Wer einmal Gelegenheit hatte, aus dem Bolchowschen Kreise in den Shisdrinschen zu kommen, dem ist wohl sicher der scharfe Unterschied zwischen dem Menschenschlag im Orjolschen Gouvernement und dem Kalugaschen aufgefallen. Der Orjolsche Bauer ist klein von Wuchs, untersetzt, mürrisch, blickt unfreundlich, lebt in elenden Hütten aus Espenholz, tut den Frondienst, treibt keinen Handel, nährt sich schlecht und trägt Bastschuhe; der Kalugasche Zinsbauer wohnt in geräumigen Häusern aus Fichtenbalken, ist groß gewachsen, blickt verwegen und lustig, hat eine reine und weiße Gesichtsfarbe, handelt mit Öl und Teer und trägt an Feiertagen Stiefel. Das Orjolsche Dorf (wir meinen den östlichen Teil des Orjolschen Gouvernements) liegt gewöhnlich mitten im Ackerland, in der Nähe einer Vertiefung, die man mit den dürftigsten Mitteln in einen schmutzigen Teich verwandelt hat. Außer einigen, stets dienstbereiten Bachweiden und zwei oder drei mageren Birken sieht man auf eine Werst weit keinen einzigen Baum; Hütte klebt an Hütte, die Dächer sind mit faulem Stroh gedeckt . . . Ein Dorf im Kalugaschen Gouvernement ist hingegen meistens von Wald umgeben; die Hütten stehen freier und gerader da und sind mit Schindeln gedeckt; die Tore schließen fest, die Zäune hinter dem Hofe sind nicht zerstört, fallen nicht nach außen um und laden nicht jedes vorbeigehende Schwein ein . . . Auch der Jäger hat es im Kalugaschen Gouvernement besser. Im Orjolschen Gouvernement werden die letzten Wälder und PlätzePlätze nennt man im Orjolschen Gouvernement große, zusammenhängende Gesträuchmassen; die Sprache der Orjolschen Bauern zeichnet sich überhaupt durch eine Menge origineller, manchmal sehr treffender, manchmal auch recht häßlicher Worte und Wendungen aus. (Anmerkung Turgenjews) in vielleicht fünf Jahren verschwinden, von Sümpfen gibt es aber keine Spur. Im Kalugaschen Gouvernement dagegen ziehen sich die Gehege Hunderte und die Sümpfe Dutzende von Werst hin, und das edle Federwild, das Birkhuhn, ist hier noch nicht ausgerottet; es gibt auch noch gutmütige Doppelschnepfen, und das geschäftige Rebhuhn erfreut und erschreckt durch sein plötzliches Aufschwirren den Jäger und den Hund.
Als ich zur Jagd in den Shisdrinschen Kreis kam, lernte ich im Feld einen kleinen Kalugaschen Gutsbesitzer namens Polutykin kennen, einen leidenschaftlichen Jäger und folglich vortrefflichen Menschen. Er hatte allerdings einige Schwächen: Er freite zum Beispiel um alle reichen Bräute des Gouvernements; wenn ihm die Hand und das Haus versagt wurden, vertraute er sein Leid zerknirschten Herzens allen seinen Freunden und Bekannten, fuhr aber fort, den Eltern der Bräute saure Pfirsiche und andere unreife Produkte seines Gartens zum Geschenk zu schicken; er liebte es, immer wieder den gleichen Witz zu erzählen, der, wie hoch ihn Herr Polutykin auch schätzte, keinen Menschen zum Lachen brachte; er lobte die Werke Akim Nachimows und die Erzählung Pinna; er stotterte; er nannte seinen Hund Astronom; sagte statt ›aber‹ – ›allein‹ und hatte in seinem Hause die französische Küche eingeführt, deren Geheimnis nach Auffassung seines Koches darin bestand, daß man den natürlichen Geschmack einer jeden Speise auf das radikalste veränderte: Fleisch schmeckte bei diesem Künstler nach Fisch, Fische nach Pilzen, Makkaroni nach Schießpulver; dafür kam bei ihm keine einzige Mohrrübe in die Suppe, ohne vorher die Gestalt eines Rhombus oder eines Trapezes angenommen zu haben. Aber abgesehen von diesen wenigen und unerheblichen Mängeln war Herr Polutykin, wie schon gesagt, ein vortrefflicher Mensch.
Gleich am ersten Tage meiner Bekanntschaft mit Herrn Polutykin lud er mich zum Übernachten ein.
»Bis zu mir sind es an die fünf Werst«, fügte er hinzu. »Zu Fuß ist es zu weit; wollen wir zuerst bei Chorj einkehren.« (Der Leser möge mir erlauben, sein Stottern nicht wiederzugeben.)
»Wer ist Chorj?«
»Einer meiner Bauern . . . Er wohnt ganz nahe von hier . . .«
Wir begaben uns zu ihm. Mitten im Walde erhob sich auf einer ausgerodeten und gepflügten Lichtung, das einsame Gehöft Chorjs. Es bestand aus einigen aus Fichtenbalken gezimmerten, durch Zäune verbundenen Gebäuden; vor dem Hauptgebäude zog sich ein von dünnen Säulchen gestütztes Schutzdach hin. Wir traten ein. Uns empfing ein junger, etwa zwanzigjähriger, hübscher Bursche.
»Ah, Fedja! Ist Chorj daheim?« fragte ihn Herr Polutykin.
»Nein. Chorj ist in die Stadt gefahren«, antwortete der Bursche lächelnd und seine schneeweißen Zähne zeigend. »Befehlen ein Wägelchen anzuspannen?«
»Ja, Bruder, ein Wägelchen. Und bring uns Kwaß.«
Wir traten in die Stube. Kein einziges Susdalsches Bild klebte an den sauberen Balken der Wände; in der Ecke vor dem massiven Heiligenbild mit silbernem Beschlag brannte ein Lämpchen; der Tisch aus Lindenholz war frisch gescheuert und gewaschen; zwischen den Balken und an den Fensterrahmen trieben sich keine flinken Schaben herum und hingen keine nachdenklichen Kakerlaken. Der junge Bursche erschien bald mit einem großen, weißen, mit gutem Kwaß gefüllten Kruge, mit einer riesengroßen Scheibe Weizenbrot und einem Dutzend Salzgurken in einer hölzernen Schüssel. Er stellte alle diese Produkte auf den Tisch, lehnte sich an die Tür und begann uns lächelnd zu betrachten. Wir waren mit dem Imbiß noch nicht fertig, als vor der Tür schon das Wägelchen polterte. Wir gingen hinaus. Ein etwa fünfzehnjähriger, lockiger und rotbäckiger Junge saß als Kutscher da und hatte Mühe, den satten, scheckigen Hengst zu halten. Um den Wagen herum standen an die sechs junge Riesen, die miteinander und mit Fedja große Ähnlichkeit hatten. »Lauter Kinder Chorjs!« bemerkte Polutykiri.
»Lauter Iltisjungen1 !« fiel ihm Fedja ins Wort, der uns vors Haus gefolgt war. »Aber es sind noch nicht alle: Potap ist im Wald, und Sidor ist mit dem alten Chorj in die Stadt gefahren . . . Paß auf, Waßja«, fuhr er fort, sich an den Kutscher wendend. »Fahr schnell, du fährst doch den Herrn. Aber wo der Weg schlecht ist, sollst du langsamer fahren, sonst machst du den Wagen kaputt und bringst auch die Eingeweide des Herrn in Unruhe!«
Die übrigen Iltisjungen lächelten über diesen Witz Fedjas.
»Man setze den Astronomen herein!« rief Herr Polutykin feierlich aus.
Fedja hob nicht ohne Vergnügen den gezwungen lächelnden Hund in die Höhe und setzte ihn auf den Boden des Wagens nieder. Waßja ließ die Zügel locker. Wir rollten davon.
»Das da ist mein Kontor«, sagte mir plötzlich Herr Polutykin, auf ein kleines, niedriges Häuschen weisend, »wollen Sie hineinschauen?«
»Gerne.«
»Es ist jetzt aufgehoben«, bemerkte er, aus dem Wagen steigend, »aber es lohnt sich doch hineinzublicken.«
Das Kontor bestand aus zwei leeren Zimmern. Der Wächter, ein einäugiger Alter, kam vom Hinterhof herbeigelaufen.
»Grüß Gott, Minjajitsch«, versetzte Herr Polutykin. »Wo ist denn das Wasser?«
Der einäugige Alte verschwand und kam sofort mit einer Flasche Wasser und zwei Gläsern wieder.
»Versuchen Sie doch«, sagte mir Polutykin, »ich habe hier ein ausgezeichnetes Quellwasser.«
Wir tranken je ein Glas, während der Alte sich vor uns tief verbeugte.
»Nun, jetzt können wir, glaube ich, fahren«, versetzte mein neuer Freund. »In diesem Kontor habe ich dem Kaufmann Allilyjew vier Deßjatinen Wald um einen guten Preis verkauft.«
Wir setzten uns in den Wagen und fuhren schon nach einer halben Stunde in den Hof des Herrenhauses ein.
»Sagen Sie mir bitte«, fragte ich Polutykin beim Abendessen, »warum wohnt Ihr Chorj getrennt von den anderen Bauern?«
»Sehen Sie, er ist ein gescheiter Kerl. Vor fünfundzwanzig Jahren ist ihm sein Haus abgebrannt; da kam er zu meinem seligen Vater und sagte: ›Erlauben Sie mir, Nikolai Kusmitsch, mich in Ihrem Wald auf dem Sumpfgrund anzusiedeln. Ich werde Ihnen einen guten Zins zahlen!‹ – ›Warum willst du dich denn auf dem Sumpfgrund ansiedeln?‹ – ›Ich möchte es halt; aber bitte, Väterchen Nikolai Kusmitsch, verwenden Sie mich zu keiner anderen Arbeit mehr, legen Sie mir nur einen Zins auf, so hoch Sie wollen.‹ – ›Fünfzig Rubel im Jahr!‹ – ›Gut.‹ – ›Aber daß du pünktlich zahlst, paß auf!‹ – ›Natürlich pünktlich . . .‹ – So siedelte er sich auf dem Sumpfboden an. Seitdem nennt man ihn Chorj.«
»Und da wurde er reich?« fragte ich.
»Ja, er wurde reich. Jetzt zahlt er mir ganze hundert Rubel Zins, und ich werde ihn vielleicht noch steigern. Ich habe ihm schon mehr als einmal gesagt: ›Chorj, kaufe dich los . . .!‹ Aber der Gauner behauptet, er hätte kein Geld . . . Ja, wer’s glaubt . . .!«
Am nächsten Tag begaben wir uns gleich nach dem Morgentee wieder auf die Jagd. Als wir durchs Dorf fuhren, ließ Herr Polutykin seinen Kutscher vor einem niederen Hause halten und rief laut: »Kalinytsch, Kalinytsch!«
»Sofort, Väterchen, sofort«, erklang es vom Hof her; »ich binde mir nur den Bastschuh fest.«
Wir fuhren im Schritt weiter; hinter dem Dorf holte uns ein etwa vierzigjähriger, großgewachsener, hagerer Mann mit einem kleinen, in den Nacken geworfenen Kopf ein. Es war Kalinytsch. Sein gutmütiges, bräunliches, hier und da pockennarbiges Gesicht gefiel mir auf den ersten Blick. Kalinytsch ging (wie ich später erfuhr) jeden Tag mit seinem Herrn auf die Jagd, trug ihm die Tasche, manchmal auch das Gewehr, paßte auf, wo sich das Wild niedersetzte, brachte Wasser, sammelte Erdbeeren, baute Jagdhütten und lief den Jagdwagen holen; ohne ihn tat Herr Polutykin keinen Schritt. Kalinytsch war ein Mann vom heitersten und sanftesten Charakter, summte stets mit halber Stimme vor sich hin, blickte sorglos nach allen Seiten, sprach etwas durch die Nase, kniff beim Lächeln seine hellblauen Augen zusammen und packte oft mit der Hand seinen dünnen, keilförmigen Bart. Er ging nicht schnell, aber mit großen Schritten, und stützte sich dabei auf einen langen, dünnen Stecken. Im Laufe des ganzen Tages sprach er mich kein einziges Mal an, bediente mich ohne Unterwürfigkeit, gab aber auf seinen Herrn acht wie auf ein kleines Kind. Als die unerträgliche Mittagsglut uns zwang, Schutz zu suchen, führte er uns in seinen Bienengarten tief im Waldesdickicht. Kalinytsch sperrte uns die kleine Hütte auf, in der überall Bündel trockener, wohlriechender Gräser hingen, bettete uns in das frische Heu, zog sich eine Art Sack mit einem Netz vorne über den Kopf, nahm ein Messer, einen Topf und eine glimmende Kohle und begab sich in seinen Bienengarten, um uns eine Honigwabe zu schneiden. Wir tranken zu dem durchsichtigen, warmen Honig Quellwasser und schliefen beim eintönigen Summen der Bienen und dem geschwätzigen Rauschen der Blätter ein.
Ein leichter Windstoß weckte mich . . . Ich schlug die Augen auf und erblickte Kalinytsch; er saß auf der Schwelle der halbgeöffneten Tür und schnitzte sich mit dem Messer einen Holzlöffel. Ich bewunderte lange sein Gesicht, das so mild und heiter war wie der Abendhimmel. Auch Herr Polutykin erwachte. Wir standen nicht sogleich auf. Es war so angenehm, nach dem langen Marsch und dem tiefen Schlaf unbeweglich im Heu zu liegen: Der Körper ist so wonnig ermattet, das Gesicht atmet eine leichte Hitze, und eine süße Trägheit schließt die Augen. Endlich standen wir auf und trieben uns wieder bis zum Abendessen umher. Beim Abendessen brachte ich wieder die Rede auf Chorj und Kalinytsch.
»Kalinytsch ist ein guter Bauer«, sagte mir Herr Polutykin, »ein eifriger und dienstfertiger Mann; aber er kann seine Wirtschaft nicht in Ordnung halten, ich reiße ihn immer heraus. Jeden Tag geht er mit mir auf die Jagd . . . Wie soll er da seine Wirtschaft versehen können, urteilen Sie doch selbst.«
Ich stimmte ihm zu, und wir legten uns schlafen.
Am anderen Tag mußte Herr Polutykin wegen eines Prozesses mit seinem Nachbar Pitschukow in die Stadt. Der Nachbar Pitschukow hatte ihm ein Stück Land weggepflügt und auf dieser Stelle auch noch eines von Polutykins Bauernweibern mit Ruten züchtigen lassen. So begab ich mich allein auf die Jagd und kehrte gegen Abend bei Chorj ein. An der Schwelle des Hauses empfing mich ein kahlköpfiger, kleingewachsener, breitschultriger und stämmiger Alter – es war Chorj selbst. Ich sah diesen Chorj mit Neugierde an. Seine Gesichtszüge erinnerten an Sokrates: die gleiche hohe Stirne voller Beulen, die gleichen kleinen Äuglein und die gleiche Stumpfnase. Wir traten zusammen in die Stube. Der gleiche Fedja brachte mir Milch und Schwarzbrot. Chorj setzte sich auf die Bank, strich sich seinen krausen Bart und begann ein Gespräch mit mir. Er schien sich seiner Würde bewußt zu sein, sprach und bewegte sich langsam und lächelte manchmal unter seinem langen Schnurrbart hervor.
Wir sprachen über die Aussaat, über die Ernte, über das ganze Bauernleben. Er tat so, als ob er mir zustimmte, aber ich fühlte mich nachher irgendwie geniert, und ich merkte, daß ich nicht das Richtige sprach . . . Es kam so sonderbar heraus. Chorj drückte sich zuweilen, wohl aus Vorsicht, schwer verständlich aus . . . Hier ist eine Probe unseres Gesprächs:
»Hör mal, Chorj«, sagte ich ihm, »warum kaufst du dich nicht von deinem Herrn frei?«
»Warum soll ich mich freikaufen? Jetzt kenne ich meinen Herrn und weiß, was ich ihm zu zahlen habe . . . Wir haben einen guten Herrn.«
»Aber die Freiheit ist doch besser«, bemerkte ich.
Chorj sah mich von der Seite an.
»Gewiß«, versetzte er.
»Warum kaufst du dich dann nicht frei?«
Chorj schüttelte den Kopf.
»Womit soll ich mich freikaufen, Väterchen?«
»Tu doch nicht so, Alter . . .«
»Kommt Chorj unter die freien Leute«, fuhr er halblaut, wie vor sich hin, fort, »so ist jeder, der keinen Bart trägt, ein Herr über Chorj.«
»Nimm dir doch auch den Bart ab.«
»Was ist der Bart? Der Bart ist Gras, man kann ihn abmähen.«
»Also was denn?«
»Chorj wird wohl gleich unter die Kaufleute kommen; die Kaufleute haben ja ein gutes Leben, auch tragen sie Bärte.«
»Sag, du treibst doch auch Handel?« fragte ich ihn.
»Wir handeln wohl ein wenig mit Öl und auch mit Teer . . . Nun, Väterchen, soll ich dir das Wägelchen anspannen?«
Du verstehst deine Zunge im Zaume zu halten und bist wohl gar nicht so dumm, dachte ich mir.
»Nein«, sagte ich laut, »ich brauche kein Wägelchen; ich will morgen hier in der Nähe jagen und bleibe, wenn du erlaubst, in deinem Heuschuppen über Nacht.«
»Bitte sehr. Wirst du es aber im Schuppen bequem haben? Ich will den Weibern sagen, daß sie dir ein Laken und ein Kissen hinlegen. – He, Weiber!« rief er aufstehend. »Weiber, hierher . . .! Und du, Fedja, geh mit ihnen mit: Die Weiber sind doch ein dummes Volk.«
Eine Viertelstunde später geleitete mich Fedja mit einer Laterne zum Schuppen. Ich warf mich auf das duftende Heu; der Hund rollte sich zu meinen Füßen zusammen; Fedja wünschte mir gute Nacht, die Tür knarrte und fiel ins Schloß. Ich konnte recht lange nicht einschlafen. Eine Kuh trat vor die Tür und schnarchte zweimal laut; mein Hund knurrte sie mit Würde an; ein Schwein ging, nachdenklich grunzend, vorbei; irgendwo in der Nähe fing ein Pferd an, Heu zu kauen und zu schnauben . . . endlich schlummerte ich ein.
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На этой странице вы можете прочитать онлайн книгу «Aufzeichnungen eines Jägers», автора Ивана Тургенева. Данная книга относится к жанру «Русская классика».. Книга «Aufzeichnungen eines Jägers» была издана в 2019 году. Приятного чтения!
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