In einer nur oberflächlich aufgeräumten Wohnung einer der großen Straßen von Petersburg saßen zwei Herren, von denen der eine etwa fünfunddreißig, der andere fünfundvierzig Jahre alt sein mochte. Der erstere hieß Boris Pawlowitsch Raiski, der zweite Iwan Iwanowitsch Ajanow.
Boris Pawlowitsch hatte eine lebhafte, ungemein bewegliche Physiognomie. Auf den ersten Blick erschien er jünger, als er in Wirklichkeit war: die hohe weiße Stirn strahlte von Frische, und die Augen wechselten rasch ihren Ausdruck, blickten bald gedankentief, bald gefühlvoll, bald heiter, oder sie schauten träumerisch drein und erschienen dann jung, fast wie die eines Jünglings. Zuweilen jedoch lag etwas Reifes, Müdes, Gelangweiltes in ihnen, und dann verrieten sie das Alter ihres Besitzers. Drei leichte Falten, diese unverwischbaren Runenzeichen des Alters und der Erfahrung, hatten sich sogar bereits um die Augen gelegt. Das schwarze Haar fiel glatt in den Nacken und über die Ohren, an den Schläfen aber schimmerte es bereits ein klein wenig ins Weiße. Die Wangen hatten gleich der Stirn um Augen und Mund noch die jugendliche Tönung bewahrt, an den Schläfen jedoch und um das Kinn ging ihre Farbe ins Gelblichbraune.
Überhaupt ließ sich von dem ganzen Gesichte ohne Mühe jenes Lebensalter ablesen, in dem der Kampf zwischen Jugend und Reife bereits ausgetobt hat, in dem der Mensch in die zweite Lebenshälfte eingetreten ist und jedes Erlebnis, jede Gefühlserregung, jede Krankheit eine Spur zurückläßt. Nur der Mund hatte noch in dem feinen Spiel der edelgeformten Lippen und in seinem Lächeln den jugendlichen, frischen, bisweilen fast kindlichen Ausdruck bewahrt.
Raiski trug einen grauen Hausrock und saß, die Beine auf dem Diwan ausgestreckt, da.
Iwan Iwanowitsch dagegen war im schwarzen Frack. Die weißen Handschuhe und der Hut lagen neben ihm auf dem Tische. Sein Gesicht hatte den Ausdruck der Ruhe, oder vielmehr einer gleichgültigen Erwartung gegenüber allem, was um ihn geschehen konnte.
Ein intelligenter Blick, ein kluger Mund, gelblichbraune Gesichtsfarbe, sorgfältig frisiertes, bereits stark ergrautes Kopfhaar und ebensolcher Backenbart, gemessene Bewegungen, eine zurückhaltende Sprechweise und tadelloser Anzug – das ist das Bild seines äußeren Menschen.
Ruhiges Selbstvertrauen und Verständnis für andere sprach aus seinen Augen. Der Mann hat gelebt, er kennt das Leben und die Menschen, würde ein Beobachter von ihm gesagt haben, und wenn er ihn auch nicht unter die erlesenen, höheren Naturen eingereiht hätte, so würde er ihn doch noch weniger unter die naiven Gemüter gerechnet haben. Iwan Iwanowitsch war der typische Vertreter des geborenen Petersburgers und zugleich das, was man einen Mann von Welt nennt. Er gehörte zu Petersburg und zur Welt von Petersburg. Man konnte sich ihn nur schwer als das Produkt irgendeiner anderen Stadt, irgendeiner anderen Sphäre als dieser Petersburger Welt, unter der eine bestimmte höhere Schicht der Petersburger Gesellschaft zu verstehen ist, vorstellen. Er hatte sein Amt und seine Privatgeschäfte, doch traf man ihn zumeist in den Salons der Gesellschaft, wo er am Morgen seine Visite machte und später dann zum Mittagessen oder zum Abend erschien; in letzterem Falle war er dann zumeist am Kartentisch zu finden. Er war in jeder Hinsicht eine Durchschnittserscheinung: weder ein Charakter noch charakterlos, weder ein Mann von Wissen noch ein Ignorant, weder der Vertreter einer Überzeugung noch ein Skeptiker.
Sein Mangel an Wissen und Überzeugung verbarg sich hinter einer gewissen leichten, oberflächlichen Art von Verneinung: er sprach über alles geringschätzig, hatte für nichts eine aufrichtige Hochachtung, für nichts einen tieferen Glauben oder eine besondere Begeisterung. Er war ein wenig ironisch und ein wenig witzig, gleich höflich und gemessen im Verkehr mit allen, empfand für niemand eine dauernde, tiefere Freundschaft, war aber auch ebensowenig einer ernsteren Feindschaft fähig.
Er war in Petersburg geboren und groß geworden, hatte hier seine Ausbildung erhalten und sein ganzes Leben verbracht, ohne weiter hinauszukommen, als etwa bis Lachta oder Oranienbaum nach der einen und bis Toksowo oder Ssrednjaja-Rogatka nach der anderen Richtung. So spiegelte sich denn auch in ihm, wie die Sonne in einem Wassertropfen, einzig und allein die Petersburger Welt und Wirklichkeit mit ihren Sitten, ihrem gesellschaftlichen Ton, ihrem innersten Wesen, und im besonderen das Petersburger dienstliche Leben, das man als die zweite Natur dieser Stadt bezeichnen kann.
Von allem, was sonst in der Welt vorging, hatte Ajanow keine andere Vorstellung als jene, die ihm die in- und ausländischen Zeitungen vermittelten. Petersburgs Meinungen und Leidenschaften, Petersburgs Laster und Tugenden, die Jahresbilanz seines Denkens und Tuns, seiner Politik und seiner Literatur – das war der Bannkreis, in dem sein Leben sich abspielte, der seine geistigen Bedürfnisse vollauf befriedigte, und den er niemals durchbrach. Vollkommen gleichgültig hatte er vierzig Jahre lang zugeschaut, wie seine Petersburger Landsleute in jedem Frühling scharenweise in den vollgepfropften Dampfern nach dem Auslande reisten oder mit der Postkutsche und später mit der Eisenbahn nach dem Innern des Reiches fuhren, wie diese »naiv« empfindenden Menschenmassen der Newastadt entflohen, um eine andere Luft zu atmen, sich zu erfrischen und neue Eindrücke und Zerstreuung zu suchen. Er selbst hatte niemals ein Bedürfnis nach solcher Abwechslung empfunden, und er konnte es auch bei anderen durchaus nicht als berechtigt anerkennen; doch sah er ihrem Treiben ruhig und gelassen zu, ohne seine wahre Meinung auch nur mit einer Miene zu verraten. »Mögen sie tun, was sie wollen – ich fahre jedenfalls nicht!«
Er sprach einfach und ungezwungen, ging ungezwungen von einem Gegenstand auf den anderen über, war stets über alles unterrichtet, was draußen in der Welt, oder in der Gesellschaft, oder sonst in der Stadt vorging; er verfolgte, wenn irgendwo Krieg geführt wurde, alle Vorgänge auf dem Kriegsschauplatz, informierte sich in aller Gemütsruhe über jeden Wechsel im englischen oder französischen Ministerium, las die letzte Rede im Londoner Parlament und in der französischen Deputiertenkammer, wußte stets, welchen Inhalt das neueste Stück hatte, und wer in der Nacht im Wyborger Viertel ermordet worden war. Er kannte den Stammbaum, die Vermögensverhältnisse und die Chronique scandaleuse jedes einzelnen großen Hauses der Residenz; er wußte in jedem Augenblick, was in den verschiedenen Ressorts der Verwaltung vorging, war über alle Versetzungen, Gehaltserhöhungen und Gratifikationen informiert; er kannte auch alle Klatschgeschichten der Stadt, mit einem Wort: er war in seiner Welt nach jeder Richtung »zu Hause.«
Den Tag brachte er, wie gesagt, mit Besuchen, zum Teil wohl auch mit dienstlichen Verrichtungen und Privatangelegenheiten zu. Den Abend leitete er öfter mit einem Besuch des Theaters ein, den Abschluß aber bildete stets ein Spielchen im englischen Klub oder bei Bekannten, und bekannt war er eben mit aller Welt.
Im Kartenspiel war bei ihm jeder Fehler ausgeschlossen, und er hatte den Ruf eines angenehmen Spielers, weil er bei den Fehlern seiner Mitspieler sehr nachsichtig war, sich nie über sie ärgerte und bei der größten Dummheit nicht eine Miene verzog. Es war ihm gleichgültig, ob er hoch oder niedrig spielte, ob er renommierte Spieler oder kapriziöse Damen zu Partnern hatte.
Den üblichen Dienstgang hatte er glatt absolviert. Fünfzehn Jahre lang hatte er sich in den Kanzleien herumgedrückt und von Amts wegen die Projekte anderer zur Ausführung gebracht. Er wußte mit seinem Verständnis auf den Gedankengang seines Vorgesetzten einzugehen, teilte stets seine Auffassung von der Sache und war in der schriftlichen Ausarbeitung der in Frage kommenden Materie überaus gewandt. Wenn in der Person des Vorgesetzten – und damit oft auch in den zu bearbeitenden Projekten – ein Wechsel eintrat, arbeitete Ajanow mit dem neuen Vorgesetzten und an dem neuen Projekt ebenso verständnisvoll und gewandt wie früher, und seine Berichte fanden den Beifall aller Minister, unter denen er arbeitete.
Augenblicklich war er einem dieser Herren als Beamter für besondere Aufträge zugeteilt. Er erschien am Vormittag im Kabinett des Chefs, begab sich dann in den Salon seiner Gemahlin, nahm dort in der Tat einige »Aufträge« entgegen und arrangierte für den Abend eine Partie mit den Leuten, die man beim Chef gerade zu Gaste haben wollte. Er hatte einen ziemlich hohen Rang, ein ganz ansehnliches Gehalt und, bei Lichte besehen, so gut wie nichts zu tun. Wenn es gestattet ist, das Wesen einer fremden Seele zu enthüllen, so ist von Ajanows Seele nur zu sagen, daß sie keine Schatten, keine Heimlichkeiten und keine Zukunftsrätsel barg; auch Macbeths Hexen hätten es nicht fertig bekommen, ihn durch das Trugbild eines glänzenden Loses zu verlocken und von dem Wege abzulocken, auf dem er mit klarem Bewußtsein würdevoll dahinschritt. Vom Staatsrat wird er zum wirklichen Staatsrat und schließlich, in Anerkennung seiner langjährigen treuen Dienste und unermüdlichen Arbeit am Kanzlei- wie am Kartentisch, auch zum Geheimrat avancieren, um dann zuletzt in irgendeiner permanenten »Kommission«, unter Gewährung des vollen Gehalts, vor Anker zu gehen. Und ob der Ozean der Menschheit noch so bewegt auf und nieder flutet, ob die Zeiten dahinrauschen und Völker und Reiche vergehen – — an ihm geht alles spurlos vorüber, bis ein Schlaganfall oder sonst ein Altersleiden seinem Dasein ein Ziel setzt.
Ajanow war verheiratet gewesen, hatte jedoch früh seine Frau verloren und besaß eine zwölfjährige Tochter, die auf Staatskosten im Institut erzogen wurde; er selbst hatte seine Angelegenheiten wohl geordnet und führte nun das ruhige, sorglose Leben eines Hagestolzes.
Nur ein Umstand störte seine Ruhe: die Hämorrhoiden, die er sich durch seine sitzende Lebensweise zugezogen hatte. Ein unangenehmes Ereignis stand ihm in der Zukunft bevor: eine Badereise, die ihn aus seinem gleichförmigen Petersburger Leben herausreißen und irgendwohin entführen sollte. So wenigstens lautete die Ankündigung des Arztes.
»Ist’s nicht Zeit, daß du dich anziehst? Es ist ein Viertel nach vier!« sagte Ajanow zu Raiski.
»Ja, es ist Zeit,« versetzte Raiski, aus seinem Brüten erwachend.
»Worüber hast du eben nachgedacht?« fragte Ajanow.
»Du meinst: über wen?« verbesserte ihn Raiski. »Über wen sonst als über sie . . . über Sophie . . .«
»Schon wieder? Hm!« bemerkte Ajanow. Raiski begann sich anzukleiden.
»Du bist doch nicht böse, daß ich dich dahin mitschleppe?« fragte Raiski.
»Durchaus nicht. Ist’s nicht gleich, ob ich dort mein Spielchen mache oder bei Iwlews? Es ist mir zwar ein bißchen peinlich, den alten Damen das Geld abzunehmen: Anna Wassiljewna spielt gegen ihren eigenen Partner, und Nadjeschda Wassiljewna kündigt immer laut an, was sie ausspielen wird!«
»Mach’ dir keine Sorgen, euer Fünfkopekenspiel wird sie nicht zugrunde richten. Die beiden Alten haben jede ein Einkommen von sechzigtausend Rubeln.«
»Ich weiß es; und das soll Sophie Nikolajewna einmal alles erben?«
»Ja, sie ist ihre Nichte und einzige Erbin. Aber das kann noch lange dauern! Sie werden die Nichte noch überleben – und dazu sind sie so geizig!«
»Der Vater Sophies scheint nicht mehr viel zu besitzen? . . .«
»Nein, er hat alles durchgebracht.«
»Wie bringt er das eigentlich fertig? Am Kartentisch sieht man ihn doch fast gar nicht!«
»Und die Weiber – kosten die nichts? Dieses ewige Hin und Her, diese kleinen Soupers, dieser ganze Troß, den er immer mitschleppt? Im letzten Winter hat er der kleinen Armance ein Tafelservice für fünftausend Rubel geschenkt, und wie sie es zum erstenmal in Gebrauch nahm, hat sie ihm nicht einmal eine Einladung geschickt! . . .«
»Ja, ich hörte davon. Warum sollte sie ihn auch einladen? Was hat er bei ihr zu suchen? . . .«
Sie lachten beide.
»Auch von ihrem Manne hat Sophie Nikolajewna anscheinend nicht viel geerbt?«
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На этой странице вы можете прочитать онлайн книгу «Die Schlucht», автора Ивана Гончарова. Данная книга относится к жанру «Русская классика».. Книга «Die Schlucht» была издана в 2019 году. Приятного чтения!
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