versuchten mehrere der anwesenden Spieler dasselbe zu machen – doch gelang es Niemandem: eine Karte traf zu, doch zwei nacheinander nie, Tegleff aber war es bei dreien gelungen. Dieser Vorfall bekräftigte noch mehr seinen Ruf als den eines geheimnißvollen, fatalistischen Menschen.
Es ist begreiflich, daß sich Tegleff sofort dieses Rufes bemächtigte; verlieh er ihm doch eine besondere Bedeutung, eine besondere Färbung . . . »Cela le posait,« wie sich die Franzosen ausdrücken – und bei seinem geringen Verstande, seinen geringen Kenntnissen und seinem ungeheuren Ehrgeiz – war ein solcher Ruf für ihn wie gefunden. Es fiel schwer, ihn zu erlangen, doch ihn zu erhalten, kostete nichts: man brauchte nur zu schweigen und den Wilden zu spielen.
Wenn ich mich Tegleff näherte und ihn sogar liebgewann, so geschah es nicht etwa, weil mich sein Ruf angezogen hätte; ich schloß mich an ihn an, weil ich erstens selbst ziemlich verwildert war und in ihm daher einen Leidensgefährten sah; und zweitens deshalb, weil er ein guter, und im Grunde genommen, selbst ein offenherziger Mensch war. Er weckte bei mir eine Art von Mitgefühl; es schien mir, als ob, abgesehen von seinem angenommenen Fatalismus, auf ihm wirklich ein tragisches Schicksal laste, das er selbst nicht ahnte. Von diesem Gefühle offenbarte ich ihm allerdings Nichts. Mitleid einflößen – kann es denn etwas Beleidigenderes für einen »Fatalisten« geben? – Auch Tegleff war mir zugethan: er fühlte sich leicht mit mir, er unterhielt sich gern mit mir – er wagte selbst in meiner Gegenwart die Art von Piedestal, auf das er halb herabgefallen, halb heraufgeklettert war, blicken zu lassen. Peinlich, kränklich, ehrgeizig wie er war, mochte er in seinem Innern sich wahrscheinlich doch gestehen, daß er durch Nichts diesem Ehrgeiz entsprechen könne und daß Andere vielleicht auf ihn von ihrer Höhe herab zu sehen berechtigt seien . . . doch ich, ein neunzehnjähriger Junge, konnte ihm nicht unbequem werden. Er verfiel manchmal selbst in Schwatzhaftigkeit und er konnte dem Schöpfer danken, daß Niemand außer mir seine Reden hörte! Sein Ruf hätte sich sonst nicht lange halten können. Er wußte nur sehr wenig, hatte beinahe gar Nichts gelesen – und beschränkte sich darauf, daß er entsprechende Anekdoten und Geschichten sammelte. Er glaubte an Vorahnungen, an Voraussagungen, an Anzeichen, an Zusammentreffen, an glückliche und unglückliche Tage, an die Verfolgung oder Gunst des Schicksals, mit einem Worte an das Verhängniß im Leben.
Er glaubte selbst an gewisse »klimacterische« Jahre, deren Jemand in seiner Gegenwart erwähnt hatte und deren Bedeutung er gar nicht verstand. Fatalisten von echtem Schlage dürfen solchen Glauben nicht verrathen: sie müssen denselben bei Anderen erwecken . . . Doch ich allein kannte Tegleff von dieser Seite.
Einst, es war gerade, wie ich mich entsinne, der Tag des heiligen Elias, der 20. Juli, war ich auf längere Zeit auf Besuch bei meinem Bruder gefahren, traf ihn aber nicht an, da er auf eine ganze Woche »irgendwohin abcommandirt war. Nach Petersburg zurückkehren wollte ich nicht; ich trieb mich den ganzen Tag mit der Flinte zwischen den in der Nähe befindlichen Morasten herum, erlegte ein Paar Bekassinen und brachte den Abend mit Tegleff unter dem überragenden Dache eines Stalles zu, in dem er, wie er sich ausdrückte, seine Sommerresidenz aufgeschlagen hatte. Wir redeten über Dies und Das, doch hauptsächlich tranken wir Thee, tauchten unsere Pfeifen und sprachen bald mit unserem Wirth, einem russificirten Finnen, bald mit einem bei der Batterie sich herumtreibenden, mit Apfelsinen und Citronen handelnden Hausirer, einem gutmüthigen und gesprächigen Menschen, der neben anderen auch das Talent besaß, auf der Zither zu spielen – und der uns gerade mit der unglücklichen Liebschaft, die er in seiner Jugend mit der Tochter eines Gerichtsboten hatte, unterhielt.
Dieser Don Juan im Bauernhemde konnte, als er älter geworden, kein Unglück in der Liebe mehr. Vor dem Thore unseres Stalles breitete sich, sich allmälig senkend, eine weite Landfläche aus; ein kleines Flüßchen erglänzte hie und da an den Biegungen der Tiefe; weiter am Horizonte sah man niedrige Wälder. Die Nacht brach an und wir blieben allein. Mit der Nacht zugleich senkte feuchter Dampf sich aus die Erde nieder, welcher immer weiter und weiter sich ausbreitend endlich zum dichten Nebel wurde. Am Himmel ging der Mond aus; der Nebel wurde von feinem Lichte ganz durchdrungen und erschien wie vergoldet. Alles veränderte sich sonderbar, umhüllte sich, verschwamm; das Entfernte schien nah, das Nahe entfernt, das Große klein, das Kleine groß Alles wurde licht und doch dabei undeutlich. Wir waren in’s Märchenland versetzt, in ein Reich der tiefen Stille, des sanften Schlummers, des blaß-goldenen Dunkels . . . Wie geheimnißvoll blinkten von oben, silbernen Funken gleich, die Sterne herab! Wir schwiegen. Das phantastische Gewand dieser Nacht wirkte aus uns – es stimmte auch uns phantastisch !
Tegleff fing zuerst mit seinem gewöhnlichen Stocken, Ausetzen, Wiederholen, über Vorahnungen . . . Gespenster zu sprechen an. Während einer solchen Nacht erblickte angeblich ein ihm bekannter Student, der eben Hauslehrer bei zwei Waisen geworden, und mit denselben in einem Gartenhäuschen schlief, eine weibliche Gestalt, die sich über das Bett seiner Zöglinge neigte und erkannte am nächsten Tage diese Gestalt in einem bis dahin von ihm unbemerkt gebliebenen Gemälde als die Mutter der Waisen. Darauf erzählte er, daß seine Eltern, einige Wochen vor ihrem Tode, beständig das Rauschen des Wassers zu hören glaubten; daß sein Großvater in der Schlacht von Borodino sich nur dadurch rettete, daß er, auf der Erde ein gewöhnliches Steinchen bemerkend, sich danach bückte und es aufhob; in demselben Augenblick sei über seinen Kopf eine Kartätschenkugel geflogen und habe seinen hohen schwarzen Federbusch fortgerissen. Tegleff versprach mir, diesen Stein, der seinen Großvater gerettet, und von ihm in ein Medaillon gefaßt bewahrt wurde, zu zeigen. Dann erging er sich über die jedem Menschen zuertheilte Vorbestimmung, und namentlich über die seinige, und fügte hinzu, daß er bis jetzt an dieselbe glaube, und daß, wenn je in ihm Zweifel in dieser Hinsicht entstehen sollten, er mit ihnen und dem Leben fertig zu werden wissen werde, denn dann würde das Dasein jeden Werth für ihn verlieren.
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На этой странице вы можете прочитать онлайн книгу «Der Fatalist», автора Ивана Тургенева. Данная книга относится к жанру «Русская классика».. Книга «Der Fatalist» была издана в 2019 году. Приятного чтения!
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